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Bücher zum Notstand im Gesundheits- und Pflegesystem Blutige Entlassung

Gleich drei Buchautoren, die Anästhesieschwester Franziska Böhler, der Herzchirurg Umeswaran Arunagirinathan und der renommierte Orthopäde Martin Marianowicz bescheinigen dem deutschen Gesundheitssystem, es sei krank und mache krank. Über Fachgrenzen und Hierarchien hinweg rücken sie zwei Problemfelder in den Blick: Die problematischen Folgen der Vergütung von Krankenhausleistungen anhand von Fallpauschalen und gravierende Mängel im Bereich der Pflege, die sich schon vor der Coronakrise zu einem teils existenzbedrohenden Pflegenotstand verschärft haben.

Aus Patientensicht führt dies zu verstörend widersprüchlichen Erfahrungen: Auf einen Notruf hin eilen binnen Minuten kompetente und tatkräftige Rettungskräfte herbei, die noch vor und während des Transports zur Klinik erste Untersuchungen und Behandlungen vornehmen, während in der Notaufnahme der Klinik erfahrene Notfallmediziner und modernste Untersuchungstechniken zur lebensrettenden Behandlung bereitstehen.

Einmal gerettet und auf eine Fachstation überstellt aber scheint mit der abnehmenden Zahl von Schläuchen und Kabeln, die den Patienten an die Klinik binden, auch das medizinische Interesse an ihm zu schwinden, bis er oft unvorbereitet aus laufender Therapie heraus, schwer traumatisiert und mit unverheilten OP-Wunden – wie es so schön heißt: »blutig« – entlassen wird.

Von ihm unbemerkt und begriffen hat der Sozialdienst der Klinik schon Vorarbeit in Hinblick auf die notwendige ambulante Nachsorge und Pflege geleistet, die man eigentlich vom Krankenhaus selbst erwartet hätte. Vor allem ältere Patienten erleben dies als weiteres Trauma und können in ihrem geschwächten Zustand mit all den Medikamenten und Verbandsmaterialien, die man ihnen mitgibt, oft ebenso wenig anfangen wie mit dem mehrseitigen Arztbrief, der ihnen von einer abgehetzten Ärztin überreicht worden ist.

Dieser Arztbrief fasst die Diagnose, Verlaufsgeschichte und Empfehlungen für weitere Behandlungen, Untersuchungen und vor allem Medikamente zusammen und reicht so gewissermaßen den medizinischen Schwarzen Peter an die zuständige Hausarztpraxis weiter, die nun ambulant, mit Unterstützung von Angehörigen und Pflegediensten all das leisten soll, was dem Krankenhaus zu teuer käme. Geht es dabei aufs Wochenende zu oder ist die Hausarztpraxis gar wegen Urlaubs geschlossen, braucht man auf die nächste Notfalleinlieferung nicht lange zu warten.

Überversorgung

Dieser fatale Bruch zwischen Intensivmedizin und Heilung ist das Ergebnis jahrzehntelanger Bemühungen, die Krankenversorgung zu optimieren. Das hat zum einen zu einem rasanten Zuwachs an Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten, aber auch an Kosten geführt, zum anderen zu Bemühungen um Kostenbegrenzung.

Laut Martin Marianowicz wird in Deutschland im europäischen Vergleich zu viel Geld für zu wenig erfolgreiche Behandlungen ausgegeben: »Unter Ärzten grassiert der Satz: Es gibt nicht zu wenig Kranke, nur zu wenig ausreichend Untersuchte. Die Apparatediagnostik ist der Anfang einer fatalen Überversorgungskette, denn sie liefert eine erhöhte Diagnoserate auch nicht therapiebedürftiger Krankheiten, weil keine Beschwerden da waren und vielleicht auch nie relevant geworden wären oder die Beschwerden überhaupt nicht mit der Ursache korrelieren.«

Nicht nur im eigenen Fachbereich, sondern auch in der Herzchirurgie sieht der Orthopäde einen Trend, der überflüssige Operationen und Kosten verursacht: »Der Arzt rät im Beschwerdefall zu einer Herzkatheteruntersuchung«, führt er aus und beschreibt dann eine Situation, die an Nötigung grenzt: »Der Patient gerät in Panik – mehr als verständlich angesichts der hohen Todesrate bei Herz/Kreislauf-Erkrankungen. Eine ungünstige Behandlungskaskade kann ihren Lauf nehmen, weil Diagnose und Therapie in einen Prozess verschmelzen. Denn das Diagnoseverfahren kann, wenn sich eine Verengung der Gefäße zeigt, sofort in eine drastische Therapiemaßnahme führen, weil der Spezialist in einem Aufwasch und unter vorherigem schriftlichem Einverständnis des Patienten einen oder mehrere Stents setzt – ohne vielleicht zuvor konservative Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft zu haben.«

Unter massiven Druck ärztlicher Kompetenz geraten Patienten schon bei Visiten, bei denen sie den kritischen Blicken ganzer Gruppen von Fachärzten unter der Regie ihres Chefs standhalten müssen. Dort ein externes Zweitgutachten zu fordern, dürfte schwerfallen – und schwerer noch, wenn man selbst ein akuter Notfall ist.

In Hinblick auf sein eigenes Fachgebiet schreibt Marianowicz: »Die chirurgische Ausrichtung der Orthopädie und Wirbelsäulenbehandlung drängt klassische Heilberufe wie den des Physiotherapeuten immer mehr in den Hintergrund. Ein Schaden für die konservative Therapie!«

Fallzahl und Gewinn

Den größten Schaden aber hat auch für Franziska Böhler und Umeswaran Arunagirinathan das veränderte Abrechnungssystem der Kliniken angerichtet – die sogenannten Fallpauschalen, englisch Diagnose Related Groups (DRG). Bezahlt werde nunmehr, so Marianowicz, »nicht mehr wie früher nach Behandlungszeitraum oder Leistungsaufwand, sondern nach Behandlungsfall«. Und das bedeutet: je mehr »Fälle«, desto höher die Vergütung. Und umgekehrt: je umfangreicher der zeitliche Aufwand der Behandlung und je länger die Verweildauer des »Falles«, desto geringer der Gewinn.

Fallpauschalen führen nicht nur zu den erwähnten »blutigen« Entlassungen und der Auslagerung von Heil- und Pflegeleistungen, sie legen den Ärzten zudem Scheuklappen an. Arunagirinathan schreibt: »Wenn ich zum Beispiel einen älteren Patienten habe, der eine neue Herzklappe erhalten soll und bei dem ich einen auffälligen Befund in der Leber feststelle – dann kann ich dafür nichts unternehmen. Ich bin ja ausschließlich für die Herzchirurgie zuständig, ich darf nichts abrechnen, was internistisch wäre oder ein Fall für die Onkologie. Also erledige ich die Herz-OP und entlasse den Patienten nach sieben Tagen nach Hause. Natürlich empfehle ich ihm, dass er den auffälligen Befund abklären lassen sollte. Dann spricht er hoffentlich mit seinem Hausarzt darüber, der überweist ihn wieder ins Krankenhaus.«

Auf die Spitze getrieben verwandelt sich das Leben »polymoribunder«, also an verschiedenen Krankheiten leidender Patienten in eine traumatische Abfolge einzelner, medizinethisch fragwürdiger Notfallbehandlungen. Arunagirinathan kommentiert: »Ja, so fangen wir als Medizinstudenten an, mit dem Wunsch, zu helfen und dem Individuum die richtige Behandlung angedeihen zu lassen, und zwar die genau zu ihm und seiner Krankheit passende. Die streng codierten Fallpauschalen kehren dieses Prinzip aber um, sie verhindern eine Individualtherapie geradezu.«

Die Misere der Pflege

Was nottut, ist ein ganzheitlicher Ansatz, der operative und konservative Therapie, Intensiv- und Apparatemedizin sowie Heilung und Pflege nicht gegeneinander ausspielt oder hierarchisiert. So schreibt Arunagirinathan in Hinblick auf die Krankenpflege: »Die Schwestern haben einen weiteren Blick, sie sehen den Patienten in einem umfassenderen Sinne als häufig wir Ärzte. Sie merken oft sehr früh, dass sich jemand auf den Weg macht, um diese Welt zu verlassen.«

Doch im Bereich der Pflege gibt es einen großen Unterschied zwischen Klinik- und Heimpersonal, den Franziska Böhler zunächst auf den Umstand zurückführt, dass Menschen im Krankenhaus »möglichst wieder gesund« und entlassen werden sollen, während das Pflegeheim für seine Insassen in der Regel »die letzte Station« sei. Doch sie weist auch darauf hin, dass in Deutschland 400.000 jüngere und jüngste Menschen unter 59 Jahren pflegebedürftig seien, darunter mehr als 15.000 Kinder unter 15 Jahren. Von den 2017 insgesamt über 3,4 Millionen pflegebedürftigen Menschen würden 70 %, also rund 2,5 Millionen, zu Hause von Angehörigen gepflegt. Während Böhler im Bereich der Pflegeberufe eine zunehmende Entprofessionalisierung durch massenhaft eingestellte, teils nur wenige Wochen lang angelernte Hilfskräfte beklagt, droht Millionen von pflegenden Angehörigen neben einer unzureichenden Altersversorgung wegen ihres stark eingeschränkten Berufslebens am Ende auch der gleitende Übergang von der Pflegetätigkeit in die eigene Pflegebedürftigkeit.

Kommen zur Pflegebedürftigkeit dann noch Krankenhausbehandlungen samt den hier beschriebenen Problemen bei der ambulanten Nachsorge blutig entlassener Patienten hinzu, dann potenzieren sich die Belastungen in einem Maße, das eine weitere familiäre Betreuung oft unmöglich macht. Hinter dem Ausdruck Pflegenotstand verbergen sich zahllose Tragödien, die vermeidbar wären oder sich abmildern ließen, wenn die Menschen, die unser Gesundheits- und Pflegesystem – egal ob professionell oder privat – aufrechterhalten, besser honoriert würden.

Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern auch darum, ihr Engagement als Vorbild für das eigene Handeln zu verstehen. Umeswaran Arunagirinathan, der als Jugendlicher von seiner Mutter nach Deutschland geschickt wurde, um sich dort ein Medizinstudium zu verdienen, äußert sich erschüttert darüber, dass es in Deutschland Patientinnen gebe, die mehrere Kinder, aber keine Besucher haben: »Ich finde es bedrückend, wenn ich sehe, wie die Verantwortung für den Nächsten am liebsten an den Staat oder eben an uns delegiert wird.« Leider bestätigt die Coronakrise gerade auch, dass es noch immer zu viele Querköpfe gibt, für die Verantwortung ein Fremdwort ist.

Umes Arunagirinathan: Der verlorene Patient. Wie uns das Geschäft mit der Gesundheit krank macht. Rowohlt Polaris, Hamburg 2020, 224 S., 16 €. – Franziska Böhler/Jarka Kubsova: I'm a Nurse: Warum ich meinen Beruf als Krankenschwester liebe – trotz allem. Heyne, München 2020, 256 S., 12,99 €. – Martin Marianowicz: Die Gesundheitslüge: Risiken und Nebenwirkungen eines kranken Systems. Gräfe und Unzer, München 2020, 192 S., 19,99 €.

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