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Auslaufmodell Kuba: zwischen Resilienz und Reformdruck

Inmitten der COVID-19-Pandemie, die Lateinamerika besonders hart trifft, stellt Kuba erneut eine Ausnahme dar. Durch die lange »Sonderperiode in Friedenszeiten«, ein extremer Sparkurs, der bereits unter Fidel Castro begann und praktisch bis heute anhält, sind die Inselbewohner krisenerprobter und resilienter als ihre Nachbarn. Auch verfügt Kuba im regionalen Vergleich noch immer über ein solides Gesundheitssystem, das von einem zwar autoritären, aber effizienten Regime mobilisiert wird, wenn es darum geht, die Bürger vor Epidemien – durch eine Ausgangssperre und die Quarantäne der Kranken in staatlichen Zentren – zu schützen. Laut offiziellen Zahlen erkrankten bis Mitte August 2020 lediglich 3.292 Kubaner an COVID-19 und 88 Personen verstarben. Zudem entsandte der Inselstaat 3.700 kubanische Ärzte in 40 Länder (unter anderem nach Italien), um bei der Virusbekämpfung zu helfen. Selbst der amerikanische Congressional Research Service bestätigt, die kubanische Gesundheitspolitik habe sich während der Pandemie »als effektiv« erwiesen. Ist Kubas Staatskapitalismus also ein Beispiel für andere Länder der Region oder doch eher ein Auslaufmodell?

Der wirtschaftliche Preis für die Ausgangssperre ist hoch, denn das Land steht seit März praktisch still und seine Außengrenzen blieben bis August geschlossen. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des monatelangen Lockdowns und der langsamen Wiederaufnahme des öffentlichen Lebens sind schon jetzt verheerend. So wird die Krise Kuba als tourismus- und exportabhängiges Land um Jahre oder gar Jahrzehnte in seiner Entwicklung zurückwerfen. Hinzu kommt der Staatsverfall in Venezuela, Kubas engstem lateinamerikanischen Partner, mit dem der Inselstaat seit 20 Jahren zum eigenen Vorteil Experten und Berater gegen Erdöl tauscht. Die extreme Außenabhängigkeit könnte dem Land zum Verhängnis werden.

Lange Schlangen vor Supermärkten und Märkten erinnern an die 90er Jahre, als es in Kuba kaum etwas zu kaufen gab, auch Stromausfälle gibt es wieder häufiger und es fehlt nicht nur an Masken und Desinfektionsmitteln, sondern auch an Seife und fließend Wasser. Der Premier und vorherige Tourismusminister Manuel Marrero Cruz verglich die Lage mit der Sonderperiode in Friedenszeiten, auch wenn er die Situation als weniger dramatisch bezeichnete. Die neue Misere, die vor allem sozial schwächere Gruppen trifft, dürfte den Reformprozess, der schon unter Präsident Raúl Castro (2006–2018) begann und von seinem Nachfolger Miguel Díaz-Canel fortgesetzt wird, beschleunigen, damit allerdings auch das Ende eines Regimes, das sich vor allem von Subventionen aus dem Ausland, zunächst der Sowjetunion und seit 2000 aus Venezuela, an der Macht hält.

Nach Angaben des kubanisch-amerikanischen Ökonomen Carmelo Mesa-Lago sanken die venezolanischen Erdöllieferungen von über 100.000 Tonnen täglich auf inzwischen weniger als 40.000. Die Energieversorgung ist allerdings nicht das einzige Problem des Landes: Lebensmittel, die zu über 70 % importiert werden, sind knapp; die Arbeitslosigkeit steigt; das BIP wird 2020 um mindestens 8 % zurückgehen; und im Juli 2020 stellte Kuba seinen Schuldendienst mit dem Pariser Club ein, ohne Aussicht auf neue Kredite, die unter anderem durch das US-Embargo verhindert werden. Die Isolations- und Sanktionspolitik von Präsident Donald Trump einschließlich des Boykotts der venezolanischen Öllieferungen nach Kuba verschärfen die ohnehin kritische Wirtschaftslage.

Hoffnungsschimmer Machtwechsel in den USA

Für Kuba wären die USA eine Alternative zur Allianz mit Venezuela, falls Joseph Biden die Präsidentschaftswahlen im November 2020 gewinnen sollte. Als ehemaliger Vizepräsident unter Barack Obama wäre unter seiner Präsidentschaft die Fortsetzung der bilateralen Öffnungspolitik nach der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen und dem historischen Kuba-Besuch Obamas 2015 zu erwarten. Während der Wahlkampagne kündigte der Demokrat an, die bilateralen Beziehungen zu reaktivieren und die Entspannungspolitik Obamas fortzusetzen. Insofern hoffen die Machthaber in Havanna auf einen Machtwechsel im Weißen Haus und damit auf ein Ende der vierjährigen Eiszeit in den bilateralen Beziehungen unter Trump.

Nach einer Ansprache vor der kubanischen Lobby in Miami im Juni 2017 erließ Trump ein nationales Sicherheitsmemorandum, das die von Obama teilweise gelockerten Sanktionen einschließlich Reise-, Finanz- und Transportrestriktionen wiederaufnahm und neue Maßnahmen gegen 229 kubanische Unternehmen, Hotels und staatliche Institutionen verhängte. Allerdings brach der Präsident die diplomatischen Beziehungen zu Kuba nicht ab und übernahm die unter Obama abgeschaffte »dry feet, wet feet«-Einwanderungspolitik. Mysteriöse Angriffe durch Schallwellen gegen kanadische und US-amerikanische Diplomaten in Havanna sorgten seit 2018 für eine Verschlechterung der ohnehin auf einem Nullpunkt angekommenen Beziehungen, zudem beendete Donald Trump die Aussetzung von Titel III des kontroversen Helms-Burton-Gesetzes, der es amerikanischen Unternehmen und Privatpersonen nun erlaubt, ihren ehemaligen, von der kubanischen Revolution enteigneten Besitz vor amerikanischen Gerichten zurückzufordern.

Ob sich die amerikanische Kubapolitik ändern wird, ist vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen im November 2020 abhängig. Selbst wenn Joseph Biden und die Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, Kamala Harris, gewinnen sollten, wären konkrete Maßnahmen für eine neue Kuba-Politik frühestens in einem Jahr zu erwarten. Bis dahin wird das Land nach Alternativen suchen müssen. Falls Donald Trump entgegen aller Prognosen die Wahlen dennoch erneut für sich entscheiden sollte, wird er aller Wahrscheinlichkeit nach die Sanktions- und Isolationspolitik fortsetzen.

Allein auf weiter Flur

Weder von China noch von Russland ist Hilfe zu erwarten: Der Handelsaustausch zwischen Kuba und China ging 2019 um 23 % zurück und Russland hat seine historischen Beziehungen zur Karibikinsel durch die Allianz mit Venezuela ersetzt. Die EU hat 2016 ein Abkommen mit Kuba unterzeichnet und finanziert mehrere Projekte auf der Insel, unter anderem im Gesundheitssystem, ein Anstieg der Entwicklungszusammenarbeit ist jedoch angesichts der Wirtschaftskrise in Europa nicht zu erwarten.

Auch die lateinamerikanischen Nachbarn werden Kuba wohl kaum unterstützen. Die regionale Einbindung der Karibikinsel folgt vor allem ideologischen Kriterien und war während des Zeitraums 2003–2013, als zahlreiche Linksregierungen unter anderem in Argentinien, Brasilien, Bolivien und Ecuador an der Macht waren, äußerst erfolgreich: Kuba ist nicht nur Teil der lateinamerikanischen und karibischen Staatengemeinschaft CELAC, sondern nimmt auch an den amerikanischen Gipfeltreffen teil und unterhält diplomatische Beziehungen zu allen Staaten der Region.

Allerdings hat sich Kubas Verhältnis zu vielen Nachbarstaaten durch deren politischen Wechsel zu konservativen und rechtsgerichteten Regierungen im Wahlzyklus 2018–2020 verschlechtert. Die Gleichsetzung der von Donald Trump gleichermaßen als »kommunistisch« bezeichneten Regime in Kuba und Venezuela verstärkte die relative regionale Isolation der Karibikinsel, da selbst Argentinien sich vom Regime distanzierte. Die Linksregierungen in Mexiko, Nicaragua und vor allem Venezuela unter Nicolás Maduro zählen zu den wenigen Verbündeten Kubas in der Region.

So ist Kuba zunächst auf sich selbst gestellt. Ob ein Ausweg aus der dreifachen Krise (Staatszerfall Venezuelas, US-Sanktionen und COVID-19) gelingt, hängt davon ab, ob das Regime den wirtschaftlichen und politischen Öffnungsprozess beschleunigt, der den Ökonomen José Antonio Alonso und Pavel Vidal zufolge, »auf halbem Wege steckengeblieben ist«, da es an einem Plan und einer konkreten Zielsetzung fehle. »Quo vadis Kuba?« war bereits 2013 der Titel einer spanischen Publikation zu den halbherzigen Reformen in dem Inselstaat, die 2011 unter dem Namen »Lineamientos« verabschiedet wurden. Bis 2017 konnten weniger als ein Viertel der über 200 Maßnahmen umgesetzt werden, da die Geschwindigkeit der Reformen nach wie vor an ihren politischen Kosten für den Regimeerhalt gemessen wird. Dies erklärt unter anderem, dass eine Währungsreform zur Fusionierung der parallelen Peso- und CUC-Wirtschaft seit den 90er Jahren diskutiert, aber nicht in Angriff genommen wird.

In der Zwischenzeit vertieft sich die Kluft zwischen politischer Elite und Gesellschaft. So übt das zivil-militärische Regime seit den 90er Jahren keine absolute Kontrolle mehr über Wirtschaft und Gesellschaft aus, verhindert aber immer noch erfolgreich sowohl die Entstehung einer Gegenöffentlichkeit außerhalb der Kommunistischen Partei und der katholischen Kirche, als auch eines großkapitalistischen Systems. Zwar erlaubt die 2019 per Referendum verabschiedete kubanische Verfassung erstmals neue Formen des privaten Besitzes in bestimmten Wirtschaftsbranchen, der kubanische Staatskapitalismus verbietet ausländischen Unternehmen jedoch nach wie vor die freie Einstellung und Entlohnung von Arbeitnehmern, reguliert Angebot und Nachfrage und verhindert durch unterschiedliche Maßnahmen die Entstehung einer funktionierenden Marktwirtschaft. Dennoch hat sich in Kuba der Kapitalismus an den staatlichen Stellen vorbei auf teilweise illegalem Wege etabliert, da das Regime schon lange nicht mehr in der Lage ist, die Grundversorgung der Bürger zu garantieren.

Hinzu kommen die Strukturprobleme einer überalterten Gesellschaft, in der etwa 20 % der Bevölkerung über 60 Jahre alt sind: sinkende Produktivität und Innovationskapazität sowie steigender Finanzbedarf für Renten und andere Sozialleistungen. Die derzeitige politische Führung spiegelt diese Altersstruktur trotz einer Erneuerung zugunsten von Frauen und der nachrevolutionären Generation wider: Im Durchschnitt sind die kubanischen Machthaber im Rentenalter. Ein wirklicher Generationenwechsel wäre dringend geboten, da vor allem die Distanz zwischen dem alternden Regime und einer kubanischen Jugend, die sich immer stärker an den USA orientiert, stetig wächst.

Die COVID-Pandemie trifft Kuba vor allem indirekt durch die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Lockdowns und der zeitweiligen »Deglobalisierung«. Andererseits aber sprechen das staatliche Gesundheitssystem, das Kuba teilweise exportiert und die Präventionspolitik des krisenerprobten Landes für die Resilienz des »kubanischen Modells«. In diesem Sinne bildet die Karibikinsel einen positiven Kontrast zu Staaten wie Brasilien mit seinem desolaten Gesundheitssystem und einer ineffizienten, irrationalen Politik, die bis Ende August 112.000 Todesopfer und 3,5 Millionen Corona-Infizierte zur Folge hatte.

Ob Kuba die Krise besser meistern wird als seine karibischen und lateinamerikanischen Nachbarstaaten hängt von der Reformbereitschaft des Regimes ab, dessen oberstes Ziel der Machterhalt ist, der im Post-Castrismus nicht mehr am Charisma oder am Revolutionsmythos, sondern an einer effizienten Wirtschafts- und Sozialpolitik gemessen wird. 2020 und 2021 werden die Kubaner eine Neuauflage der Sonderperiode in Friedenszeiten erleben und viel Zeit und Erfindungsreichtum aufbringen müssen, um ihre Grundbedürfnisse zu decken. Dies geschieht im Unterschied zu den 90er Jahren inmitten einer weltweiten Rezession, die auch die USA betreffen. Insofern sind, selbst wenn sich die amerikanische Kubapolitik nach einem Wahlsieg der Demokraten ändern würde, kaum finanzielle Mittel zu erwarten.

Diesmal wird das Regime weitgehend ohne Hilfe von außen für sein wirtschaftliches und politisches Überleben sorgen müssen. Die einzige Lösung ist die Öffnung des Binnenmarktes und damit auch eine Ausdifferenzierung der kubanischen Gesellschaft mit entsprechenden politischen Forderungen. Ob ein solcher Prozess mit dem »sozialistischen« Regime vereinbar sein wird, bleibt fraglich und entsprechend langsam wird das »kubanische Modell« aktualisiert.

Der bereits 89-jährige Raúl Castro dürfte bis 2021 die Kommunistische Partei anführen. Bis dahin garantiert er die Kontinuität des Regimes der Revolution, die schon lange keine mehr ist. Das definitive Ende des Castrismo würde den Reformprozess zweifellos beschleunigen, denn Präsident Díaz-Canel und sein Premierminister Marrero gehören der nachrevolutionären Generation an und ihre politische Legitimation hängt davon ab, ob es ihnen gelingt, das Auslaufmodell zu reformieren, ohne auf seine regionalen Vorteile, wie ein universelles staatliches Gesundheits- und Bildungssystem, zu verzichten. Insofern steht Kuba unfreiwillig erneut im Zentrum der langjährigen Debatte über die Rolle des Staates und der sozialen Kohäsion in Lateinamerika. So zeigt die Pandemie einerseits die Vorteile des kubanischen Modells – eine präventive Gesundheitspolitik mit weniger Infizierten und Toten –, die gravierenden wirtschaftlichen Folgen von COVID-19 stellen es aber gleichzeitig infrage.

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