Was haben elektrische Batterien, das Telefon und Aspirin gemeinsam? Richtig: Es sind alles Erfindungen des 19. Jahrhunderts. Sie stehen stellvertretend für die rasanten Fortschritte, die in dieser Zeit im Bereich von Technik und Wissenschaft gemacht wurden.
Aber der Wandel war noch umfassender: Zu Beginn der 19. Jahrhunderts war das Gebiet, das wir heute als Deutschland bezeichnen, ziemlich kleinteilig gegliedert und von Landwirtschaft geprägt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es einen deutschen Nationalstaat und die Industrialisierung prägte ganze Regionen. Städte entwickelten sich explosionsartig, die Bevölkerung wuchs rasant und eine neue soziale Formation war entstanden: die Arbeiterschicht.
Wer verstehen will, warum die SPD heute ihr Regierungsprogramm mit dem Begriff »Fortschritt« überschreibt, der muss wissen, dass diese Partei in eben diesem wechselvollen 19. Jahrhundert entstanden ist. Sie verstand sich als die politische Kraft, die die Umbrüche jener Zeit nicht nur nachvollziehen, sondern aktiv gestalten und in Fortschritt übersetzen wollte.
Vor allem zwei Entwicklungen beeinflussten das Fortschrittsverständnis der Sozialdemokratie in ihren Anfängen: die Entstehung eines modernen Kapitalismus mit industrieller Produktion und die sich verbreitenden Ideen der Aufklärung. Entsprechend war die sozialdemokratische Idee von Fortschritt eng verbunden mit technisch-industriellem Fortschritt. Der Fortschritt hatte aus sozialdemokratischer Perspektive lange einen Pulsschlag aus Stahl. Aber er war nicht darauf beschränkt, sondern strebte auch gesellschaftliche und politische Veränderungen an.
Auf dieser Grundlage hat sich ein Fortschrittsverständnis entwickelt, das eng an den Begriff der Freiheit angelehnt war. Es ging darum, materielle und soziale Verbesserungen zu erzielen: belastbare Arbeitsverträge, Achtstundentag, Krankenversicherung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bis hin zu einem Mindestlohn, von dem man leben kann. All das waren Voraussetzungen für ein freies Leben, die durch Fortschritt erzielt werden sollten. Aber auch die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen für ein freies Leben waren Teil der sozialdemokratischen Fortschrittsidee. Gleiches Wahlrecht für Mann und Frau, Meinungs- und Religionsfreiheit bis hin zur Anerkennung unterschiedlicher geschlechtlicher Identitäten. Dieses doppelte Freiheitsverständnis stand im Mittelpunkt der Fortschrittserzählung. Die Freiheitsspielräume des Einzelnen sollten durch Fortschritt wachsen.
Die Forderungen, die die SPD in ihrem Erfurter Programm 1891 entwickelte, lesen sich wie ein Fortschrittskatalog nach diesem Muster: Arbeitsschutz, rechtliche Gleichstellung der Geschlechter, kostenlose Gesundheitsfürsorge und vieles mehr. All das erschien damals utopisch. Im 20. Jahrhundert gelang es aber, Schritt für Schritt einen Großteil dieser Ideen in reale Praxis zu übersetzen und damit spürbaren Fortschritt für Millionen Menschen zu erreichen.
Fortschritt für die Arbeiter:innen – oder für alle?
Die SPD wurde über einige Strecken ihrer Geschichte als Arbeiterpartei verstanden. Den Tatsachen entsprach so ein schmales Label nie. Es waren immer unterschiedliche Akteursgruppen, die die Partei getragen haben. In ihren Anfängen waren neben der breiten Basis der Arbeiter etwa Handwerker unterschiedlichster Art wichtig für die Entwicklung der SPD. Richtig bleibt aber, dass sich zahlreiche Forderungen der SPD und damit auch ihres Fortschrittsverständnisses zunächst auf die Arbeiter bezogen. Zugleich verband die Partei damit immer einen universellen Anspruch. Es ging nicht darum, neue Privilegien nur für eine Gruppe in der Gesellschaft zu erkämpfen, sondern Freiheitsspielräume für möglichst viele zu erreichen.
Willi Eichler, einer der maßgeblichen Väter des Godesberger Programms, hat es Mitte der 1950er Jahre anschaulich formuliert: »Die Arbeiterschaft bildet den Kern der Mitglieder und Wähler der Partei. Historisch war der Sozialismus zunächst ihre Sache, da sie die am meisten entrechtete Schicht war. Aber unsere Arbeit liegt im Interesse aller, die keine Herrschafts- und Bildungsvorrechte aufrechterhalten wollen oder anstreben. Jeder Mensch also, dem soziale Gerechtigkeit und geistiger Fortschritt am Herzen liegen, ist der natürliche Verbündete der Sozialisten.«
Damit sind wichtige Hinweise dafür gegeben, an wen sich der Fortschritt nach sozialdemokratischer Vorstellung richten sollte und wer davon profitieren könnte. Nicht die Lebensbedingungen einer einzelnen gesellschaftlichen Gruppe stand im Vordergrund, sondern eine möglichst breite Fortschrittsallianz, bei der althergebrachte Privilegien und neue Ungerechtigkeiten zugunsten gleicher Rechte für alle überwunden werden sollten.
Wie erreicht man Fortschritt?
Es gab und gibt in der politischen Linken immer wieder heftige Auseinandersetzungen darüber, wie denn eigentlich Fortschritt politisch erreicht werden könne. Berühmt wurde dabei das Diktum von Karl Marx, dass die Revolutionen die Lokomotiven der Geschichte seien. In seiner Analyse der »Klassenkämpfe in Frankreich« setzte Marx revolutionäre Umbrüche mit der Maschine gleich, die wie keine zweite im 19. Jahrhundert für Geschwindigkeit stand. Dieses Bild haben manche aufgegriffen und so gedeutet, dass gesellschaftliche Veränderungen nur mit einer Revolution zu erreichen seien, also mit radikalen Umbrüchen, auch gegen Widerstände, und wenn es sein muss mit Gewalt.
In der Sozialdemokratie hat sich eine andere Deutung durchgesetzt. Im sogenannten Revisionismusstreit der Partei zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es heftige Debatten darüber, ob sich die SPD einem revolutionären Marxismus verpflichtet sehe, oder eher auf schrittweise Reformen setzen solle. Eduard Bernstein, der bekannteste Vertreter der Reformorientierung, verband die Frage des Fortschritts dabei eng mit der der Demokratie. »Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus.«
Neben Wertorientierungen, die Bernstein als Gründe dafür nannte, hatte er auch pragmatische Argumente: Weder wird ein unmittelbarer, radikaler Bruch in den hochentwickelten Industriegesellschaften von heute auf morgen möglich sein, noch wird sich eine soziale Trägerschaft dafür finden. Wer Wandel auf Dauer sicherstellen will, kann ihn nicht gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchdrücken, er muss die Mehrheiten gewinnen. Nur dann gibt es eine gesellschaftliche Grundlage für Wandel.
Langfristig setzte sich Bernstein mit seiner Deutung durch. Alle erfolgreichen sozialdemokratischen Parteien des 20. und 21. Jahrhunderts gestalteten ihre politische Praxis entlang von Bernsteins Reformorientierung. Das bedeutete eine Abkehr vom dynamisch-kraftvollen Bild der Lokomotive und manchmal eher die Hinwendung zu einer Handlungspraxis, die der Fortbewegung mit einer Draisine glich: weniger schnell, es braucht viel Schweiß und Geduld, um vorwärts zu kommen, und manchmal geht es auch rückwärts. Aber an der demokratischen Verankerung von Fortschritt führt aus der Perspektive der Sozialdemokratie kein Weg vorbei. Das ist wichtig in Zeiten, in denen manche fragen, ob man zum Beispiel die Klimakrise denn mit der Draisinen-Geschwindigkeit der Demokratien überhaupt noch bewältigen könne.
Wie der Fortschritt grün wurde
Die Debatte um die planetaren Lebensgrundlagen ist für die SPD allerdings nicht neu. In einem bemerkenswerten Buch diskutierte Erhard Eppler, der langjährige Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD, schon 1975 die Befunde des Club of Rome und fragte, ob die Menschheit in der Art, wie wir leben und wirtschaften noch zu einer Wende fähig sei, oder ob wir dem existenziellen Ende des Menschen auf diesem Planeten entgegensehen müssen. Es war auch Eppler, der schon einige Jahre zuvor die Gleichsetzung von ständigem Wachstum und Fortschritt ablehnte. Ausgerechnet auf einer Tagung der IG Metall 1972 hielt er ein aufsehenerregendes Referat unter dem Titel »Die Qualität des Lebens«.
Ein ständiges Weiterwachsen der Wirtschaften in den Industrieländern sei, so Eppler, schon damals nicht mehr möglich. Unser Planet gibt das schlicht nicht mehr her. Zugleich sei es aber auch nicht nötig. Denn für die Qualität des Lebens oder gar das Glück des Einzelnen ist rein quantitatives Wachstum zumindest ab einer gewissen Wohlstandsschwelle nicht entscheidend. Vielmehr brauche es neue Maßstäbe jenseits des BIP-Wachstums, um mehr Lebensqualität und damit wirklichen Fortschritt zu erreichen.
Die Auseinandersetzung darüber ist bis heute nicht abgeschlossen. Es gab seitdem unzählige Kommissionen, Tagungen und Initiativen, um jenseits des rein quantitativen Wirtschaftswachstums Messgrößen für den Fortschritt in unseren Gesellschaften zu entwickeln. Keine davon hat das BIP von seinem Thron gestoßen.
Für das Kernanliegen der Sozialdemokratie hat Eppler aber Bleibendes hinterlassen: Es geht beim Fortschritt nicht um industriell erzeugten, materiellen Wohlstand oder um dessen Vervielfältigung. Materielle Sicherheit ist gewiss eine entscheidende Bedingung. Und Fortschritt bedeutet, diese Bedingungen sicherzustellen. Für ein gelungenes Leben des Einzelnen geht es aber um mehr. Damit hat er geholfen, dass die alte Partei der Arbeiterbewegung, die so eng verbunden war mit der Industrialisierung, ein Fortschrittsverständnis für die postindustrielle Ära entwickeln konnte.
Was bleibt vom Fortschritt?
Wenn heute, zu Beginn der 2020er Jahre also wieder ein Koalitionsvertrag mit Fortschritt überschrieben wird und auf einem sozialdemokratischen Parteitag ein sozialdemokratisches Jahrzehnt ausgerufen wird, dann ist das mehr als ein Zufall. Die Fortschrittsidee gehört zur DNA der Sozialdemokratie. Aber was kann sie aus ihrer Geschichte mitnehmen? Vor allem drei Dinge:
Erstens gelingt Fortschritt nur auf einer breiten gesellschaftlichen Grundlage. Eine Partei wie die SPD braucht immer ein avantgardistisches Element in sich, um über den Tag hinaus Vorstellungen von Fortschritt zu entwickeln. Aber für dessen Realisierung müssen gesellschaftliche Mehrheiten gewonnen werden. Das ist mühsam und braucht Zeit. Aber ein Fortschritt gegen den Willen der Mehrheit wäre kein Fortschritt im Sinne sozialer Demokratie.
Zweitens ändern sich die Instrumente, mit denen Fortschritt erzielt wird. Waren es zu Beginn der Arbeiterbewegung auch technische Innovationen und häufig quantitatives Wachstum, das Fortschritt bedeutete, so sind die Instrumente heute oft andere. Nicht mehr alles soll wachsen, im Gegenteil: Einiges muss schrumpfen. Nicht jede technische Neuerung ist Fortschritt. Aber zukunftsfähige Politik muss das aktive Gestalten des Wandels in ihren Mittelpunkt stellen.
Drittens bleibt das Ziel von Fortschritt im Sinne der Sozialdemokratie gleich. Es geht um Emanzipation. Das bedeutet, Freiheitsspielräume für den Einzelnen zu vergrößern, und zwar so, dass es mit den anderen und deren Freiheiten vereinbar ist. Dieses Ziel wirkt angesichts permanenter Krisen weit entfernt. Schließlich sind unsere Lebensgrundlagen existenziell bedroht und Freiheiten geraten in vielen Teilen der Welt unter Druck. Aber gerade die Hoffnung darauf, dass sich die Dinge auch in schwierigen Zeiten zum Besseren wenden können, macht die Magie des Fortschritts aus.
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