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Was nach den Wahlen von Bayern und Hessen für das Jahr 2024 bevorsteht Bitte nicht wundern

Der sprunghafte Markus Söder und der unscheinbare Boris Rhein bleiben Ministerpräsidenten in Bayern und Hessen: Das war's dann aber auch schon in Sachen Kontinuität. Der Aufstieg der AfD bei den Landtagswahlen dieses Herbstes und die Abwärtsspirale aller drei Berliner Koalitionsparteien geben innenpolitisch für 2024 die Agenda vor. Es wird darum gehen, ob sich der Stimmungswandel nach rechts fest- und fortsetzt.

Dass um diese Dramatik nicht noch mehr Aufregung ist, hat mit der internationalen Lage zu tun, zumal mit der brutalen Terroreskalation im Nahen Osten. Dort gibt es nun noch eine jener Krisen mehr, die eigentlich reine deutsche Selbstbeschäftigung verbieten. Aber unvermeidbar bleibt sie: Schon vor dem Wahltag am 8. Oktober hatte ja die Bundespolitik zu reagieren begonnen – durch allerlei Aufgreifen der Angriffsthemen der Populisten. Irgendwie die Zahl der Geflüchteten begrenzen, und sei es durch bekannt schwer zu realisierende Ideen; irgendwie glaubhaft machen, dass Klimaschutz die Menschen finanziell nicht über Gebühr belastet, und sei es durch Verzicht auf konsequente Maßnahmen; irgendwie zeigen, dass sich bei Wohnungsbau und Mieten vielleicht doch etwas bewegen lässt diese Rechnung an den Staat ist noch nicht ausgestellt. Vor allem anderen war es wieder mal ein bundesweit ausgetragener Anti-Flüchtlingswahlkampf geworden. Wann immer die Zuwanderung gefühltes Hauptproblem war, hatten nie progressive Kräfte gewonnen.

Ganz vorne im Erschrecken und Voltenschlagen diesmal die Grünen. Mit einer Königsidee der Kanzler: dem lagerübergreifenden Deutschland-Pakt, was ja auch vielleicht nur Vorbote war. Demnächst sorgt so ein Denkansatz in Parlamenten mit starker AfD womöglich für notgedrungen ganz große Koalitionen: Wenn das keine Zeitenwende ist. Und wenn angesichts von Wahlergebnissen, bei denen in Bayern und sogar Hessen die Union als gefühlt letzte Führungskraft übrigbleibt, der Merz-Union die Lust an breiten Bündnissen nicht schnell wieder vergeht.

»Wo christdemokratische Inte­grationskraft herkommen soll, ist bislang nicht zu erkennen.«

In Wahrheit ist deren Lage aber komplizierter. Wenn in manchen ländlichen Gegenden sogar im Westen schon an die 30 Prozent der Leute rechtsradikal wählen, versagt die CDU auf ihrem ureigenen konservativen Spielfeld. Und seit ihr Vorsitzender mit seinen Attacken gegen Sozialleistungen für Geflüchtete das rechte Lied einfach mitgesungen hat, weiß nun andererseits die Berliner Ampel inklusive FDP wieder, was sie von dieser Opposition unterscheidet. Wo auf Dauer tatsächlich neue christdemokratische Integrationskraft herkommen soll, ist bislang nicht zu erkennen.

Narrativ der Zornigen

Mit etwas Abstand zu den beiden Wahlergebnissen lässt sich aber auch sagen: So richtig Dammbruchgefahr war diesmal landespolitisch noch nicht, weder in Bayern noch in Hessen. Dass die rechte Chuzpe des Freie-Wähler-Populisten Aiwanger erfolgreich blieb, belegt jedoch das Gefährdungspotenzial. Dass in Hessen auch eine CDU/SPD-Regierung möglich bleibt, ändert nichts an der sich fortsetzenden Schwäche der Sozialdemokratie im alten Stammland. Insgesamt ist die sozialdemokratische Fortschrittserzählung nun massiv unter Druck – in einem Deutschland, in dem so vieles nicht mehr zu funktionieren scheint. Und in dem sich ein neues Narrativ der Zornigen aufbaut: Zweifel an der Verlässlichkeit von Ankündigungen generell, an der Umsetzbarkeit von Gesetzesbeschlüssen, an Durchsetzungskraft und Verlässlichkeit der Politik schlechthin.

Die Rolle der Grünen hat sich massiv zurückverwandelt. Vorbei ist die Phase, in der sie mit moralisierenden Mahnungen jedermanns Lieblinge waren. Seit sie flächendeckend mitregieren, erschrickt der moralaffine Teil der Anhängerschaft ein ums andere Mal wegen der realen Zielkonflikte. Dass die grüne Regierungspolitik gemessen an der eigenen Rhetorik besonders radikal wäre, kann niemand behaupten. Die internen Konflikte und das tatsächliche Führungsdurcheinander in der grünen Partei geben dennoch Zeugnis einer tiefen internen Unsicherheit. Denn die Grünen polarisieren wieder und sind darauf selbst nicht vorbereitet.

Genau deshalb versuchte die Bundes-FDP, ihnen das Etikett des Sicherheitsrisikos anzukleben. Genau deshalb sehen viele, speziell im Osten, die grüne Mischung aus Klimafokus und kultureller Selbstgewissheit als Angriff auf die eigenen Lebensgewohnheiten. Diese Menschen erleben inzwischen selbst Fachexpertise als bevormundend, sei es während der Coronazeit durch die Virologen, sei es später durch Klima- und Heizungsexperten. Daraus ist ein Kampf um wissenschaftliche Rationalität schlechthin, um ihren Anspruch und ihren öffentlichen Auftritt geworden. Und immer deutlicher kommt gleichzeitig bei allen Themen die individuelle Kostenseite ins Spiel.

Gute Absichten stoßen auf Abwehrreflexe.

Auf dem Weg zur Klimaneutralität, der gerade erst beginnt, stoßen gute Absichten inzwischen erkennbar auf Abwehrreflexe. Das Heizungsgesetz hat in dieser Hinsicht die Wahrnehmung jeder von Grünen mitbestimmten Politik radikal verändert. Und es kommt zwar selten vor, dass Rechtspopulisten intelligent ausgedachte Parolen plakatieren. Diese eine aber war so etwas: »Weil wir für Euch sind, sind sie gegen uns«. Sie, das sind in dieser Logik die anderen Parteien – während die Rechten ein Gefühl der Fremdbestimmtheit ausnutzen, das sich vor allem in ländlichen Gegenden breitgemacht hat. Das alles ist so gefährlich, weil es sowohl reale ökonomische als auch empfundene kulturelle Aspekte verbindet.

Die kulturelle Schere zwischen urbanen und ländlichen Milieus, zugleich zwischen Bildungsoberschicht und vielen anderen ist nicht erst jetzt erkennbar, sie wird jetzt aber mehr denn je machtpolitisch relevant. Diesbezüglich ist rund um die Heizungsgesetzdebatte etwas Grundlegendes passiert, das längst in der Gefahr mündet, das Land insgesamt weiter nach rechts zu rücken.

Nicht zuletzt die Stimmabgabe der Jüngeren hat im Oktober gezeigt: Die gebildet-städtischen Milieus verlieren an Diskurshegemonie, die brückenbauende Sozialdemokratie wird in der neuen Polarisierung als zu grau und unentschlossen erlebt. Die Unionsparteien fühlen sich mit jeder Abgrenzung nach rechts dennoch in einer machtpolitischen Bündnisfalle und testen gedanklich immer deutlicher Öffnungsstrategien aus, zumal im Osten und in den Kommunen.

Bitte nicht wundern also: Was in einer solchen Gemengelage 2024 bevorsteht, ist weitere ergebnisoffene Zuspitzung. Umso wichtiger, sich das jetzt bewusst zu machen und konsequent zu reagieren. Die AfD wird zur Europawahl am 9. Juni einen radikalen Anti-EU-Wahlkampf führen. Bislang steht in den Sternen, ob es in Brüssel bis dahin gelingt, zu den zentralen Themen Handlungsfähigkeit, geschweige denn Orientierungsfähigkeit zu beweisen. Aber da Handeln in Europa sowieso nur Kompromisshandeln sein kann, wird selbst das Aufgreifen von Unmutsthemen sehr schnell als unzureichend kritisiert werden. Und der Rechtsruck in anderen europäischen Ländern und die Verschiebung der Debattenkoordinaten dort macht europäische Strahlkraft sowieso doppelt schwierig.

Auch hier gilt: Umso wichtiger, sich das jetzt bewusst zu machen und konsequent zu reagieren, um die – vielleicht letzte – Chance zu nutzen, zu zeigen, dass ein Zusammenwachsen Europas allen nutzt. Im eigenen Basisdiskurs sind zu viele, nicht nur Konservative, längst in Gefahr, die Europaskepsis zu übernehmen, um nicht ständig in die Defensive zu kommen. Auch da sind die Anpassungsprozesse nach rechts im vollen Gang, was auch immer in Brüssel bis zur Wahl im Juni noch gelingen mag.

Nach den bayerisch-hessischen Erfahrungen ist damit zu rechnen, dass sich im Frühjahr auch im demokratischen Spektrum antieuropäische Töne fortsetzen, besonders in der CDU Ostdeutschlands. Und: Am 9. Juni finden gleichzeitig bundesweit viele Kommunalwahlen statt, insbesondere im gesamten Osten – was für die Diskussionskultur an der Basis zum tiefen Einschnitt werden kann, falls sich der aktuelle Trend fortsetzt. Bei den drei ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst kann die AfD erstmals stärkste politische Kraft in Länderparlamenten werden: Außer Anpassung fällt der CDU dagegen bisher nicht viel ein.

»Den Stimmungswandel rein sachpolitisch verstehen und bekämpfen zu wollen, greift viel zu kurz.«

Was wollen Menschen wirklich, die zu den Rechtspopulisten geschwenkt sind, zunächst ohne schon selbst fest dort verankert zu sein? Viele wirken genervt und zunehmend allergisch. Spannend wird dann die Frage, was eigentlich die Allergien ausgelöst hat – die Form oder der Inhalt? Letztlich ist beides nicht zu trennen. Und doch muss nicht gegen Klimaschutz sein, wer strikte Vorgaben für's Heizen für zu teuer hält. Nicht generell gegen Asylrechte, wer dadurch hohe Belastungen sieht. Wobei genau hier extrem viel Projektion im Spiel ist, Vorgeschobenes letztlich. Denn stets ist dieser Teil der allergischen Reaktion dort am massivsten, wo kaum Geflüchtete leben. Womit klar wird: Den Stimmungswandel rein sachpolitisch verstehen und bekämpfen zu wollen, greift viel zu kurz. Umso schwieriger, auch diese Frage fair zu stellen: Was an solchen Debatten ist womöglich berechtigt, wenn auch die rechten Antworten genau die falschen sind?

»Hoffnungsverlust führt in Teilen der Gesellschaft zu bewusster politischer Verweigerung.«

Wer dem Abwenden auf den Grund gehen will, kommt an den materiellen Fragen nicht vorbei, insbesondere nicht an der sich verfestigenden strukturellen Chancenungleichheit. Das Ost-West-Thema ist ein wichtiger Teil davon, aber bei Weitem nicht der einzige: dass die Art der deutschen Vereinigung viele im Osten tatsächlich benachteiligt hat – ohne die Chance zur eigenen Wohlstands- und Vermögensbildung in west-üblicher Form. Inzwischen setzt sich dort eine Wendeerzählung fest und verstärkt sich von Generation zu Generation, die ihrerseits Einseitigkeiten transportiert. Hoffnungsverlust führt in Teilen der Gesellschaft zu bewusster politischer Verweigerung, die sich mal radikaler, mal weniger radikal ausdrückt. Eine neue, gelassene Gesprächsbereitschaft zu fördern, ist da nicht leicht, aber nötig. Sie wäre eine der dringend nötigen Konsequenzen. Und hinter der vordergründigen politischen Stabilität im alten Westen zeigt sich abgeschwächt dasselbe Thema.

Erschöpfung im demokratischen Lager

Die latente bundespolitische Führungsdebatte bei gleichzeitigem Bestätigen von Regionalfürsten kann man als Hilferuf verstehen. Das ständige Kritteln am Kanzler wie schon an seiner Vorgängerin, obwohl manchmal gerade unentschieden wirkende Bedächtigkeit dazu beiträgt, das Land aus zusätzlichen Turbulenzen herauszuhalten: Darin spiegelt sich nicht zuletzt die allgemeine Erschöpfung im demokratischen Lager. Nach der x-ten Flüchtlingsdebatte, dem y-ten Scheitern guter Ideen am Konsensmangel in der EU (hoffentlich ist die Migrationspolitik nun bald das Gegenbeispiel), angesichts der ersichtlich schwachen Bereitschaft zu privater Lebensstilveränderung beim Klimaschutz und einer tief gespaltenen Gefühlswelt in Sachen Ukraine scheint nicht nur grüner Idealismus an sein Ende gekommen, sondern mitunter auch die realpolitische Konsenssuche. Es ist zu wenig das Gefühl da, dass etwas voran geht. Während alles, was tatsächlich bewegt wird, zu schnell für zu geringwertig erklärt wird.

Irgendwann im September hat der UN-Generalsekretär Zwischenbilanz jener zentralen, im besten Sinne utopischen Nachhaltigkeitsziele gezogen, mit denen die Vereinten Nationen mittelfristig die Welt auf einen gemeinsamen sozialökologischen Fortschrittspfad führen wollen. Bei 15 Prozent dieser Ziele sei man zumindest auf dem richtigen Weg, ließ er wissen. Bei 30 Prozent indes gebe es eher Rückschritt statt Vorwärtsgehen.

Das ernüchternde Szenario lässt sich ausweiten auf andere Bereiche mit nationalen oder internationalen Verabredungen: Armutsbekämpfung, Verteidigungsausgaben, Schuldenbremse, Bildung, Klimaschutz. Wenn Ziele derart flächendeckend nicht erreicht werden, geht es nicht mehr um Einzelversagen. Dann stimmt an der ganzen Aufstellung etwas nicht mehr, das spüren viele Leute. An der zu billigen Art auch, unrealistische Ziele der Tagespraxis voranzustellen ohne noch die Kraft zu haben, kleine Schritte wertzuschätzen.

Das System des Politischen in einer auseinanderlaufenden Demokratie: Lange wurde nicht mehr grundlegend darüber geredet. Lange schon verliert sich Politik zu leicht in arbeitsteiligen Detaildebatten, engagiert und wohlmeinend, während – bitte nicht wundern! – das Ganze erodiert. Während selbst die Parlamente mit immer mehr Fraktionen und Fraktiönchen immer blockierter werden und die jeweiligen Koalitionen immer ängstlicher, die darin verwickelten Parteien immer selbstbezogener.

Der Weg zurück zu systemischer Glaubwürdigkeit führt nur über Realismus, Empathie und klare Kontroversen in den Grundsatzfragen – hinsichtlich der Notwendigkeit demokratisch-wirksamer Steuerung im privatwirtschaftlichen Wirtschaftssystem zumal. Dass ein handelnder, durchsetzungsfähiger Staat gerade in diesen Zeiten und speziell von den Zweifelnden gebraucht – und ja gewollt – wird, ist unstrittig. Dass es ein offener, liberaler Staat bleiben sollte, ist nach wie vor Überzeugung einer sehr großen Mehrheit. Auf dieser Basis den demokratischen Wettstreit spannend zu machen: Das ist die verdammte Aufgabe für 2024!

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