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Blick von außen Wie in den USA auf die künftige deutsche Außenpolitik geschaut wird

Die Henry Kissinger zugeschriebene Frage »Wen muss ich anrufen, wenn ich etwas von Europa will« hat eine neue Variante bekommen. In diesen Tagen fragen sich manche in Washington, wen sie künftig in Deutschland anrufen sollen, wenn es um wichtige globale Themen geht, vor allem in der Sicherheits- und Außenpolitik. Und: wer künftig welche Entscheidungen darüber treffen wird. Denn der Abgang von Angela Merkel bedeutet auch hier eine Zäsur.

Trotz der ihr nachgesagten Kompromissbereitschaft und ihrer Sowohl-als-auch-Politik gab es bei Merkel einige große außenpolitische Linien, die für Partner wie Gegner berechenbar waren. Sei es ihre Überzeugung, dass es eine gemeinsame Wertegemeinschaft mit den USA gibt und deshalb die Notwendigkeit enger transatlantischer Beziehungen; sei es ihre kritische, wenn auch dialogbereite Haltung zu Russland; sei es ihre große, vor allem handelspolitisch bestimmte Nähe zu China; sei es ihre unbestrittene und herausragende Führungsrolle in Europa. Diese Kerninhalte der merkelschen Rolle, aus dem Kanzleramt vorgedacht und implementiert, stehen jetzt auf dem Prüfstand.

Der Abgang der Kanzlerin schafft aus der Sicht Washingtons ein Vakuum, das die drei neuen deutschen Koalitionspartner ausfüllen müssen. Allen voran muss Olaf Scholz, der im Ausland bisher nur in der Finanzpolitik einem kleinen, eher elitären Kreis von Kolleg/innen und Expert/innen bekannt ist, dem Rest der Welt, vor allem aber den USA und Frankreich, deutlich machen, wie und wo sich Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik zukünftig engagieren und positionieren wird.

Präsident Joe Biden, der innenpolitisch massiv unter Druck steht, wird von der neuen Berliner Regierung schnelle Antworten auf all die Fragen erwarten, die unter Merkel aus US-Sicht nie beantwortet wurden oder ungelöst blieben. Deren Liste ist lang. Sie beginnt mit der seit Langem strittigen Frage nach dem künftigen Verteidigungsbeitrag Deutschlands innerhalb der NATO, die unter Biden zwar weniger schrill und aggressiv gestellt wird als unter seinem Vorgänger Donald Trump, die aber nach wie vor aus amerikanischer Sicht nicht ausreichend beantwortet worden ist.

In der Debatte um eine ausgeglichene Lastenteilung zwischen den europäischen NATO-Partnern und den USA geht es inzwischen mehr um die Steigerung des deutschen Verteidigungsbeitrages per se und eine klare strategischen Ausrichtung – und weniger um die nominale Einhaltung des einst verabredeten NATO-Ziels von 2 % Verteidigungsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Dennoch ist klar, dass die deutsche Regierung sehr schnell von der US-Seite gefragt werden wird, wie sie es auch rein quantitativ mit dem strategischen Beitrag Deutschlands zur westlichen Verteidigungsallianz hält.

Weiterer ungeklärter Streitpunkt bleibt die Inbetriebnahme der Ostseepipeline Nord Stream 2. Das ist ein Projekt, das vor allem dem US-Kongress aus strategischen wie wirtschaftlichen Gründen seit Langem ein Dorn im Auge war und auch von Teilen der europäischen Partner nach wie vor sehr kritisch gesehen wird. Hier sind es vor allem Polen und die Ukraine, die vom US-Kongress in ihren Forderungen nach deutscher Kompensation für eventuell ausfallende Durchleitungsgebühren russischen Gases durch ihre Netze unterstützt werden.

Obwohl sich die Merkel-Regierung in ihrer Schlussphase nach Kräften bemüht hat, diesen Konflikt zu entschärfen, hängt vom konkreten Handeln der neuen Berliner Koalition viel ab. Sie ist hinsichtlich der Inbetriebnahme, die auch noch von einer EU-Genehmigung und einigen anstehenden Gerichtsprozessen beeinflusst werden kann, alles andere als einig. Eine politische Lösung, die zumindest die Vorbehalte der östlichen Nachbarn Polen und der Ukraine verringern würde, könnte in einer finanziellen deutschen Unterstützung des Projekts der »Drei-Meere-Initiative« liegen – eines Infrastrukturprogramms der Ostsee-, Schwarzmeer- und Adria-Anrainerstaaten. Davon würden vor allem Polen und die Ukraine profitieren. Konkret geht es dabei um den Ausbau der Nord-Süd-Infrastruktur und um die Unterstützung bei energiewirtschaftlichen Projekten, mit denen die Abhängigkeit von Russlands Öl und Gas vermindert würde. Aber es wäre eine Lösung, die Deutschland Geld kostet.

Weiteres brisantes Thema bleibt die ungeklärte Frage nach der künftigen »nuklearen Teilhabe«. Hinter diesem Begriff versteckt sich ein altes Problem: die Stationierung amerikanischer Atomwaffen auf deutschem Boden. Sie sollen im Kriegsfall mit deutschen Kampfbombern abgeworfen werden. Da die Nachfolge des überalterten nuklearwaffenfähigen Trägerflugzeuges Tornado ansteht, muss die Frage geklärt werden, ob und wie diese nukleare Abschreckung weiter aufrechterhalten werden kann.

Merkel und speziell Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer haben darauf gesetzt, die Nachfolge der Tornado-Jets durch einen möglichen Ankauf von amerikanischen F-18-Flugzeugen zu lösen. Die weitere Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden aber ist zumindest in Teilen der SPD und bei den Grünen noch immer höchst umstritten. Da die deutsche Sonderrolle der »nuklearen Teilhabe« aber Teil der gemeinsamen nuklearen Abschreckungsstrategie der NATO ist, stellt sich hier sehr schnell die Frage nach der künftigen Bündnispolitik Deutschlands innerhalb der westlichen Allianz generell. Aus US-Sicht ist es auch die Frage der Bündnisfähigkeit, im bevorstehenden neuen Dialog gibt es also hochkritische Punkte.

Dann ist da noch Frankreich. Emmanuel Macron steht im April 2022 vor schwierigen Präsidentschaftswahlen. Er will deshalb auf einem für ihn wichtigen europäischen Feld punkten: dem Aufbau einer europäischen Streitmacht als Antwort auf die bisherige amerikanische militärische Dominanz auf dem Kontinent. Da sind zwei Lieblingsprojekte des französischen Präsidenten zu nennen: die gemeinsame deutsch-französische Entwicklung eines Kampfflugzeuges und eines Panzers. Beide Rüstungsprojekte werden nicht nur den Einsatz großer Finanzmittel auch von Berlin erfordern, sondern Deutschland steht damit auch vor der Frage, inwieweit solche neuen Militärprodukte weiter exportiert werden dürfen.

Frankreich legt traditionell Wert darauf, dass es da frei und alleine für sich entscheiden kann. Das aber widerspricht schon jetzt eklatant den bereits verschärften Regeln Deutschlands für Rüstungsexporte außerhalb des Bündnisses. Und für Berlin gilt nun auch hier: Setzt die neue Regierung auf mehr europäische Integration im Militärbereich, wird sie genauso vor inneren politischen Zielkonflikten stehen wie bei einer fortgesetzten oder verstärkten Zusammenarbeit mit den USA.

Die USA erwarten klare Positionen

Außenpolitik hatte im deutschen Wahlkampf keine Rolle gespielt, aber sie wurde schon in den Koalitionsverhandlungen zu einem der zentralen Streitpunkte – und dabei gilt eine Europäisierung der Debatte immer wieder als ein möglicher interner Ausweg. So oder so jedoch: Die USA erwarten von Deutschland klare Positionen. Und die Frage wird immer wieder sein, wie ein Kanzler Scholz die Gegensätze austarieren kann: die Forderungen der Grünen nach einer mehr an den Menschenrechten orientierten Außenpolitik, vor allem mit Blick auf Russland und China; die Forderungen der FDP nach einer vernetzten Außenpolitik und nach Steuerung durch einen nationalen Sicherheitsrat im Kanzleramt; die transatlantische Skepsis bis hin zur generellen NATO-Kritik in seiner eigenen Partei.

Helfen kann eine schonungslose Analyse der bisherigen Außenpolitik – und da sind drei Lehren festzuhalten:

Erstens: Die Hoffnung, dass eine auf Wandel durch Handel setzende Politik gegenüber Russland eine zunehmende Zivilisierung, Demokratisierung und Heranführung dieses großen eurasischen Nachbarn an den Westen bewirken wird, hat sich für die Gegenwart als unrealistisch erwiesen. Hier zumindest stimmen die Analysen in Berlin und Washington überein. Eine klare Antwort, wie Putins zunehmend aggressive Einschüchterungspolitik beantwortet werden kann, steht bisher aus. Es sind vor allem die Osteuropäer, die von Deutschland eine härtere Gangart einfordern, zumindest aber eine Fortsetzung der bisherigen Sanktionen. Das Fehlen einer konsequenten Strategie fühlt immer wieder auch zu Widersprüchen im transatlantischen Verhältnis.

Zweitens: Nicht erst US- Präsident Trump hat auf die Gefahr hingewiesen, dass in China ein systemischer Gegner heranwächst. Pekings beispiellose militärische Aufrüstung im pazifischen Raum, seine global ausgreifende und aggressive Handels- und Wirtschaftspolitik, führte zwischen Deutschland und den USA unter Trump wie auch jetzt unter Biden zu einem außenpolitischen Grundkonflikt. Washington erwartet eine klarere Positionierung Deutschlands und Europas. Ob da weiteres Abwarten und parallele Entspannung in den Handelsbeziehungen als Konzept ausreichen, steht sehr infrage.

Drittens: Mit der deutlichen Hinwendung der USA zum asiatischen Raum und dem nachlassenden Engagement in Europa stellt sich vor allem für Deutschland die Frage nach der künftigen Strategie im Umgang mit den neuen Bedrohungsszenarien. Die Leitfrage dabei ist: Liegt die Antwort vor allem in einem Ansatz, wie er von Frankreich mit der Vision einer »strategischen Autonomie Europas« verfolgt wird – oder eher in einer Stärkung der NATO und einer besser abgestimmten Koordination mit den USA? Oder auch: Wie lassen sich beide Elemente in einer neuen, erkennbareren außenpolitischen Strategie Deutschlands kombinieren?

In jedem Fall bedeutet es für Berlin eher ein Mehr als ein Weniger an Aufmerksamkeit für die Außen- und Sicherheitspolitik, im Ergebnis wohl auch ein Mehr an Verteidigungsfähigkeit. Dazu allerdings scheint bisher keine der drei Koalitionsparteien wirklich bereit zu sein. Das könnte den Trend verstärken, den es bisher schon gab: lieber drum herumzureden als Position zu beziehen. Aus transatlantischer Sicht ist zu den vielen offenen Fragen jetzt eine kritische, strategische Debatte im Bundestag dringend nötig. Eine Debatte, die auch für die europäischen wie amerikanischen Verbündeten klar machen würde, wie diese neue Mehrheit ansetzen will. Eine Debatte als erster Schritt, um auf die Fragen und Erwartungshaltungen der internationalen Verbündeten konstruktive Antworten zu finden. Mit Schritt zwei dann aber auch: Die Koalition muss den Mut aufbringen diese Antworten dann auch gemeinsam zu vertreten.

Berlin braucht Washington weiterhin als strategischen Partner, aber auch die Regierung Bidens braucht ein klares deutsches Bekenntnis zur transatlantischen Gemeinschaft. Deutschlands Freunde in den USA befürchten, dass wenn dieses Signal ausbleibt die sowieso schon gefährdete Unterstützung der amerikanischen Demokraten und des Kongresses für die Politik des US-Präsidenten noch weiter abnimmt. Auch Europas Umgang mit Biden könnte so zu einer zweiten Amtszeit Trumps beitragen. Für Sicherheit und Stabilität wäre das eine Katastrophe. Schon von daher muss es ein Interesse an einer engen Kooperation und Abstimmung mit Washington geben. Dazu gehört offener und konstruktiver Dialog, der Kritik an den USA, zum Beispiel zum Abzug aus Afghanistan, selbstverständlich einschließt.

In allen Berliner Koalitionsparteien gibt es versierte Außenpolitiker, die die USA gut kennen und darin übereinstimmen, dass jetzt ein neues Kapitel in unseren Beziehungen aufgeschlagen werden muss. Es kommt sehr darauf an, wie ernst sie genommen werden und welche Resonanz sie haben – in einem Land, das sich von außenpolitischen Themen inzwischen gerne abwendet. Geben wir Ihnen eine Stimme und die Chance, etwas durchzusetzen. Nur dann kann die neue Regierung auch außen- und sicherheitspolitisch erfolgreich handeln.

1487 Rüdiger Lentz Rüdiger Lentz ist Journalist und Außenpolitikexperte. Er hat von 2013 bis 2020 das deutsch-amerikanische Aspen Institute in Berlin geleitet. Er war unter anderem Militärkorrespondent des Spiegel , ARD-Kommentator, Chefredakteur von Rias-TV und langjähriger Auslandskorrespondent der Deutschen Welle in Brüssel und Washington. ruediger.lentz@berlindialogue.de

 

 

Klaus-Jürgen Scherer Jetzt geht’s los

Vor 50 Jahren passierte etwas, das damals ungewöhnlich war – und sich auch später nicht mehr wiederholte. Zwei Jahre nach Bildung der sozialliberalen Reformkoalition mit Walter Scheel und sieben Tage, nachdem Bundeskanzler Willy Brandt der Friedensnobelpreis zugesprochen worden war, präsentierte sich die FDP – inmitten dieses ungeheuren Aufbruchs in der Ost- und Entspannungspolitik, der Bildungsreform, der Emanzipation und Demokratisierung – einen historischen Moment lang als Kraft eines reformorientierten sozialen Liberalismus.

Zuvor war sie eine Partei des alten Mittelstandes gewesen, nationalliberal mit fließenden Übergängen nach rechts. Später, mit dem »Lambsdorff-Papier« und dem Koalitionswechsel 1982 weg von der SPD, präsentierte sie sich meistens als marktradikale Speerspitze des Neoliberalismus. Doch 1971 verabschiedete die FDP auf ihrem Freiburger Parteitag die gleichnamigen »Thesen« und wählte sogar den geistigen Wortführer dieses Sozialliberalismus, Karl-Hermann Flach, zum Generalsekretär.

Zufällig genau am 50. Jahrestag der Freiburger Thesen, dem 27. Oktober 2021, startete die entscheidende Phase der Koalitionsverhandlungen in den Arbeitsgruppen über ein Ampelbündnis zwischen SPD, Grünen und FDP. Das hätte den Liberalen Anlass sein können zu großer Feier und Rückbesinnung auf diese Tradition. Doch es war nur Olaf Scholz, der schon am Tag nach der Bundestagswahl die historische Parallele beschwor: »Es hat in Deutschland eine sehr erfolgreiche sozialliberale Koalition gegeben, von 1969 bis 1982, die übrigens auch aus einer großen Koalition hervorging (…) Jetzt gewissermaßen eine sozial-ökologisch-liberale Koalition zu bilden, hat also Grundlagen in der Geschichte der Regierungstätigkeit in Deutschland.«

Von Christian Lindner gab es zum Gedenktag lediglich einen kleinen Gastkommentar in der Welt , in dem es ziemlich ambivalent hieß: »›Freiburger Thesen‹ sind als Programm legendär. Weniger für ihren Wortlaut, sondern für die Zeit, in der sie entstanden sind, und für den Mut unserer Partei.« Geschichte also, nicht Gegenwart. Dem heutigen FDP-Vorsitzenden war sein Privatleben wichtiger. Er wandte sich an jenem 27. Oktober 2021 mit seiner Freundin, der RTL-Reporterin Franca Lehfeldt, an die Medien und teilte mit, dass die beiden sich vor Kurzem verlobt haben und das Paar bald heiraten möchte.

Nun sind glückliche und gutgelaunte Politiker nichts Schlechtes. Doch sollten derart »tolle Neuigkeiten« (der Kölner Express ) nicht das Vergessen fördern. Und die grundsätzliche Frage ist ja noch offen, ob die sich zusammenfindende Ampel nur ein ungeliebtes Zweckbündnis mangels Alternative bleibt oder ob sich jetzt eine gemeinsame sozialökologisch-liberale Erzählung herausbildet. Dabei müsste sich die FDP »in den entscheidenden Fragen unserer Gesellschaft als Motor und nicht mehr als Bremser« verstehen. So hieß es jedenfalls damals, 1972, in dem auflagenstarken rororo-aktuell-Bändchen zu den Freiburger Thesen von Karl Hermann Flach, Werner Maihofer und Walter Scheel.

Die Thesen beschäftigten sich vor allem mit vier Themenbereichen: Eigentumsordnung, Vermögensbildung, Mitbestimmung und Umweltpolitik. Sie lesen sich streckenweise wie eine denkbare Grundlegung der heutigen Ampel, falls es ihr um mehr geht als um ein Machtbündnis. Um eine gesellschaftliche Innovations- und Investitionsoffensive zum Beispiel. In der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung zumindest scheint man da etwas zu ahnen. Es gehe jetzt um »ein umfassendes Konzept der Nachhaltigkeit – von der Ökologie über Technologie und Wirtschaft bis hin zum Staatshaushalt«, heißt es dort.

Wie wäre es da mit einem ernsthaften Blick in die eigene Geschichte? Besonders die frühe Aufnahme der ökologischen Frage schon in den FDP-Thesen von 1971, noch Monate vor Erscheinen des Berichts des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums, war eine echte Pioniertat. Keine andere Partei hatte damals – obwohl Willy Brandt bereits 1961 vom »blauen Himmel über der Ruhr« gesprochen hatte – diesen Programmpunkt derart klar auf dem Schirm, selbst die frühen Warnungen eines Erhard Eppler entstanden später ( Ende oder Wende , 1975). Umweltschutz mit Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen, Ausrichtung jeder Entscheidung der Öffentlichen Hand oder Wirtschaft an der Berücksichtigung ökologischer Gesichtspunkte: Es war der Anstoß zu einer Debatte, die später in der SPD und von den neu entstehenden Grünen fortgeführt wurde.

Freiheit bedeutet auch Schaffung von Bedingungen

Liberalismus wird in den Freiburger Thesen nicht mehr auf den reinen Abwehrkampf gegen einen übermächtigen Eingriffsstaat verengt, sondern diese »negative« Freiheit wird ergänzt durch die »positive« Freiheit der Schaffung von Bedingungen, die erst ein erfülltes selbstverantwortliches Leben ermöglichen. Sie wird verstanden nicht nur als Garantie gegenüber dem Staat, sondern als soziale Chance in der alltäglichen Wirklichkeit der Gesellschaft. Politische Freiheitsrechte können sich eben nur gemeinsam mit sozialen und ökologischen Bürgerrechten entfalten: Später waren es nur noch SPD und Grüne, die sich diesem Gedanken verpflichtet fühlten.

Das Prinzip der Demokratisierung aller Lebensbereiche, wie im Godesberger Programm der SPD (1959) zur Leitidee erhoben, klingt in den Freiburger Thesen ähnlich. Nach dem Grundsatz »Die Gesellschaft sind wir alle!« steht der Liberalismus danach für die Demokratisierung der Gesellschaft durch größtmögliche und gleichberechtigte Teilhabe aller an der durch Arbeitsteilung ermöglichten Befriedigung der individuellen Bedürfnisse und Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten. Er tritt ein für entsprechende Mitbestimmung an der Ausübung der Herrschaft in der Gesellschaft, die zur Organisation dieser arbeitsteiligen Prozesse erforderlich ist.

Und: Dieser später wieder untergegangene Sozialliberalismus fordert Liberalität und Demokratie auch in der Sphäre der Gesellschaft – wie zuvor in der Sphäre des Staates. Aus dem gleichen revolutionären Gedanken der Menschenwürde und Selbstbestimmung heraus, um den alle Verwandlung schon des unfreiheitlichen Obrigkeitsstaates in einen freiheitlichen Rechtsstaat sich drehte, führt das zu einer grundlegenden Veränderung des überkommenen unfreiheitlichen Ständestaates oder Klassenstaates hin auf einen freiheitlichen Sozialstaat.

Selbst von einer Reform des Kapitalismus – also gerade nicht die ab 1982 wieder von der FDP vorangestellte neoliberale Entfesselung aller Marktkräfte – ist in den Freiburger Thesen die Rede: Diese liberale Reform des Kapitalismus zielt auf die Aufhebung der Ungleichgewichte des Vorteils und der Ballung wirtschaftlicher Macht, die aus der Akkumulation von Geld und Besitz und der Konzentration des Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen folgen.

Der wirtschaftsliberalen Ideologie, dieses Eigentum für sakrosankt zu erklären und damit den Staat und seine Steuereinnahmen als Korrektiv des Kapitalismus zu verteufeln, erteilen die Freiburger Thesen eine Absage: Das Recht auf freie Verfügung des Einzelnen über sein Eigentum und auf seinen persönlichen oder beruflichen Gebrauch müsse eine Grenze finden, wo dies zu unangemessenen und unverhältnismäßigen Einschränkungen der Freiheit anderer oder zu einer Beeinträchtigung des Wohles der Allgemeinheit führt.

Die Konsequenz: Wo diese Sozialbindung des Eigentums als moralische Forderung an den verantwortlichen Eigentümer in der alltäglichen Wirklichkeit unwirksam bleibe, setzen die Freiburger Thesen darauf, dass der Verfügungsmacht über Eigentum durch Gesetz Grenzen gesetzt werden. Wo die Verfügungsgewalt über Eigentum an Produktionsmitteln zur Herrschaft über Menschen führt, setzen die Thesen auf demokratische Kontrolle durch Mitbestimmung.

Das alles war eine Grundlegung für die kurze sozialliberale Zeit, gedacht durchaus als längerfristige Orientierung für eine – damals – neue FDP-Politik. Damit atmen die Freiburger Thesen den Geist eines im weiteren Sinne sozialdemokratischen Denkens, für das bereits Eduard Bernstein in der alten, noch marxistischen Arbeiterbewegung gestritten hatte und das sich in der SPD Ende der 50er Jahre durchgesetzt hatte: Man könne sich weder mit »pauschaler Kritik« noch mit »pragmatischen Reformen« (gemeint sind symbolische, oberflächliche Reformen) des Kapitalismus begnügen. Auch der soziale Liberalismus sieht die Zukunft der westlichen Industriegesellschaften und Massendemokratien nicht in einer Liquidation, sondern in einer wirklichen Reform des Kapitalismus.

Und die Lehre bis heute? Manches klingt plötzlich wieder hochaktuell. Revolution oder ein Weiter-so sind keine ernsthaften Alternativen. Nachhaltige Politik in Verantwortung vor kommenden Generationen verlangt die Reform des neuen globalisierten und digitalisierten Kapitalismus, d. h. dessen Regulierung, Gestaltung oder Einhegung mit dem Ziel des sozialverträglichen und technologischen Umbaus allen Wirtschaftens, Arbeitens und Lebens. Nicht, um die Marktdynamik abzuschaffen, wohl aber um sie umzulenken, damit sie beitragen kann zur investiven Problembearbeitung der sich zuspitzenden Klimakrise.

Dies unterstrichen jüngst auch die Ökonomen Joseph E. Stiglitz und Adam Tooze, die angesichts der europäischen und globalen Herausforderungen »große Investitionen der öffentlichen Hand von zentraler Bedeutung« für notwendig halten – und nicht eine Rückkehr zu einem Sparkurs, wie er in der heutigen FDP als »vorsintflutliche haushaltspolitische Agenda« immer noch kursiere. Ohne diesen neoliberalen Irrweg könnte sich die Ampel für die Jahrhundertaufgabe der sozialökologischen Modernisierung als wirkliche Chance erweisen, zumindest für Deutschland und Europa. Die Freiburger Thesen heute neu zu lesen: Das kann Brücken bauen und Anstöße geben.

 

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