Menü

Warum die Weimarer Republik trotz zahlreicher Krisen 1923 noch standhielt Außer Kontrolle – aber nicht am Ende

Peter Longerich, der emeritierte Experte insbesondere für den Nationalsozialismus, hat kürzlich unter dem treffenden Titel Außer Kontrolle eine Darstellung und Analyse des Krisenjahres 1923 in Deutschland veröffentlicht, gestützt auf die Kenntnis der einschlägigen Literatur wie auf Zeitungsquellen und Archivstudien. Hierbei liegt ihm daran, statt mit einem grenzenlos ausgeweiteten und diffusen Krisenbegriff mit einem durch Eingrenzung und Präzisierung analytisch brauchbaren Begriff von Krise als substanzielles, existenzbedrohendes Phänomen und somit Entscheidungssituation zu operieren, wo die zugrunde liegenden strukturellen Konflikte im Ablauf nur eine Ausgangsphase bilden.

Ohnehin war die Republik von Weimar schwer belastet: nicht nur durch die deutsche Kriegsniederlage und einen drückenden, inhaltlich übergreifend abgelehnten Friedensvertrag, sondern auch durch die verbreitete skeptische bis klar feindselige Haltung. Dies gilt für Großgrundbesitzer, größere und kleinere Industrie, Hochfinanz, Offizierskorps der Kaderarmee der Reichswehr, die überwiegend weiter amtierende alte Beamtenschaft (die sich einem Staatsabstraktum Deutsches Reich, nicht aber der parlamentarischen Demokratie verpflichtet fühlten), Richterschaft sowie die Professoren- und Gymnasiallehrerschaft. Beträchtliche Teile der Intelligenz, des Kleinbürgertums und der Agrarbevölkerung, parteipolitisch repräsentiert von der Deutschnationalen Volkspartei, setzten die Republik mit der Niederlage von 1918 – vermeintlich durch die Revolution (faktisch war es umgekehrt) – sowie mit dem Versailler Diktatfrieden in eins. Letzteren hatten die Sozialdemokraten und Zentrumskatholiken am Ende nur angenommen, um einer Wiederaufnahme des Krieges mit seinen unübersehbaren Folgen zu entgehen.

Aufgrund des revolutionären Sturzes der Monarchie und des alten Militärsystems im November 1918 hatte der reformerische Flügel der Arbeiterbewegung eine starke Stellung innerhalb der neuen Ordnung, auch jenseits eventueller Regierungsbeteiligung (welche seit 1920 nicht die Regel war). Diese Position und ihren handgreiflichsten Pfeiler, den Achtstundentag, zu beseitigen, war ein wesentliches Ziel von Vertretern der Großwirtschaft im Jahr 1923.

Ein weiterer stark belastender Faktor war die, durch bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen seit Januar 1919 unversöhnlich vertiefte politische Spaltung der Arbeiterbewegung, die mit der Entstehung einer kommunistischen Massenpartei im Herbst 1920 durch Übertritt der USPD-Linken feste Formen angenommen hatte. In dem von wiederholten sozialen Protest- und Streikwellen, namentlich auch Erwerbslosentumulten, in ganz Deutschland einschließlich des besetzten Westens gekennzeichneten Krisenjahr 1923 begann sich die systematische »Einheitsfrontpolitik« der KPD gegenüber der inzwischen mit der gemäßigten USPD wiedervereinigten SPD und den Gewerkschaften auszuzahlen.

Mit ihren politischen Mobilisierungen, so für einen Generalstreik gegen die besitzbürgerlich-konservativ gefärbte Regierung Wilhelm Cuno und für einen reichsweiten »Antifaschistentag« Ende Juli, konnte die KPD ihren Einfluss deutlich ausdehnen. Mitte Oktober des Jahres gelangte sie in Sachsen und Thüringen sogar in die Landesregierungen in einer Koalition mit der dort vom linken Flügel der Partei dominierten SPD. Die in Mitteldeutschland gebildeten »Proletarischen Hundertschaften« erwiesen sich aber als kaum einsatzfähig, als die beiden »Arbeiterregierungen« nach kurzer Zeit (ohne hinreichende verfassungsrechtliche Begründung) durch Notverordnung des sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert in einer militärischen Reichsexekution abgesetzt wurden – was unter anderem den Austritt der SPD-Minister aus der Reichsregierung zur Folge hatte.

Erhaltung der Verfassungsordnung

Allerdings ist offensichtlich, dass es Ebert, ganz anders als dessen Nachfolger Paul von Hindenburg Anfang der 30er Jahre, um die Erhaltung der Verfassungsordnung ging. Der beim Hauptquartier der Kommunistischen Internationale in Moskau in Verkennung der deutschen Situation entstandene Plan eines »deutschen Oktobers«, eines kommunistischen Aufstands in Deutschland als Teil der angestrebten Weltrevolution, kam nicht zur Ausführung, abgesehen von einem schnell zusammenbrechenden Hamburger Umsturzversuch, der aus ungeklärten Gründen nicht rechtzeitig gestoppt wurde.

Ebert und die von ihm ernannten Regierungen operierten notgedrungen in Verbindung mit militärischen Führern, namentlich dem Chef der Heeresleitung, Generaloberst Hans von Seeckt, und bürgerlichen Politikern, speziell in Bayern, die zur bestehenden Ordnung eine bestenfalls ambivalente Stellung einnahmen. Die Reichswehr kooperierte, kaum verhüllt, mit den diversen Wehrverbänden der Rechten, die die Truppe gegebenenfalls verstärken sollten.

Es gehört zu den großen Vorzügen des Buches von Longerich, dass er das Handeln und die Intrigen der zentralen Personen, teilweise von Tag zu Tag, mit dem im Hintergrund stattfindenden Ringen der sozialen und politischen Akteure (Parteien, Verbände, Zirkel, Bewegungen) einleuchtend verbindet.

Alles in allem wird klar, dass das Jahr 1923 durch ein offensives Vorgehen der gesamten Rechten gekennzeichnet war, deren Ziel die radikale oder die scheinlegale Überwindung der Weimarer Republik war. Anders als 1930 bis 1933, als ein sukzessiver Annäherungsprozess stattfand, mündend in der Koalitionsregierung Hitler/Papen, gelang die Einigung der Gesamtrechten 1923 aus verschiedenen Gründen letztlich nicht.

Der wichtigste dieser Gründe bestand darin, dass sich die an Überlegungen beziehungsweise weit gediehenen Planungen beteiligten Personen und Organisationen weder über ein konkretes Vorgehen noch über ihre konkrete Zielsetzung, sondern hauptsächlich in ihrer Ablehnung des Bestehenden einig waren. Es gab aber personelle und konzeptionelle Überschneidungen, und Longerich kann plausibel machen, dass nur durch das eigenbrötlerische Vorgehen Adolf Hitlers und seiner Nationalsozialisten am 8./9. November die Übergabe diktatorischer Macht an General Seeckt verhindert wurde.

Die NSDAP Adolf Hitlers hatte in den vorausgegangenen Monaten zwar in München und in einigen weiteren Teilen Bayerns beträchtliche Stärke erlangt, auch Unterstützung aus der »besseren Gesellschaft« erhalten, war aber, was die Massenbasis in Deutschland insgesamt betrifft, nicht annähernd in der Position wie Anfang der 30er Jahre (nach einer, allerdings zum organisatorischen Aufbau genutzten, Durststrecke in den Jahren 1924 bis 1928, in der die NS-Partei bei den Reichstagswahlen ganze 2,6 Prozent erzielte).

Besetzung des Ruhrgebiets und nationale Abwehrhaltung

Ausgangspunkt der dramatischen Entwicklungen des Jahres 1923 war im Januar die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets, um vermeintlich ausbleibende Reparationslieferungen zu sanktionieren (Große Teile des Rheinlandes waren aufgrund des Friedensvertrags ohnehin von den Entente-Mächten besetzt). Longerich kann deutlich machen, dass die Minderheitsregierung Cuno, der neben dem parteilosen früheren Hapag-Generaldirektor nur Politiker der bürgerlichen Mittelparteien angehörten, die Hinweise auf einen solchen bevorstehenden Schritt ignorierte.

Dieser wurde in Deutschland dann allgemein als französischer Gewaltakt empfunden, und, wie man ergänzen sollte, stand jetzt die internationale Arbeiterbewegung beider Richtungen, anders als 1914, eher auf der Seite der deutschen Kollegen und Genossen. Diese, namentlich die Gewerkschaften, waren es, die den bald proklamierten, aber ohne Konzept begonnenen »passiven Widerstand« hauptsächlich trugen. Produziert wurde bei Weiterzahlung der Löhne und Gehälter durch Kredite des Reiches auf Halde.

Entgegen den Intentionen der sozialdemokratisch-freigewerkschaftlichen Hauptrichtung der Arbeiterbewegung und der liberalen Öffentlichkeit ließen die Reichswehr und die Reichsregierung insgeheim eine Grauzone hin zum aktiven, durch Sabotage gewaltsamen Widerstand entstehen, der Reaktionen provozierte, deren spektakulärste die Hinrichtung des Freischärlers Leo Schlageter durch die Besetzer war.

Neben der überparteilich verbreiteten nationalen Abwehrhaltung traten mehr und mehr chauvinistische Aspekte hervor. Unzweifelhaft ist das zunehmend brutale Vorgehen der Invasionstruppen, als deren Höhepunkt der 31. März gelten kann, als in den Essener Krupp-Werken 13 Arbeiter erschossen wurden. Insgesamt kostete der »Ruhrkampf« auf deutscher Seite 141 Menschenleben. 180.000 Personen wurden im Verlauf der Zeit ausgewiesen.

Die Hoffnung der Deutschen, insbesondere der Reichsregierung, lag auf der Internationalisierung des Konflikts durch das Eingreifen Großbritanniens. Dessen Regierung distanzierte sich im August vom französischen Vorgehen, da war Deutschland aber schon am Boden, und es war klar, dass der passive Widerstand nicht unbegrenzt fortgesetzt werden konnte. Immerhin wuchsen erkennbar auch Frankreichs Schwierigkeiten und die Einsicht begann sich durchzusetzen, dass eine einvernehmliche und verlässliche Regelung der Reparationszahlungen nur gefunden werden könnte, wenn es gelänge, diese mit der Rückzahlung der Kriegsschulden Großbritanniens und Frankreichs bei den USA zu verbinden.

Das geschah dann im Jahr 1924 (Dawes-Plan) und war die vielleicht wichtigste Voraussetzung der relativen wirtschaftlichen, dann auch politischen Stabilisierung der Weimarer Republik in den mittleren Jahren ihrer Existenz. Die zweite Voraussetzung bestand in der innerdeutschen Währungsreform vom 15. November 1923, die gewissermaßen die Quersumme aus den Überlegungen des zeitweiligen sozialdemokratischen Finanzministers Rudolf Hilferding, eines marxistischen Reformsozialisten, sowie denen des rechtsgerichteten Wirtschaftswissenschaftlers und Politikers Karl Helfferich war und erstaunlich gut funktionierte.

Da hatte die Regierung der Großen Koalition mit dem Rechtsliberalen Gustav Stresemann an der Spitze (seit August 1923) schon ihre Schuldigkeit getan, welche den Abbruch des passiven Widerstands an der Ruhr ins Auge gefasst hatte und schließlich verfügte – auf Veranlassung nicht zuletzt der Ruhr-Industriellen, die auch dessen Beginn initiiert hatten.

Von deutscher Seite war angenommen worden, dass die französische Ruhrbesetzung eine weitergehende Schwächung Deutschlands und die Abspaltung westdeutscher Gebietsteile – über Versailles hinaus – zum Ziel haben würde. Im Herbst 1923 kam es dann, teilweise unterstützt von den französischen Besatzungstruppen, auch zu separatistischen Vorstößen im Rheinland und in der Pfalz, während regionale Großunternehmer und bürgerliche Politiker – als Notlösung – über Formen einer Autonomie westdeutscher Territorien nachdachten. Es wurde dann erkennbar, dass auch Frankreich, das international immer weiter isoliert worden war, würde zurückstecken müssen.

Trauma Hyperinflation

Für das deutsche Volk blieb das Jahr 1923 in traumatischer Erinnerung vor allem als Periode einer völlig außer Kontrolle geratenen Inflation, die große Teile der Bevölkerung bis ins mittlere Bürgertum hinein verarmen ließ und den Alltag immer chaotischer und schwerer kalkulierbar machte. Longerich vermittelt ein anschauliches Bild der sozialen und alltagskulturellen Folgen der Hyperinflation. Am Ende wurde eine Billion Reichsmark in eine neue »Rentenmark« umgerechnet.

Über Jahre hatten Großindustrielle wie der Hauptinflationsgewinner Hugo Stinnes, der nicht ohne Grund zum Sinnbild des skrupellosen Kapitalisten wurde – er verfügte außerdem über eine einflussreiche Zeitung, die Deutsche Allgemeine Zeitung, und saß als Abgeordneter der Deutschen Volkspartei Stresemanns im Reichstag –, und der Staat (hauptsächlich durch die Entwertung der von Privatleuten 1914–1918 gezeichneten Kriegsanleihen) von der Geldentwertung profitiert.

Spätestens mit der fortdauernden Finanzierung des besetzten Ruhrgebiets lief die Geldentwertung aus dem Ruder, und es konnte nur noch darum gehen, wann und unter welchen Bedingungen eine Währungsumstellung erfolgen würde. Der Hyperinflation folgte eine empfindliche Stabilisierungskrise, die vor allem die abhängig Beschäftigten traf.

Die Kumulation der Krisenerscheinungen ermunterte die rechten Gegner der parlamentarischen Demokratie (und insbesondere des Einflusses von Sozialdemokratie und Gewerkschaften in ihr) dazu, eine Überwindung der bestehenden politischen Ordnung ins Auge zu fassen. Insbesondere ging es um die weitgehende Ausschaltung des Reichstags und die Stärkung der Exekutive, wobei vielfach an ein Drei-Männer-Direktorium gedacht wurde.

Auch wenn der Begriff »Diktatur« noch unbestimmter war als später unter dem Eindruck der Totalitarismen, unterstreicht Longerich in seinem Buch nachdrücklich, dass die Bestrebungen auch derer, die den formalen Rahmen der Reichsverfassung nicht sprengen wollten wie Seeckt, Stinnes und der bayerische Staatskommissar Gustav Ritter von Kahr, faktisch auf einen kalten Staatsstreich hinausliefen. Bayern hatte schon im Schatten des (auf Reichsebene gescheiterten) Kapp-Lüttwitz-Putsches vom März 1920 eine politische Sonderentwicklung genommen und war zum bevorzugten Hort und Aufmarschplatz rechter beziehungsweise rechtsextremer Organisationen, insbesondere solcher paramilitärischer Art, geworden.

Mit Haftbefehl gesuchte Verschwörer und Fememörder fanden an der Isar sicheren Unterschlupf, wobei sich die weiß-blaue, also partikularistische und bayerisch-royalistische, die rechtskonservative schwarz-weiß-rote und die hakenkreuzlerische Strömung in einer konfliktreichen Gemengelage befanden. Die Reichsverfassung und Reichsgesetze ignorierend wehrte Bayern offenkundig mit abwegigen rechtlichen Argumenten eine Einflussnahme der Berliner Regierung ab, ohne eine Reichsexekution fürchten zu müssen.

Die in Bayern Regierenden gerieten im Herbst zunehmend in Gegensatz zur NSDAP und ihren engeren Verbündeten, während im Reich die Exekutivgewalt auf General Seeckt überging, in dieser Eigenschaft ernannt per Notverordnung von Reichspräsident Ebert. Zur Überraschung vieler Beobachter lief Seeckts loyal ausgefüllte Amtszeit im Februar 1924 aus; er gab seine Befugnisse ab und die Weimarer Verfassung erhielt für sechs Jahre wieder ihre reguläre Wirksamkeit, bevor sie angesichts der tiefgreifenden Wirtschaftskrise, die sich zu einer existenziellen sozialen und Staatskrise auswuchs, von denselben Kräften demontiert und schließlich beseitigt wurde, die 1923 nicht zum Ziel gekommen waren. Die zugrunde liegenden strukturellen Probleme waren damals nicht gelöst, sondern vertagt worden.

Peter Longerich: Außer Kontrolle. Deutschland 1923. Molden, Wien/Graz 2022, 320 S., 33 €.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben