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Die Okkupation Georgiens vor über 100 Jahren durch Sowjetrussland Blaupause für den Krieg von heute

Seit Monaten hält uns nun der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Wladimir Putins und des russischen Militärs gegen die Ukraine in Atem. So verabscheuungswürdig dieser Überfall schon für sich genommen ist, so befremdlich muten die Begründungen an, die der oberste Kriegsherr für seine Entscheidung ins Feld führt. Von Drogenabhängigen und Nationalsozialisten wolle er die Ukraine reinigen und befreien.

Und mit kruden Reminiszenzen an die große russische (richtiger: großrussische) Geschichte leugnet er die Existenz einer ukrainischen Nationalität und unterwirft sie einem historischen Verständnis, in dem die ukrainische Bevölkerung ihren legitimen Platz für sich selbst und ihr Staatsgebiet nur als Teil eines großrussischen Reiches beanspruchen könne. Dass Putin die historische Legitimation seines Vorgehens dabei eher mit dem Vorbild des Massenmörders Josef Stalin als mit dem Erbe Wladimir Iljitsch Lenins verbindet, spricht sicher für sich.

Dass Russland 1994 im Rahmen eines multilateralen Vertrages (Budapester Memorandum), aufgrund dessen die Ukraine ihr Atomwaffenarsenal an die russische Föderation abtrat, die Staatlichkeit der Ukraine und die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen völkerrechtlich anerkannt hat, schert den Herrn im Kreml zudem herzlich wenig.

Angesichts der Ungeheuerlichkeit eines derartigen Angriffskrieges mitten im Europa des 21. Jahrhunderts wird nun viel von einer »Zeitenwende« und der Singularität eines derartigen Vorgangs gesprochen. Hier soll nicht die Rede davon sein, dass eine derartige Betrachtungsweise allzu fahrlässig die Sezessionskriege im ehemaligen Jugoslawien der 90er und Nullerjahre, die kriegerischen Auseinandersetzungen im Südkaukasus (Georgien 2008, Armenien/Aserbeidschan 2020) sowie den Krieg im Donbass seit 2014 außer Acht lässt. Vielmehr soll – gerade mit Blick darauf, dass sich Putin selbst historischer Analogien und Anleihen bedient – der Fokus darauf gelenkt werden, dass das konkrete Vorgehen der russischen Staatsmacht durchaus Vorbilder in der Geschichte hat, die nicht vergessen werden sollten.

Weitgehend ins historische Vergessen geraten sind nämlich die Vorgänge der Herausbildung von Staatlichkeit, die sich infolge des Ersten Weltkrieges, des Sturzes der Zarenherrschaft, der russischen Februar- und Oktoberrevolution 1917 sowie dem anschließenden Bürgerkrieg abspielten. Zum damaligen Herrschaftsbereich des Zarenreiches gehörte nicht nur das Staatsgebiet der heutigen Ukraine, sondern auch das der drei kaukasischen Republiken Armenien, Aserbeidschan und Georgien. In einem konfliktreichen, teils kriegerischen, aber auch der eigenen von den Bolschewiki propagierten Parole des Selbstbestimmungsrechts der Nationen geschuldeten Prozess trennten sich eine Reihe von Randstaaten vom ehemaligen großrussischen Reich.

Diese zentrifugalen Kräfte wurden auch durch das Auseinanderjagen der konstituierenden Versammlung in St. Petersburg Anfang Januar 1918 beschleunigt, ein Vorgang, der auch solche politischen Kräfte die Sezessionsbewegung unterstützen ließ, die eigentlich programmatisch an einer gesamtrussischen Staatlichkeit hatten festhalten wollen. Zu ihnen gehörten insbesondere die georgischen Sozialdemokraten (Menschewiki), deren führende Vertreter in der Phase der Februarrevolution eine wichtige Rolle gespielt hatten.

In einem ersten Schritt konstituierte sich am 14. November 1917 für die drei politisch, ökonomisch, kulturell und religiös ausgesprochen heterogenen Gebiete ein »Transkaukasisches Kommissariat« mit dem Ziel eines gemeinsamen Parlaments und einer gemeinsamen Staatlichkeit. Aber bereits am 26. Mai 1918 erklärte sich Georgien zum unabhängigen Staat, ihm folgten zwei Tage später Armenien und Aserbeidschan. In einem am 27. August 1918 in Berlin unterzeichneten Zusatzabkommen zum Friedensvertrag von Brest-Litowsk verzichtete Sowjetrussland auf Georgien. Im Rahmen der Bürgerkriegsauseinandersetzungen wurde allerdings Aserbeidschan (mit seinen ökonomisch bedeutsamen Erdölfeldern um Baku) bereits im April 1920 durch die Rote Armee zwangssowjetisiert, Armenien folgte Anfang Dezember.

Sehr viel schwieriger gestaltete sich die Lage für die russische Seite mit Blick auf Georgien. Noch im Frühjahr 1920, am 7. Mai, hatte Sowjetrussland in einem bilateralen Vertrag die Unabhängigkeit Georgiens anerkannt, während im Gegenzug die georgische Regierung sich damit einverstanden erklärte, die bislang unbedeutende Kommunistische Partei Georgiens gesetzlich zuzulassen. Am 27. Januar 1921 wurde Georgien auch von den Alliierten des Ersten Weltkriegs völkerrechtlich anerkannt. Die Parallele zur heutigen Situation, zur Vertragssituation mit der Ukraine im Jahr 2008, ist kaum zu übersehen.

Sozialdemokratischer Musterstaat

Bereits am 14. Februar 1919 waren in Georgien Parlamentswahlen abgehalten worden. Das Wahlrecht galt für Männer und Frauen ab 20 Jahren. Das Ergebnis war ein geradezu überwältigender Wahlsieg der Sozialdemokraten (Menschewiki): Sie erhielten 81,5 Prozent der Stimmen, waren auf dem Land mit seiner überwiegend bäuerlichen Bevölkerung sogar ähnlich stark wie in den von der Arbeiterschaft geprägten Städten. Sie bildeten im März eine Regierung unter ihrem Vorsitzenden Noe Jordania und setzten in der Folgezeit eine Agrarreform sowie eine weitreichende Sozialgesetzgebung um.

Der Respekt vor der eigenen vertraglichen Unterschrift unter die genannten Verträge währte auf russischer Seite allerdings nicht lange. Anlässlich einer lokalen Bauernrevolte im Distrikt Borchalinsk, bei der Historiker vermuten, dass sie von den georgischen Kommunisten selbst initiiert worden war, wurde die russische Rote Armee »zu Hilfe gerufen«, und diese marschierte am 16. Februar 1921 – natürlich ohne jegliche Kriegserklärung – in Georgien ein.

Im Unterschied zu den bereits 1918 und 1920 durchgeführten Interventions- und Putschversuchen, die schnell militärisch beendet werden konnten, gelang dies den Georgiern 1921 nicht. Die damals genannten Gründe für die Okkupation erinnern erneut an aktuelle Vorgänge: Zunächst hieß es, an der armenisch-georgischen Grenze hätten sich einige Dörfer gegen die Tyrannei der georgischen Regierung erhoben. Es erstaunt nicht, dass ausgerechnet dort, auf der anderen Seite der Grenze, bereits vermehrt russische Truppen zusammengezogen worden waren. Wer erinnert sich nicht an das Manöver Anfang dieses Jahres.

Später hieß es von offizieller russischer Seite, es seien die georgischen Kommunisten selbst gewesen, die die konterrevolutionären Menschewisten aus Tiflis verjagt hätten. Was wir heute tagtäglich als Begleiterscheinung von Putins Krieg in der Ukraine erleben, die durchgängige Umdeutung von Fakten und die Erläuterung zu allen Bildern, die die Gräuel des Krieges belegen, diese seien gestellt und Fake News, hat also historische Vorbilder. Mit der Wahrheit nahmen es die intervenierenden Bolschewisten schon in dieser frühen Periode nicht so genau.

Eigenartige Auffassung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker

Nach dem militärischen Sieg proklamierten die georgischen Bolschewisten unter dem Schutz der Roten Armee schließlich die Georgische Sozialistische Sowjetrepublik. Der Prozess der Russifizierung Georgiens nahm seinen Lauf. Der renommierte amerikanische Historiker William Henry Chamberlin kommentierte später trocken-sarkastisch: »Die eigenartige sowjetische Auffassung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker war um einen neuen Beweis bereichert worden.«

Die Okkupation Georgiens durch Sowjetrussland hatte beträchtliche Auswirkungen auf das ohnehin angespannte Verhältnis der deutschen und internationalen Sozialdemokratie zu Sowjetrussland und den kommunistischen Parteien. Es war eine ungeheure Provokation, dass zum selben Zeitpunkt, als in Wien die damals noch drei internationalen Vereinigungen der Arbeiterparteien über mögliche gemeinsame Aktivitäten berieten, eine hochgeachtete sozialdemokratische Mitgliedspartei aus der Regierung militärisch vertrieben wurde.

Noch wenige Wochen zuvor hatte sich der bekannteste sozialdemokratische Theoretiker, Karl Kautsky, für drei Monate in Georgien aufgehalten, vor ihm zudem eine internationale Delegation, unter anderem mit Émile Vandervelde, Camille Huysmans und Ramsay MacDonald. Kautskys hartes Urteil kann nicht verwundern: Der Moskauer Imperialismus sei es, dem Georgien jetzt zum Opfer gefallen sei.

Dies betrifft die außenpolitische Seite des Handelns der sowjetrussischen Autoritäten. Ähnliches gilt allerdings auch für die innenpolitische Situation: Das folgende Jahr 1922 ist das der endgültigen Illegalisierung der russischen sozialdemokratischen Partei, deren Führung ins Exil getrieben wurde. Wie die Periode nach 1991 zeigen sollte, wurde damit die sozialdemokratische Tradition nahezu vollends aus dem russischen Leben ausradiert.

Eine Blaupause?

Kann man also mit Blick auf Georgien 1921 von einer Blaupause sprechen? Wie bereits dargelegt, gleichen sich die Bilder von damals und die heutigen aus dem Ukraine-Krieg: das Abschließen von Verträgen, die nicht eingehalten werden, die gezielte Desinformation über Hintergründe und Motivation des eigenen Vorgehens, das Benutzen von politischen oder sozialen Minderheitsgruppen innerhalb benachbarter Nationen, denen man vermeintlich militärisch zu Hilfe kommt.

Dieses Muster sollte sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts im Herrschaftsbereich der Sowjetunion und seiner Satellitenstaaten vielfach wiederholen, wobei es hier zumeist Teile der Führungseliten der kommunistischen Parteien waren, die die sowjetische »brüderliche Hilfe« angesichts nicht mehr zu beherrschender Binnenkonflikte anforderten. Wir sehen dies in der DDR 1953, in Ungarn und Polen 1956, in der Tschechoslowakei 1968, in Afghanistan 1979 und Polen 1981.

Und Wladimir Putin und seine heutige Staatsmacht? Es wäre sicher verfehlt, sein autokratisches Regime in der ungebrochenen Nachfolge des sowjetrussischen autoritären Staatssozialismus zu sehen. Aber er ist in ihm aufgewachsen, hat seine Lektionen innerhalb des sowjetischen Geheimdienstes gelernt und bezieht sich positiv gerade auf die Traditionen der Sowjetgeschichte, die seiner Vision eines großrussischen Imperiums entsprechen.

Die frühen Vorstellungen Lenins von einem Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen ­– an die er sich allerdings nicht hielt –, stehen dabei im Wege und sind Putin ein Gräuel. So steht sein Reich sicher nicht in der direkten Tradition des sowjetischen Staatssozialismus, aber sein kleptokratischer Staatsterrorismus kann sich mit Fug und Recht auf die schlechten, die autoritär-zentralistischen und gewalttätigen Traditionen dieses Politikmodells berufen. Es ist an der Zeit, dass diese Erkenntnis auch in die Köpfe mancher immer noch gelegentlich anzutreffenden »Putin-Versteher« vordringt.

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