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Den einen fehlt die Bereitschaft zum Urteil, weil sie Sorge haben, falsch zu liegen, und sich darum, wenn überhaupt, erst im Nachhinein äußern; den anderen mangelt es an der Fähigkeit, komplexe Entwicklungen einzuschätzen, weswegen sie zu vorschnellen und einseitigen Urteilen neigen. Erstere sind in der Regel der »schweigenden Mehrheit« zuzurechnen. Letztere sind das Rekrutierungspotenzial des Populismus in all seinen Spielarten.
Als solide kann man Demokratien nur dann bezeichnen, wenn keine der beiden Gruppen die Mehrheit stellt; wirklich stabil sind Demokratien erst, wenn beide Gruppen zusammengenommen in der Minderheit sind. Das erklärt, warum demokratische Ordnungen, mit deren Fortbestand die Bürger auf lange Zeit hin rechnen können, eher selten sind. Wenn von den Bedrohungen der Demokratie die Rede ist, wird zumeist auf äußere wie innere Feinde der demokratischen Ordnung verwiesen.
»Die Existenz von Feinden ist kein Alleinstellungsmerkmal der Demokratie.«
Das ist sicherlich nicht falsch, erfasst aber nur unzureichend die hoch anspruchsvollen Bestandsvoraussetzungen der Demokratie: Innere und äußere Feinde haben alle politischen Ordnungen, die Existenz von Feinden ist kein Alleinstellungsmerkmal der Demokratie. Die nämlich ist obendrein gefährdet, weil sie anspruchsvoller und dementsprechend vulnerabler ist als die anderen politischen Systeme, insofern sie das Erfordernis politischer Urteilskraft nicht nur bei den Eliten (welchen auch immer), sondern bei der Bürgerschaft in deren ganzer Breite festmacht.
Seit jeher gehört es zum Repertoire der demokratiekritischen, wenn nicht demokratiefeindlichen Argumente, es sei völlig unwahrscheinlich, dass die Bürgerschaft über die erforderliche politische Urteilskraft verfüge, außer vielleicht dann, wenn das Bürgerrecht auf einige wenige Wohlhabende und Gebildete beschränkt sei, weswegen es sich dann eher um eine Aristokratie als um eine Demokratie handele. Das einfache Volk, so das abschätzige Urteil, entscheide nach den Stimmungen des Augenblicks oder folge den Vorgaben seiner Anführer, der Demagogen, die nicht am Gemeinwohl, sondern am Partei- oder Klasseninteresse ausgerichtet seien.
»Tyrannei der Mehrheit?«
Mitte des 19. Jahrhunderts warnte Alexis de Tocqueville vor einer »Tyrannei der Mehrheit« und studierte bei seiner Amerikareise die Mechanismen, die von den Gründervätern der USA zur Verhinderung einer solchen »Tyrannei der Mehrheit« in die Verfassung eingebaut worden waren. Es war freilich vor allem die Sorge um die Vorherrschaft der vermögenden Klassen, die hinter der Behauptung stand, die breite Masse sei zu einem sicheren politischen Urteil nicht in der Lage und müsse deswegen von den Schalthebeln der Politik ferngehalten werden. Aber selbstverständlich ist deswegen die politische Urteilskraft der breiten Bürgerschaft auch nicht.
Die politische Linke ist zeitweilig von der Vorstellung ausgegangen, mit dem Aufweis der konservativen sozialstrukturellen Interessen hinter dem Beharren auf dem Erfordernis politischer Urteilskraft sei das Problem erledigt. Das war und ist jedoch zu kurz gesprungen – und insgeheim wusste man das auch, sonst hätte man sich nicht um Arbeiterbildungsvereine und auf politische Schulung ausgelegte Vorfeldorganisationen gekümmert, in denen politisches Wissen und Urteilsfähigkeit geschaffen werden sollte.
Für die radikale Linke war die Sache freilich relativ einfach, insofern die geforderte Urteilskraft für sie mit dem Klassenbewusstsein identisch war. Sie stellte dem bourgeoisen Klassenbewusstsein kurzerhand ein proletarisches Klassenbewusstsein gegenüber, das als Grundlage der politischen Urteilskraft dargestellt wurde.
Das führte jedoch recht schnell in eine innerparteiliche Hierarchie und hatte zur Folge, dass Debatten innerhalb der Partei unterbunden und die Beteiligung an ihnen, jedenfalls bei bolschewistischen Organisationen, zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit wurde. Politische Urteilskraft wurde bei der Parteispitze monopolisiert, die allein über »die richtige Linie« entschied. Für den Rest reduzierte sie sich auf uneingeschränkte Folgebereitschaft. Eine innerparteiliche Demokratie konnte unter diesen Umständen genauso wenig entstehen wie eine gesamtgesellschaftliche Demokratie.
Politischer »Eigensinn« von unten
In der Sozialdemokratie hat diese Form des innerparteilichen Zentralismus‹ nicht Platz greifen können, weil man mit den ersten größeren Wahlerfolgen in die Kommunalparlamente einzog und sich dort behaupten musste, was zwangsläufig zu einer differenzierten Sicht der Aufgaben und Herausforderungen führte. Das Klassenbewusstsein half hier nicht weiter, und die Spitze der Partei konnte für die Fülle der Probleme keine detaillierten Vorgaben machen. Infolgedessen bildete sich von unten, von den Graswurzeln her, ein politischer Eigensinn aus, der schon bald zu den Vorgaben von oben in Widerspruch trat und sich nicht marginalisieren ließ.
Schließlich entschieden die Eigensinnigen in den Kommunalparlamenten nach eigenem Gutdünken – und wenn sie dabei erfolgreich waren, stiegen sie in der Partei auf und wurden Landtags- oder gar Reichstagsabgeordnete. Wo es eine vitale Kommunalverfassung gab, war der Weg zur innerparteilichen Diktatur versperrt. Die Strömung des Reformismus in der deutschen Sozialdemokratie stützte sich auf eine politische Urteilskraft, die in Konkurrenz zu den dogmatischen Vorgaben der Parteispitze stand.
»Kommunale Selbstverwaltung spielt eine wesentliche Rolle bei der Ausbildung politischer Urteilskraft.«
In der modernen Demokratie, wie sie seit dem späten 18. Jahrhundert ausgehend von den USA entstanden ist, übernimmt politische Betätigung in der kommunalen Selbstverwaltung eine wesentliche Rolle bei der Ausbildung politischer Urteilskraft in der breiten Bürgerschaft. Dem kommt zupass, dass im kommunalen Rahmen Deliberation und Dezision, Beratschlagung und Entscheidung, nahe beieinander liegen: die Probleme, um die es geht, sind überschaubar, und der Entschluss zu einem Vorhaben und dessen Ausführung sind zeitlich nicht weit voneinander entfernt.
Die Beteiligten können die Auswirkungen ihrer Entscheidungen, deren unmittelbare und deren langfristige Kosten, und schließlich die Reaktion der von dem Vorhaben Begünstigten wie Benachteiligten gut beobachten und daraus im weiteren Sinne »lernen«. Und die Wähler wiederum können die politischen Akteure nicht nur anhand ihrer Versprechungen, sondern auch mit Blick auf deren Umsetzung und die tatsächlichen Auswirkungen beurteilen.
Die Parteien wiederum, in denen die Engagierten organisiert sind, werden zu Sammelstellen des politischen Wissens, das aus erfolgreichem Handeln erwächst und zugleich die Voraussetzung zukünftigen Erfolgs bildet. Auf diese Weise entsteht und reproduziert sich politische Urteilskraft von unten und diffundiert in die breitere Bürgerschaft anstatt von kleinen Gruppen marginalisiert zu werden.
Prozess der sozialen Entdifferenzierung
So jedenfalls die Beschreibung in den Lehrbüchern der Politik, einschließlich des Hinweises, dass es zunächst bürgerliche Honoratioren waren, die in der städtischen Politik die ausschlaggebende Rolle spielten, die dann aber Schritt für Schritt von Personen aus unterbürgerlichen Schichten abgelöst wurden, und des Weiteren, dass es zunächst Männer waren, die hier Verantwortung trugen, bis dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr und mehr auch Frauen in dieses Politikfeld Einzug hielten. Kurzum: die politische Betätigung unterlag einem beschleunigten Prozess der sozialen Entdifferenzierung, und infolgedessen war politische Urteilskraft immer weniger ein Privileg kleiner gesellschaftlicher Gruppen.
Auch wenn das alles sehr lehrbuchmäßig klingt, ist es doch wichtig, sich diese Grundvoraussetzung des Funktionierens einer Demokratie noch einmal im Ideal vor Augen zu führen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wo und inwiefern in den letzten Jahrzehnten Probleme vor allem in dieser Hinsicht entstanden sind, die inzwischen demokratiegefährdende Ausmaße erlangt haben.
Das beginnt bei einer sich ausbreitenden konsumistischen Einstellung gegenüber der Politik, die in Formeln vom »Liefern« oder »Nichtliefern« ihren Ausdruck findet, und reicht bis in die veränderte Arbeits- und Lebenswelt der Menschen hinein: von der doppelten Erwerbstätigkeit der Ehepartner, in deren Folge die verfügbare Zeit und die Bereitschaft zu öffentlichem Engagement geschrumpft ist, über das Erfordernis regionaler Mobilität als Voraussetzung beruflichen Fortkommens bis zu dem Umstand, dass politisches Engagement immer seltener mit Reputationsgewinn, dafür jedoch mit Anfeindungen verbunden ist.
Eine kontinuierlich sinkende Wahlbeteiligung auf allen Ebenen der Politik, schrumpfende Mitgliederzahlen der Parteien und schließlich der Umstand, dass sich bei Kommunalwahlen kaum noch genügend Kandidaten für die zu besetzenden Positionen finden, verdeutlichen die Gefahr eines Austrocknens der Demokratie von unten her. Auch der wachsende Populismus, neben anderem ein Indikator für das Dominantwerden von Augenblicksstimmungen gegenüber längerfristigem Bedenken von Problemen und Lösungen und obendrein Äußerungsform frustrierter Politikkonsumenten, steht für diese demokratiegefährdenden Veränderungen.
Parallel dazu ist eine Auslagerung der Sachkompetenz im Prozess politischen Beratschlagens in Expertengremien sowie eine »Veroberflächlichung« der politischen Debatten zu beobachten. Die »Argumente«, mit denen die Parteien für sich werben, richten sich nicht an die politische Urteilskraft der Bürger, sondern triggern deren Stimmungen und Reizbarkeiten.
»Partizipation ist ein Instrument zur Generierung von politischer Urteilskraft.«
Wie lässt sich diese Entwicklung umkehren oder zumindest aufhalten? In der Regel geht es in den Vorschlägen zur Anpassung der Demokratien an veränderte Rahmenbedingungen und Herausforderungen um mehr direkte Bürgerbeteiligung in Form von Plebisziten oder einer Komplementierung von Wahlen durch Losverfahren. Freilich ist damit wenig gewonnen, wenn den an Volksabstimmungen Teilnehmenden die Urteilskraft und den qua Los Bestellten das Interesse an der ihnen zugedachten Aufgabe fehlt. Sicherlich ist Partizipation ein Wert an sich, vor allem aber ist sie ein Instrument zur Generierung von politischer Urteilskraft.
Für sich genommen waren und sind Plebiszite auch ein Instrument, mit denen autoritäre und diktatorische Regime sich Legitimität verschaffen. Demokratiefestigend wirken sie erst, wenn sie so angelegt sind, dass sie Urteilskraft erforderlich machen und dabei zugleich fördern. Selbst der egalisierende Effekt des Zufalls in Gestalt von Los oder Würfel stärkt die Demokratie nur dann, wenn er eine konsumistisch-passive Einstellung in Frage stellt, den Willen zur politischen Teilhabe stärkt und darüber die Beurteilungskompetenz der Bürgerschaft fördert. Das alles ist keine Frage einer fortschreitenden Demokratisierung der Demokratie, sondern eine der Sicherung ihrer elementaren Voraussetzungen. Wer über Reformen der Demokratie nachdenkt, sollte das Erfordernis bürger-schaftlicher Urteilskraft ins Zentrum stellen.
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