Menü

© Mark Bollhorst

Bedürfnis nach sozialdemokratischer Politik ist groß

Am 19. März 2017 wurde Martin Schulz, der zuvor fünf Jahre EU-Parlamentspräsident war, auf einem außerordentlichen Parteitag in Berlin zum neuen SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten seiner Partei gewählt – mit unglaublichen 100 % der gültigen Stimmen. Doch bereits seitdem Ende Januar klar wurde, dass er die SPD in den Bundestagswahlkampf führen wird, legte die SPD in den Umfragen deutlich zu und gewann Tausende neue Mitglieder hinzu. Im Gespräch mit der NG|FH erläutert er die programmatischen Unterschiede zur Union, die Kernkompetenzen der SPD und seine Vorstellungen von einem sozialen Europa. Die Fragen stellte Thomas Meyer.

 

NG|FH: Die SPD scheint wie aus dem Dornröschenschlaf wachgeküsst, ist hoch motiviert und mobilisiert und hat in den Umfragen 10 % gegenüber den Werten vom Jahresanfang zugelegt. Martin Schulz, was haben Sie da gemacht? Woran liegt das?

 

Martin Schulz: Das hat in der Geschwindigkeit wirklich niemand so erwartet. Dennoch war mir klar, dass das Potenzial der SPD viel größer ist, als sich das bei der Sonntagsfrage lange gezeigt hat. Die Menschen haben ein großes Bedürfnis nach sozialdemokratischen Botschaften und nach sozialdemokratischer Politik. Dass wir so schnell mobilisieren konnten, ist nicht mein Verdienst. Das ist die Leistung der gesamten SPD. Darauf können wir sehr stolz sein.

 

NG|FH: Gibt es momentan eigentlich eine Art »Merkeldämmerung«, eine Wechselstimmung, ein Die-gute-Zeit-liegt-hinter-ihr-Gefühl?

 

Schulz: Frau Merkel hat sicherlich ihre Verdienste und die will ich ihr auch gar nicht absprechen. Aber die Frage ist doch, ob sie und vor allem zwei tief zerstrittene Unionsparteien in der Lage sind, die richtigen Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft zu finden. Nach meinem Eindruck ist das nicht der Fall.

 

NG|FH: Wie lautet Ihre Antwort auf die These, dass die Weltlage Angela Merkel weiter erfordere, als Gegenspielerin Donald Trumps, als Zentrum Europas, gar als Fackelträgerin der »westlichen Werte«, aber auch angesichts der Konflikte mit Recep Tayyip Erdoğan?

 

Schulz: Das ist interessant. Was wir sehen, ist doch, dass Europa in zahlreichen Fragen gespalten ist wie nie. Der Brexit spricht ebenfalls eine klare Sprache. Und das alles nach zwölf Jahren Kanzlerschaft von Angela Merkel.

 

NG|FH: Ein Blick zurück: Wie ist die Große Koalition zu beurteilen? Einerseits gab es Erfolge, andererseits soll sie nicht weitergehen – ist das nicht ein Widerspruch?

 

NG|FH: Die Große Koalition hat viele Erfolge zu verbuchen, die auf die SPD zurückzuführen sind. Als Juniorpartner konnte die SPD viel durchsetzen – zum Beispiel den Mindestlohn, die Rente ohne Abschläge nach 45 Versicherungsjahren und Verbesserungen für Alleinerziehende. Wir wollen bei der Bundestagswahl im September stärkste Partei werden, damit wir noch viel mehr von unserem Programm durchsetzen können.

 

NG|FH: Die Kanzlerkandidatenschaft ist diesmal mit der Übernahme des Parteivorsitzes verbunden. Was bedeutet für Sie dieses Amt, das August Bebel, Willy Brandt, zuletzt Sigmar Gabriel – immerhin für sieben Jahre – innehatte?

 

Schulz: Vorsitzender der SPD zu sein, ist eine ganz außerordentliche Ehre. Ich stehe auf einmal in einer Reihe mit Persönlichkeiten, die ich wirklich bewundere. Das bewegt mich sehr.

 

NG|FH: Wie sollte man mit dem Rechtspopulismus umgehen? Wo verläuft der richtige Pfad zwischen dem Verständnis für Ängste vor »Flüchtlingswellen« und einer klaren humanistischen Kante?

 

Schulz: Der Kampf gegen den Rechtspopulismus gehört zur DNA der SPD. Die Rechtspopulisten haben eben keine Antwort auf die Probleme der Menschen. Die AfD will unsere liberale und offene Gesellschaft abschaffen. Sie raunen viel von Volk und Vaterland – als würde das auch nur einen einzigen Arbeitsplatz schaffen. Sie schwadronieren ausgiebig von Nation und Identität – als könnte man damit auch nur einzige Schule sanieren. Daher sagen wir ganz klar, die AfD ist keine Alternative für Deutschland, sondern eine Schande für die Bundesrepublik.

 

NG|FH: Wo liegen die Unterschiede (gar die Gegensätze) zwischen SPD und Union? Was davon soll im Wahlkampf zum Thema werden? Wird das ein Wahlkampf der großen Alternative, der Zuspitzung?

 

Schulz: Der SPD geht es darum, dass die politische Auseinandersetzung wieder zwischen den demokratischen Parteien um konkrete Vorschläge und Projekte geführt wird. Die Unterschiede zur Union werden wir klar deutlich machen, sei es in der Familienpolitik, bei der Gleichberechtigung von Mann und Frau oder in der Steuerpolitik. Wahlkämpfe können eine Sternstunde der Demokratie sein. Deshalb sage ich ganz klar: Mit mir wird es keine Herabwürdigung des politischen Wettbewerbers geben. Der demokratische Mitbewerber darf nie zum Feind gemacht werde. Denn das vergiftet die Gesellschaft und untergräbt auf die Dauer die Demokratie.

 

NG|FH: Die SPD will möglichst stark werden und keinen Lagerwahlkampf führen. Am Ende könnte es um die Möglichkeiten Große Koalition unter Führung von Martin Schulz, die Ampel mit der FDP oder Rot-Rot-Grün (R2G) gehen. Was sagen Sie denjenigen, die einen wirklichen Politikwechsel nur mit R2G für möglich halten?

 

Schulz: Wir wollen stärkste Partei werden. Und wer nach der Wahl mit uns regieren möchte, ist herzlich eingeladen, auf uns zuzukommen – mit Ausnahme der AfD.

 

NG|FH: Der Slogan in der SPD lautet »Mehr Zeit für Gerechtigkeit« – die Partei hat sich aufgemacht, ihre Kernkompetenz wieder herauszustellen. An welchen Themen wird dies konkret werden? Beim Umgang mit der Agenda 2010, beim Steuerkonzept, bei der Bürgerversicherung, bei der Rente, bei der Bildung, beim Thema Familie?

 

Schulz: Gerechtigkeit lässt sich nicht auf einzelne Maßnahmen beschränken. Bei unserem Programm wird es um Gerechtigkeit, um Respekt und um Würde gehen. Wer in diesem Land hart arbeitet – sei es als Selbstständiger oder als Arbeitnehmer –, wer sich engagiert, wer für seine Eltern oder für seine Kinder da ist, wer sich an die Regeln hält, der hat unseren Respekt verdient. Ich habe diesen Respekt vor der Lebensleistung der Menschen in unserem Land. Es ist die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die dafür sorgen muss, dass jeder einzelne Mensch, jeder Mann, jedes Kind, jede Frau im Mittelpunkt unseres Denkens und im Mittelpunkt unseres Handelns stehen. Denn wenn wir nicht dafür sorgen, dass es in diesem Land gerechter zugeht, dann wird das niemand anderes machen.

 

NG|FH: Ängste schüren und Sicherheit versprechen? Ist das das Unionskonzept? Wie unterscheidet sich das sozialdemokratische Verständnis von Sicherheit hiervon?

 

Schulz: Die Frage, wie die Bürgerinnen und Bürger sicher leben können, ist eine zentrale politische Herausforderung. CDU und CSU reagieren darauf ausschließlich mit Forderungen nach Gesetzesverschärfungen. Die SPD antwortet mit einem umfassenden Ansatz, denn unser Anliegen einer gerechten Gesellschaft ist ohne Sicherheit nicht zu erreichen. Es gilt: keine Gerechtigkeit ohne Sicherheit. Aber eben auch: keine Sicherheit ohne Gerechtigkeit. Die normalen Bürger unseres Landes sind auf einen handlungsfähigen Staat angewiesen – in allen Bereichen. Nur reiche Leute können sich einen schwachen Staat leisten. Alle anderen sind darauf angewiesen, dass der Staat innere und soziale Sicherheit gewährleistet. Sicherheit entsteht erst im Zusammenspiel von Prävention, Stärkung des inneren Zusammenhalts der Gesellschaft und der Arbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz.

 

NG|FH: Was ist die beste Alternative für Europa anstelle der Austeritätspolitik? Ein soziales Europa, ein Europa der Investitionen und der Finanzmarktregulierung?

 

Schulz: Die europäische Integration ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Sie beruht auf der Idee von einem freien, gerechten und solidarischen Zusammenleben der Menschen, auf der Idee, die Herausforderungen, vor denen wir stehen, gemeinsam zu lösen. Wir wollen ein Europa, das sich auf das wesentliche konzentriert und in die Zukunft der Menschen, in gute Jobs und in wettbewerbsfähige Unternehmen investiert. Und wir wollen ein Europa, das die Schlupflöcher für Steuerhinterziehung und Steuerdumping schließt und das faire Löhne und die Arbeitnehmerrechte schützt.

 

NG|FH: Sie waren ja Buchhändler, also jemand, dessen Aufgabe es ist, Literaturempfehlungen zu geben. Welche Lektüre würden Sie unseren vielen jungen studentischen Leser/innen ans Herz legen?

 

Schulz: Jungen Leuten empfehle ich John Steinbecks Familiensaga Jenseits von Eden von 1952. Das ist ein Roman, der mich sehr bewegt hat. Es geht darum, dass jeder Mensch die Wahl hat zwischen Gut und Böse.

 

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben