Die praktische Vernunft verlangt vom Einzelnen die Fähigkeit zur Übersicht. »Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt,« urteilte der passionierte Wanderer Johann Gottfried Seume nach seinem berühmten Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Philosophen und Dichter, als Weltzuschauer und Flaneure scheinbar dazu berufen aus der Perspektive des Erhabenen das Geschehen auf diesem Planeten zu beobachten, haben sich immer schon als geistige Bergsteiger versucht, deren Welt klar in oben und unten geteilt ist. Der philosophische Bergsteiger widmet seinen Einsatz der Erhebung der Seele wie des Geistes. Was er dabei gewinnt, kann man als Übersicht, Überblick oder Zusammenschau bezeichnen. »Es gibt Grundfiguren,« so der Schriftsteller Paul Nizon in seiner Poetikvorlesung »Am Schreiben gehen«, »die quer durch die Literatur gehen, das heißt, quer durch die Zeiten eine thematische Auferstehung erfahren, es ist fast wie eine Stafettenübergabe.«
Der literarische oder philosophische Wanderer aber ist eine Grundfigur, die den Gipfelblick sucht. Damit knüpft sie an die Zeit Homers an, in dessen »Ilias« die Gipfelwelt unwidersprochen als Sitz der Götter akzeptiert wird. Allenfalls zu Opferzwecken darf der Mensch sie betreten. Das Wagnis der Gipfel- oder Himmelsstürmerei gilt in der Philosophiegeschichte als ein »Überschreiten« des Gegebenen – und als Aufstieg. Das unterscheidet den denkenden Wanderer vom Spaziergänger, der, wie Michel de Montaigne es formuliert hat, bloß um des Spazierens willen hinausgeht. »Ich streife umher um das Umherstreifens willen.« Dennoch kann dem Spaziergang nachgesagt werden, daß auch er das Denken beflügelt. Auf jeden Fall bleibt auch der »Blick vom Gipfel« spürbar. Und der Kirchenvater Augustinus warnte davor, die augenfällige Erhabenheit der Naturkulisse schon als das Wesentliche zu nehmen. Petrarca berichtet in seiner Schilderung über die Ersteigung des Mont-Ventoux, er habe, getrieben durch die Begierde, die ungewöhnliche Höhe dieses Fleckchens Erde durch Augenschein kennenzulernen, dagestanden, »durch einen ungewohnten Hauch der Luft und durch einen ganz freien Rundblick bewegt, einem Betäubten gleich.«
Ecce homo: ein Wanderer
Das berühmteste Beispiel für diese Stimmung der Emphase in luftiger Höhe hat wohl Friedrich Nietzsche geliefert. Der »Einsiedler von Sils-Maria« war ein ausdauernder Spaziergänger, der die grandiose Hochgebirgslandschaft des Oberengadins während seiner sieben Sommeraufenthalte zwischen 1881 und 1888 Jahr für Jahr erlebte. Sein »Zarathustra« begegnet uns wie ein Buch des Gebirges, des Waldes. »Ich liebe den Wald«, läßt Nietzsche Zarathustra sagen: »In den Städten ist schlecht zu leben.« Nietzsche hatte das Hochgebirge, den blauen Himmel, die Sonne, die Berge bereits im Sommer 1879 in St. Moritz entdeckt. »Graubünden ist mir wirklich sehr lieb und St. Moritz der einzige Ort der Erde (soweit mir bekannt), der mir entschieden wohlthut, bei gutem und schlechtem Wetter.« Zehn Jahre später ist dann Sils-Maria für ihn der »lieblichste Winkel der Erde«: »So still habe ich’s nie gehabt, und alle 50 Bedingungen meines armen Lebens scheinen hier erfüllt zu sein. Ich nehme diesen Fund hin als ein ebenso unerwartetes wie unverdientes Geschenk,« schreibt er an seinen Freund, den Musiker Peter Gast.
»In den Städten ist schlecht zu leben.« (Also sprach Zarathustra)
Bei einer seiner Wanderungen um den See von Silvaplana erfuhr er jenes Inspirationserlebnis, das er später im Zarathustra-Kapitel von Ecce homo als ein europäisches Ereignis beschreibt, »eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einem Thränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird...« Dieser 6. August 1881 markiert das Datum vom Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen. In Sils dachte Nietzsche kosmisch. »Die Augustsonne ist über uns, das Jahr läuft davon, es wird stiller und friedlicher auf Bergen und in den Wäldern. An meinem Horizonte sind Gedanken aufgestiegen, dergleiche ich noch nicht gesehen habe.«
Zarathustra war am Surlei-Felsen in der Sommermittagswende von Sils-Maria gezeugt worden. Schon im Sommer 1882, im letzten Abschnitt des letzten Buches der Fröhlichen Wissenschaft, heißt es: »Als Zarathustra dreissig Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See Urmi und ging in das Gebirge.« Das Pathos der Höhe entspricht dem Sendungsbewußtsein des philosophischen Bergsteigers. Es hat nichts gemein mit dem romantischen Gipfelblick, wie man ihn etwa von den Bildern eines Caspar David Friedrich kennt. Die Figuren treten in diesen Gemälde-Inszenierungen einsam auf, kehren dem Betrachter den Rücken zu und betrachten nicht die Welt zu ihren Füßen, sondern schauen in die Grenzenlosigkeit ihres seelischen Empfindens, »Wanderer im Nebelmeer«, die in melancholischer Distanz verharren. Diese Sehnsuchtsgebärde hat Søren Kierkegaard in seiner Selbstdarstellung so charakterisiert: »Mein Kummer ist meine Ritterburg. Niemand kann sie stürmen. Von diesem Wohnsitz fliege ich hinunter in die Wirklichkeit und ergreife meine Beute. Aber ich halte mich nicht unten auf; ich trage sie heim auf mein Schloß. Was ich erbeute, sind Bilder.«
Die Wahrheit des Gipfelblicks
In der Übersicht die Wahrheit erkennen.
Viele haben vor und nach Nietzsche in diesem Hochgebirge herumprobiert, bis sie glaubten, in der Übersicht des Gipfelblicks die Wahrheit gefunden zu haben, »die ganze Thatsache Mensch aus ungeheurer Ferne« (Nietzsche). Die Liste der Namen ist lang. Viele waren wie Nietzsche Gast in Sils-Maria: Marcel Proust und Hermann Hesse, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Karl Kraus, Ernst Robert Curtius und Theodor W. Adorno, dem es vor allem das im Grand-Hotel-Stil geführte »Waldhaus« angetan hatte. Jeden Sommer zwischen 1955 und 1966 verbrachte Adorno mit seiner Frau im »Waldhaus« die Ferien. Sie wanderten durch das Fex-Tal, zu der Halbinsel Chasté, dem direkt am Silser See gelagerten Weiler Isola oder auf die Laret-Höhe. »Aus der Höhe,« schreibt Adorno, »nehmen die Dörfer sich aus, als wären sie von oben mit leichten Fingern hingesetzt, beweglich und ohne Fundament. So gleichen sie dem Spielzeug, mit dem Glücksversprechen der Riesenphantasie: man könnte mit ihnen machen, was man will. Unser Hotel aber, in seinen unmäßigen Dimensionen, ist einer von den winzigen mit Zinnen gekrönten Bauten, die in der Kindheit die Tunnels zierten, durch welche die Zimmereisenbahn hindurchbrauste. Nun betritt man sie endlich und weiß, was darin ist.« Der Lyriker Paul Celan, der sich durch Vermittlung des Literaturwissenschaftlers Peter Szondi mit Adorno in Sils-Maria hatte treffen wollen, schrieb rückblickend sein Prosastück »Gespräch im Gebirg«, ein fiktives Gespräch über die jüdische Identität, fiktiv auch deswegen, weil Celan den imaginierten Gesprächspartner in Sils nicht mehr angetroffen hatte.
Gehen, um denken zu können.
»Wir müssen gehen, um denken zu können, schreibt Thomas Bernhard in seiner Erzählung »Gehen«. »Wenn wir gehen, (...) kommt mit der Körperbewegung die Geistesbewegung. (...) Wir gehen mit unseren Beinen, sagen wir, und denken mit unserem Kopf.« Das war auch schon Montaigne vertraut: »Mein Geist geht nicht voran, wenn ihn nicht meine Beine in Bewegung setzen.« Und Rousseau bekannte seinerseits: »Im Wandern liegt etwas meine Gedanken Anfeuerndes und Belebendes, mein Körper muß in Bewegung sein, wenn es mein Geist sein soll.«
Müßiggang ohne Ziel
Die klassische Spaziergänger-Literatur muß sich immer wieder entscheiden zwischen vermeintlichem Müßiggang und zielgerichtetem Wandern. Johann Wolfgang Goethe oder Wilhelm von Humboldt laufen nicht einfach ziellos durch Rom. Ihre Spaziergänge sind gewichtige Exkursionen zur Aneignung von Bildung. Das Flanieren überlassen sie den Franzosen, die sich im Paris des 19. und 20. Jahrhunderts ausschließlich für das bunte Treiben in ihrer Metropole interessieren. Walter Benjamin: »Der Promeneur ist zum Lustwandeln nicht mehr imstande; er flüchtet sich in den Schatten der Städte: er wird Flaneur.« Die Frage des Narren in Nietzsches »Zarathustra«: »Warum gingst du nicht in den Wald?« bleibt aber damals wie heute unbeantwortet.
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