Menü

© Markus Spiske/Unsplash

Wie man die Demokratie vitalisieren könnte Ausgelost

Spricht man über die Zukunft der Demokratie, so blickt man momentan allzu oft in besorgte Gesichter. In vielen Ländern stehen inzwischen Anti-Demokraten unterschiedlicher Ausprägung an der Regierungsspitze. In Polen etwa konnte die nationalkonservative Regierungspartei PiS bei der Parlamentswahl im Oktober 2019 ihre Macht sogar noch ausbauen. In Deutschland ist die AfD mittlerweile im Bundestag und in allen Landesparlamenten vertreten und gewann in Ostdeutschland zuletzt kräftig dazu.

Diese Entwicklungen werden häufig als Konsequenzen einer (empfundenen) sozialen Spaltung interpretiert. Wirtschaftliche Entwicklungen und wirtschaftspolitische Entscheidungen wie eine übertriebene staatliche Sparpolitik oder ein Anstieg der ökonomischen Ungleichheit in Verbindung mit individuellen Abstiegsängsten sind ein mögliches Ursachenbündel. Andere Erklärungsmuster fokussieren auf gesellschaftliche Veränderungen: Das verbreitete Gefühl, im politischen Diskurs nicht (ausreichend) repräsentiert zu werden und von Entscheidungen ausgeschlossen zu sein, kann spaltend wirken und politische Polarisierungsprozesse befördern. Ökonomische und soziale Erklärungsmuster sind eng miteinander verknüpft – ist doch empirisch belegbar, dass etwa der Grad politischer Beteiligung mit sozioökonomischen Merkmalen verbunden ist.

So war bei der Bundestagswahl 2017 die Wahlbeteiligung regional recht unterschiedlich. In relativ ärmeren Wahlkreisen mit einem Durchschnittseinkommen von unter 17.500 Euro im Jahr lag sie bei vergleichsweise geringen 72 %, in Wahlkreisen mit einem Durchschnittseinkommen von über 25.000 Euro dagegen bei fast 80 %.

Bedenkt man zudem, dass die soziale Spaltung größer geworden ist – die reichsten 10 % in Deutschland besaßen in den 80er Jahren einen Anteil von 32 % am Gesamteinkommen, in der aktuellen Dekade dagegen bereits 40 % – dann wird deutlich: Die Akzeptanz demokratischer Entscheidungen schwindet, Einkommensschwache partizipieren an der Politik immer weniger, ihre Sichtweisen, Lebenserfahrungen und Meinungen werden bei den Entscheidungen in immer geringerem Maße beachtet. Am Ende gerät gar die Legitimität der Demokratie insgesamt in Gefahr.

Aufgabe aller Demokratinnen und Demokraten muss es sein, solchen Trends zur Aushöhlung der Demokratie entgegenzuwirken. Wenn politisches Gestalten in einer durch Wahlen legitimierten repräsentativen Demokratie zunehmend weniger gesellschaftliche Akzeptanz findet, so sollte unserer Meinung nach darüber nachgedacht werden, die Grundlagen unserer Demokratie zu erweitern und neue Partizipationsformen zu schaffen.

Üblicherweise folgt dann oft der Ruf nach mehr direkter Demokratie in Form von Volksabstimmungen. An zufallsbasierte Elemente wird hingegen selten gedacht. Wir glauben, dass es einen nicht auf Wahlen basierenden Weg gibt, wieder allen Individuen Teilhabe am demokratischen Prozess zu ermöglichen und somit zu politischen Entscheidungen zu gelangen, die möglichst alle Bevölkerungsgruppen im Blick haben. Die Akzeptanz des demokratischen Staates und das Vertrauen in ihn könnte dadurch wieder gestärkt und der innergesellschaftliche Dialog gefördert werden. Der hier vorgeschlagene Weg ist die »aleatorische Demokratie«, in der Entscheidungsträger nicht per Wahl, sondern per Los ins Amt gelangen.

Zufällige Bürgerausschüsse

Parlamentsabgeordnete und Ratsmitglieder/Stadtverordnete sollen in Deutschland weiterhin per Wahl entsendet werden. Wir möchten die repräsentative Demokratie darüber hinaus aber durch das Losprinzip ergänzen. Konkret schlagen wir zufällige Bürgerausschüsse vor, in denen alle Bürger/innen die gleiche Wahrscheinlichkeit haben, als Teil eines Ausschusses ausgelost zu werden. Ein Ausschuss tagt zu einer spezifischen Fragestellung und nur für einen kurzen Zeitraum (z. B. vier Tage). Die Ausgelosten sind nicht an eine Partei oder Fraktion gebunden und müssen sich nicht auf Wiederwahlen vorbereiten. Dadurch sind die gelosten Ausschussmitglieder frei von Sorgen um ihre Popularität und wesentlich weniger anfällig für Beeinflussungen von außen. Zudem wissen sie um die zeitliche Begrenztheit ihrer Funktion, sie müssen anders als gewählte Kommunalpolitiker/innen, die oft über die schwierige Vereinbarkeit von ehrenamtlich ausgeübtem Mandat und Beruf klagen, ihr Leben nicht verändern. Eine weitere Hoffnung ist, dass durch dieses Verfahren Diskussionen sachfragenorientiert verlaufen und politisch verhärtete Fronten aufgebrochen werden könnten. Hinzu kommt, dass Milieus gewonnen werden, die sonst nicht von der Politik erreicht werden; beispielsweise weil sie glauben, sowieso nicht gehört zu werden.

In Deutschland finden sich bereits vereinzelt Verfahren, die auf das Zufallsprinzip setzen, beispielsweise in der Rechtsprechung bei Schöffengerichten oder in der Kommunalpolitik bei Planungszellen. Planungszellen werden für konkrete Entscheidungen auf kommunaler Ebene ins Leben gerufen. Es kommen bis zu 100 ausgeloste Bürger/innen zusammen, um über ein Thema zu diskutieren. Die Teilnahme kann als Bildungsurlaub angerechnet werden und es werden Aufwandsentschädigungen gezahlt, damit möglichst alle Ausgelosten auch teilnehmen können. Die gelosten Bürger/innen werden in verschiedene kleine Gruppen aufgeteilt, zudem liefern Expert/innen fachlichen Input, um die Qualität der Diskussion sicherzustellen. Bei der Auswahl der Expert/innen gilt das Kontroversitätsgebot; es wird also darauf geachtet, dass alle Positionen vertreten sind. Am Ende steht ein Bürgergutachten, welches alle Argumente bündelt und eine Empfehlung gibt. Es wird veröffentlicht und den kommunalen Gremien vorgelegt. Das Konzept der Planungszellen dient als Orientierung und Basis für die zufälligen Bürgerausschüsse, soll aber in unserem Vorschlag an manchen Punkten erweitert werden.

Auch die Bürgerausschüsse sollen zunächst auf kommunaler Ebene aktiv werden. Dies hat den Vorteil, dass die geringe räumliche Entfernung eine Annahme des zugelosten Bürgerausschussmandats erleichtern und attraktiver machen würde. Auch das Interesse, bei Fragen mitzuentscheiden, welche die unmittelbare Lebensrealität der Menschen betreffen, dürfte insgesamt größer sein, als bei abstrakteren Themen auf höheren Ebenen. Ziel ist es, dass das jeweilige Land Fördermittel für die Finanzierung der zufälligen Bürgerausschüsse zur Verfügung stellt, denn die Beteiligung der Bevölkerung darf nicht an der Haushaltssituation der Kommune scheitern. Darüber hinaus soll die Finanzierung auch das Vertrauen in die Bürgerausschüsse steigern, da das Land bei kommunalen Fragen unabhängiger erscheint als die betroffene Kommune. Die Gesamtkosten setzen sich aus den Kosten für Moderation und Planung, aus Aufwandsentschädigungen, Ausgleichszahlungen für Gehaltsausfälle und bedarfsweise kostenloser Kinderbetreuung zusammen. So wird jenseits der verfassungsrechtlich und demokratietheoretisch schwierigen Frage, ob die Ausgelosten zu einer Teilnahme an den Beratungen verpflichtet werden können und sollten, sichergestellt, dass die tatsächlich Partizipierenden einen Bevölkerungsquerschnitt darstellen, der repräsentativer ist, als die bisher aufgestellte Kandidat/innenriege und die aus deutlich einkommensabhängigen Wahlbeteiligungen resultierenden Wahlergebnisse.

Mit dem Abrufen des Geldes gehen die Kommunen zudem die Verpflichtung ein, Bürgergutachten in ihrer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Eine mögliche Abweichung des Gemeinderats von der Empfehlung wäre demnach auch ausdrücklich zu begründen.

Langfristig möchten wir zu einer politischen Praxis gelangen, in der ein Abweichen kommunaler Gremien von den Handlungsempfehlungen der Bürgerausschüsse zwar theoretisch und rechtlich möglich wäre, aber faktisch von den Entscheidungen der zufälligen Bürgerausschüsse eine solche legitimatorische Kraft ausginge, dass es ein anderes Gremium kaum wagen könnte, sich über deren Empfehlungen hinwegzusetzen. Die faktische Verbindlichkeit von Referenden und Volksbefragungen wären hier ein mögliches Vorbild. Das kommunale Gremium wäre so kaum noch mehr als ein Kontrolleur über die Gesetzestreue und rechtliche Machbarkeit der Empfehlung.

Ein Bürgerausschuss könnte grundsätzlich auf zwei Wegen ins Leben gerufen werden. Zum einen könnte ein Gemeinderat in besonders schwierigen Fragen einen Bürgerausschuss durch Mehrheitsbeschluss einberufen. Zum anderen soll die Bildung eines Bürgerausschusses aber auch »von unten« erzwungen werden können, wenn ein bestimmtes Quorum erreicht wird. Hierbei wäre jedoch darauf zu achten, dass das nötige Quorum deutlich niedriger läge als etwa bei der Zulassung von Volksentscheiden, um den Bürgerausschüssen und der basisdemokratischen Initiative keine praktisch unüberwindbaren Hürden in den Weg zu stellen. Sollten trotz erreichter Anzahl an notwendigen Stimmen die Mittel eines Landes bereits aufgebraucht sein, sodass ein Bürgerausschuss nicht finanziert werden kann, dann müsste die Streitfrage zwingend dem Volk zur Entscheidung vorgelegt werden. So könnte wirksam unterbunden werden, dass die Politik etwa durch eine Verzögerungstaktik oder vorgeschobene Gründe die Beratung eines unangenehmen Themas im Bürgerausschuss verhindert.

Aus guten Gründen wurde die Idee der zufälligen Bürgerausschüsse hier für die kommunale Ebene vorgeschlagen. Diese Forderung versteht sich aber als erster Schritt, der sich bei positiver Entwicklung und Akzeptanz in der Bevölkerung auch auf die Landes- oder Bundespolitik ausweiten ließe. Zum einen besteht ein besonderer Handlungsbedarf bei allen Gesetzen, von denen die beteiligten Akteur/innen direkt betroffen sind und offensichtlich Eigeninteressen im Spiel sein könnten. Zu nennen wären hier Entscheidungen über die Diäten gewählter Gremiumsmitglieder, Verhandlungen über Reformen am Parteienfinanzierungsgesetz oder Änderungen am Wahlsystem, die mutmaßlich bestimmte Parteien bevorzugen oder benachteiligen würden. Zufällige Bürgerausschüsse auch auf nationaler oder Landesebene böten somit einen Ausweg aus dem Dilemma, dass inhaltlich schlechte Entscheidungen in Abhängigkeit von Partikular- oder gar Eigeninteressen getroffen werden können beziehungsweise dass Entscheidungen gewählter Parlamentarier sofort für illegitim gehalten werden, weil der reflexartige Korruptionsverdacht einer echten inhaltlichen Überprüfung zuvorkommt.

Letztlich könnten Zufallselemente auch die innerparteiliche Demokratie bereichern. Manche Mitglieder, insbesondere der ehemals großen Volksparteien, sind zunehmend frustriert und bringen ihre Potenziale nicht mehr ins Parteileben ein. Die SPD hat das Problem der Mitgliederbeteiligung erkannt und sucht in ihrem Erneuerungsprozess nach Lösungen. Zufällig aus der Parteibasis geloste, den hier vorgestellten Mechanismen folgende Ausschüsse sollten dabei von der Parteiführung in Erwägung gezogen werden, da sie die innerparteiliche Identifikation ebenso stärken können wie die staatsbürgerlich-demokratische Identifikation im Gemeinwesen. Ebenfalls denkbar wäre, dass 40 % der Parteitagsdelegierten über das Losverfahren aus allen SPD-Parteimitgliedern ausgewählt werden.

Kommentare (1)

  • Jörg Sommer
    Jörg Sommer
    am 13.12.2019
    Das hier angesprochene Thema der Aleatorik ist nicht neu und es gibt insbesondere in jüngster Vergangenheit zahlreiche praktische Erfahrungen in diversen Europäischen Ländern, insbesondere aber auch in Deutschland. Auf Bundesebene sehr beachtet wurde der kürzlich u.a. von Mehr Demokratie e.V. durchgeführte "Bürgerrat Demokratie", der unter der Schirmherrschaft des Bundestagspräsidenten stand. Auch hat die Friedrich-Ebert-Stiftung ebenfalls vor kurzem eine Studie zu "Beteiligungsräten" vorgelegt.

    All diese Entwicklungen und Erfahrungen werden in diesem Beitrag nicht rezipiert, der sich durch eine bemerkenswerte Unkenntnis der Potentiale (und Nichtpotentiale) der Aleatorik auszeichnet. Dies führt zu zwei folgenschweren Fehlschlüssen:

    Erstens sind Zufallsgremien durchaus geeignet, um Zukunftsfragen zu diskutieren, Ko-Kreationsprozesse zu ermöglichen und, insbesondere auf kommunaler Ebene, Beteiligungsleitlinien zu entwicklen und Beteiligung zu verstetigen. NICHT geeignet sind sie aber, um Konflikte beizulegen. Dies scheitert regelmäßig strukturelle daran, dass eine partizipativen Konfliktbearbeitung auch der Beteiligung der Konfliktparteien in der Regel bedarf. Zufallspanels diskutieren hier ohne Zweifel harmonischer, ihre Ergebnisse werden jedoch von den Konfliktparteien - Nachvollziehbar - nicht akzeptiert. Wenn sich zwei ihrer Kinder zu Hause streiten, können Sie den Konflikt auch nicht mit einem Zufallspanel aus deren Schulklassen beilegen.

    Zweitens führen aleatorsiche Elemente nicht per se und wir im Text suggeriert gerade automatisch zu mehr Akzeptanz der repräsentativen Strukturen. Das Gegenteil ist der Fall.

    Die These, das der „zufällige Bürger von der Strasse“ mit seinem „gesunden Menschenverstand“ gesellschaftliche Probleme besser lösen könne, als „Berufspolitiker“ - weil die wahlweise zu faul, zu dumm, zu ideologisch oder zu korrupt seien - ist in rechten Kreisen sehr populär. Dies bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass die Demokraten ausgelosten Beteiligungsformaten grundsätzlich ablehnen gegenüber stehen müssten (siehe die eingangs erwähnen positiven Kontexte). Ganz so einfach, wie hier im Text dargestellt ist das Thema jedoch nicht. Die aktuellen Diskurse in der Praxis und der Wissenschaft sind hier erheblich weiter, als es der Artikel darlegt.

    Jörg Sommer
    Direktor des Berlin Institut für Partizipation
    Koordinator Allianz Vielfältige Demokratie

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben