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Bildung als Schlüssel zur Überwindung »selbstverschuldeter Unmündigkeit« Autonomie und Souveränität im digitalen Zeitalter

Die Digitalisierung ist immer noch ein recht junges Phänomen (Internet gibt es seit gut 50 Jahren, seit rund 30 Jahren wird es massenhaft global genutzt). Noch ist nicht klar, wie gravierend sich die Digitalisierung auf die (globale) Gesellschaft auswirken wird, aktuell halten sich utopische/dystopische und verharmlosende Erzählungen die Waage.

Klar ist zunächst, dass die digitale Welt nach völlig anderen Gesetzen funktioniert als die analoge. Raum und Zeit sind irrelevant, der »Cyberspace« ist kein Raum, sondern basiert auf logischen Operationen, Software und Internetprotokollen und ist virtuell. Auch Zeit relativiert sich. Informationen werden im Cyberspace mit Lichtgeschwindigkeit transportiert, alles passiert »sofort«. Dabei stellt sich eine absolute »Gegenwärtigkeit« ein und führt zu einem ahistorischen Bewusstsein. Alles, was in der digitalen Welt passiert, geschieht im Hier und Jetzt (Updates löschen alte Zustände aus, Prozesse zur Organisation digitaler Erinnerungen sind noch nicht etabliert, und es ist offen, ob es diese Erinnerung an frühere digitale Zustände überhaupt geben kann). In der digitalen Welt ist als Ergebnis eines menschlich-maschinellen Designs grundsätzlich alles möglich.

Inzwischen ist mehr als die Hälfte der Menschheit online, über 50 Milliarden Sensoren sind heute schon mit dem Internet verbunden und liefern permanent Daten aus der uns umgebenden Welt und aus allen Lebensbereichen. Dieser Datenraum mit seinen Algorithmen zur Analyse, Darstellung, Visualisierung und Interaktion bildet die digitale Welt, die ein (mehr oder weniger) getreues Abbild der realen Welt schafft (einen »digitalen Zwilling«), aber vollkommen frei ist von deren physikalischen Beschränkungen, denen diese unterliegt. Die Menschen haben smarte Geräte, und auch die uns umgebenden Dinge können über eine digitale Interaktionsschnittstelle (»digitale Hülle«) aus der digitalen Welt heraus gesteuert werden, unmittelbar und über jede Entfernung.

Damit können Aktionen in der digitalen Welt den Gang der realen Welt beeinflussen, selbst über Kontinente hinweg. Die mit der Digitalisierung verbundene Aufhebung der Begrenzung von Knappheit (Transzendierung von Raum und Zeit) hat direkte Auswirkungen auf unsere Lebenswirklichkeit: Über fast alles sind Massendaten verfügbar (so werden in jeder Minute etwa 500 Stunden Videomaterial auf YouTube hochgeladen, mehr als 300.000 neue Schadsoftware-Files täglich, fast zwei Milliarden Webseiten weltweit gibt es, Amazon bietet über 500 Millionen Produkte an, über soziale Netzwerke finden jede Minute hunderte Millionen von Interaktionen statt und so weiter).

Andererseits sind die Menschen nicht in der Lage, sich in dieser Datenflut zurechtzufinden ohne leistungsfähige Data-Analytics-Verfahren und lernende Algorithmen der Künstlichen Intelligenz (KI). Diese lernenden Algorithmen werden mit kommentierten Daten trainiert und erreichen in bestimmten Bereichen eine erstaunlich hohe Präzision. Die Algorithmen (etwa die Google-Suche, Bild- und Spracherkennung, Bild- und Textgenerierung, ChatGPT) sind jedoch nicht unfehlbar und reproduzieren gesellschaftlich vorherrschende Verzerrungen (sogenannte »Biases«).

Die Einschränkungen der Coronapandemie haben zu einer breiten Nutzung digitaler Tools wie Zoom, Teams, Google, HPI Schul-Cloud in der Bevölkerung geführt. Im täglichen Leben wurde der Beweis erbracht, dass man digitale Tools weitgehend sicher und effizient nutzen kann, das Vertrauen in diese Werkzeuge und Techniken ist stark gewachsen. Auch zur Verbreitung von Wissen, etwa über Wikipedia, openWHO, openHPI, HPI Schul-Cloud eignen sich digitale Tools hervorragend. Aber diese beschränken auch die Ausdruckskraft sozialer Interaktionen, weil nur bestimmte Informationen weitergegeben werden können. Oft fehlt der vollständige Kontextbezug und erklärendes Kontextwissen, wichtige Kontextinformationen wie die Körpersprache werden eben (noch?) nicht transferiert.

»Demokratisierung« des (globalen) »Wissens« führt dazu, dass unterschiedliche Welt- und Menschenbilder aus verschiedenen Regionen aufeinandertreffen und gleichwertig nebeneinanderstehen. Das fordert alles, was unter dem Begriff der Wahrheit verstanden wird, heraus. Gleichzeitig gesellt sich, getrieben durch KI-basierte Vorschlagsalgorithmen im anonymen digitalen Raum, Gleiches zu Gleichem. Filterblasen entstehen, die Spaltung innerhalb der Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften wird forciert. Anstatt gefördert wird der gesellschaftliche Konsens ironischerweise erschwert.

Instrumentelles statt dogmatisches Verständnis

Pathologische Auswirkungen von Digitalisierung entstehen vor allem dann, wenn ein dogmatisches Verständnis von Digitalisierung vorherrscht. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno argumentieren in ihrer Dialektik der Aufklärung, dass historisch dogmatische Rationalität zu menschenverachtenden Zuständen geführt habe, getrieben von utopischen und dystopischen Entwürfen der Welt und des Menschen (Nationalsozialismus, Sozialismus, Raubtierkapitalismus). Sie schlagen vor, Rationalität instrumentell als Mittel zu nutzen und nicht dogmatisch als Ziel zu definieren.

Nicht was rational ist, ist gut. Gut ist eine lebenswerte Welt (die an sich nicht rational sein muss), die man versucht, mit rationalen Mitteln zu verwirklichen (instrumentelle Vernunft/Rationalität; Rationalität ist ein Werkzeug, nicht der Zweck!). Wir müssen deshalb bei der Besiedlung der neuen digitalen Welt von Digitalisierung instrumentell Gebrauch machen und nicht dogmatisch.

Keine KI und kein digitales System kann uns sagen, was gut und richtig ist, aber sie können uns helfen, das, was gut und richtig ist zu verfolgen. Instrumentelle Nutzung von KI hat zur Folge, dass KI-Systemen nicht blind vertraut wird. Sondern immer steht der Mensch in der Verantwortung und muss entscheiden, ob KI-Vorschläge/Algorithmen sinnvoll sind. Die Bewertung der KI darf dabei nicht darauf basieren, ob sie perfekt scheint, sondern ob sie in ähnlichen Kontexten bessere Entscheidungen bringt als menschliche Akteure.

Wenn etwa im Vergleich automatisches Fahren zu weniger Unfällen führt, dann sollte das genutzt werden. KI-Biases sind unvermeidbar, weil KI-Systeme anhand der durch Menschen mit ihren Vorstellungen und Vorurteilen geprägten und bereitgestellten Daten trainiert werden. Wenn KI-Systeme dann Ergebnisse produzieren, die der gesellschaftlichen Realität widersprechen, sind sie unbrauchbar.

Interaktionen mittels digitaler Werkzeuge (Office-, VC-Programme und so weiter) können keine realen Erfahrungen ersetzen. Aber digitalisierte Informationen zu Sachverhalten können sehr leicht geteilt werden und zu neuen Erkenntnissen führen. Die instrumentelle Nutzung von digitalen Arbeitsmitteln kann deshalb die reale Erfahrung bereichern, aber nicht ersetzen. Es liegt in der Verantwortung von öffentlicher Verwaltung, Unternehmen und Privatpersonen, sinnvolle Nutzungsszenarien zu entwickeln.

Bei der instrumentellen Nutzung von sozialen Medien und digitalen Plattformen sind wir auf die maschinelle Bereitstellung und Verarbeitung der Massendaten in den sozialen Medien angewiesen. Die damit verbundene KI-gestützte Einengung des Erfahrungshorizonts (Filterblasen für jegliches politisches Lager) ist dabei höchst problematisch. Es liegt in der Verantwortung der Gesellschaft, die Menschen so zu bilden, dass ein medienkritisches Bewusstsein gestärkt wird, etwa durch aufgeklärte Nutzung digitaler Systeme im Unterricht oder bei Weiterbildungen. Und es liegt in der Verantwortung jedes einzelnen (aufgeklärten) Bürgers, die geistige Einseitigkeit und die sich verabsolutierende Weltsicht, die durch selbstbestärkende Informationen generiert wird, zu überwinden.

Digitale Aufklärung und Bildung

Um Menschen und Institutionen zu befähigen, auch in der digitalen Welt selbstbestimmt und eigenverantwortlich, also mündig zu agieren, braucht es umfassende digitale Aufklärung und Bildung. Digitalisierung verändert unsere Welt in einer Weise, die uns einen anderen Umgang mit dem bisher Bekannten nahelegt, meist sogar erzwingt. In allen Lebensbereichen bieten die neuen Technologien Chancen, neue Möglichkeiten für die Gestaltung unseres Arbeitslebens, des gesellschaftlichen Miteinanders und privaten Glücks. Es gilt, alte und eingefahrene Denk- und Handlungsmuster kritisch zu hinterfragen und die vielen Chancen, die sich bei der Gestaltung der neuen digitalen Welt bieten, zu nutzen, die Welt lebenswerter zu machen und das Wohlergehen all ihrer Bewohner zu sichern.

Dazu gilt es, die neuen technischen Möglichkeiten auszuloten. Aktuell sind wir dabei noch in einer frühen Lernphase, wie und nach welchen Regeln Digitalisierung sinnvoll eingesetzt werden kann, um das Wohl jedes Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt zu steigern. Dazu braucht es eine digitale Aufklärung im Kant’schen Sinne: »Sapere aude« – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« um aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit« herauszutreten.

Der Schlüssel dafür ist (digitale) Bildung. Es braucht ein breites Grundverständnis, wie digitale Technologien funktionieren und sinnvoll eingesetzt werden können. Beobachtungen zeigen, dass viele Bürger und Entscheidungsträger aktuell in der digitalen Welt noch in »selbstverschuldeter Unmündigkeit« unterwegs sind.

Tatsächlich ist vieles Grundsätzliches noch ungeklärt: Erstens: Welche Rolle wird der Staat in einer digitalisierten Welt in Zukunft spielen? Wie sieht das Verhältnis aus zwischen Staat und den großen Digitalkonzernen, deren Wirken und Einfluss weit über die Grenzen der Nationalstaaten hinausgehen?

Zweitens: Wieviel Individuum wird es in der digitalen Welt noch geben? Wie verändert sich das Verständnis des Individuums? Im digitalen Raum haben Personen viele verschiedene digitale Identitäten. Über die sie prägenden Identitätsdaten verfügen Dritte, sodass Privatheit neu und sicher viel offener zu definieren sein wird.

Drittens: Wieviel persönliche Verantwortung (ethisch aber auch im Sinne von Haftung) kann ein Mensch in der durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz geprägten Welt noch übernehmen, wenn Entscheidungen und Handlungen auf einer Unzahl von KI-gestützten »Experten«-Systemen basieren?

Die einzige Hoffnung, in dieser immer komplexer werdenden digitalen Welt Autonomie und Souveränität zu bewahren, liegt darin, besser zu verstehen, wie digitale Technologien funktionieren (so wie wir grundsätzlich verstehen, wie ein Auto funktioniert, ohne seine Details zu kennen). Mit einem soliden Grundverständnis, das schon von Kindesbeinen an auch mittels digitaler Medien und Plattformen gelehrt und eingeübt wird, lassen sich dann auch wichtige Fragen von Freiheit und Verantwortung in der digitalen Welt beantworten.

In einer freien Gesellschaft sicher nicht durch öffentlich aufoktroyierte Regulierungen (erinnert sei hier an den EU-Regulierungswahn, der KI regulieren will, noch bevor wir sie überhaupt verstehen), sondern in einem sich aus der digitalen Aufklärung speisenden, mündigen souveränen Selbstbewusstsein, das die Möglichkeiten und Grenzen digitaler Technologie kennt und für seine Zwecke nutzt.

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