Wohl keine andere Partei hat in diesem Wahlkampf eine derartige Achterbahnfahrt erlebt wie die Grünen. Angesichts der arithmetischen wie auch politischen Unwahrscheinlichkeit einer rot-rot-grünen Koalition hatte sich die Partei in den letzten Jahren immer mehr der CDU angenähert und war am Ende klar auf Schwarz-Grün gepolt – ja zeitweilig sogar, mit dem Aufkommen von Fridays for Future und dem parallelen Niedergang der SPD, auf Grün-Schwarz. Doch entgegen der Hoffnung auf eine grüne Kanzlerin landen die Grünen am Ende aller Voraussicht nach nun in einer Konstellation, die noch vor wenigen Monaten als schier unmöglich erschien: in einer Ampelkoalition unter Führung von Olaf Scholz.
Es waren die gewaltigen Fehler der Union, aber auch die der Grünen, die die Rechnung von Olaf Scholz am Ende aufgehen ließen: dass das durch den Abgang Angela Merkels erzeugte Vakuum in den Augen der Bevölkerung am stärksten durch den Finanzminister und Vizekanzler gefüllt werden würde. Durch das Versagen von Armin Laschet und Annalena Baerbock erfolgte die Reanimation einer längst – und ausgesprochen voreilig – totgesagten SPD.
Aus Sicht der Grünen steht diese Wahl somit auch für das Verspielen einer bisher einzigartigen Macht- und Gestaltungschance. Zwar hat die Partei mit 14,8 % ihr bisher bestes Ergebnis auf Bundesebene, die 10,7 % von 2009, klar übertroffen. Doch gemessen an dem, was möglich war, ist der Wahlausgang für sie eine herbe Enttäuschung.
Kandidatenpräferenz schlägt Parteienpräferenz
Die Grünen hatten zwei zentrale Ziele: erstens, deutlich über 20 % der Stimmen zu erzielen und damit, zweitens, die SPD als dominierende Kraft der linken Mitte abzulösen, wenn nicht sogar die Kanzlerin zu stellen. Im Ergebnis haben sie beide Ziele klar verfehlt. Damit haben sie die historische Chance verspielt, eine konsequente Klimapolitik durchzusetzen, der nun in der absehbaren Dreierkonstellation mit der FDP massive Widerstände entgegenstehen werden.
Mit dem Abgang Angela Merkels war die Wahl nach 16-jähriger Dominanz und dem dadurch entstandene Vakuum an der Spitze hochgradig personalisiert. Anders als in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik war die Kandidatenpräferenz weit entscheidender als die Parteipräferenz. Daher sind die Grünen an zweierlei gescheitert: erstens, an ihrer eigenen Spitzenkandidatin, genauer an deren aufgehübschtem Lebenslauf und dem in Teilen abgeschriebenen Buch, und, damit einhergehend zweitens – und dramatischer noch für ihre Politik –, an dem allein von den Baerbock-Grünen erhobenen Anspruch auf grundsätzliche ökologische Erneuerung.
»Bereit, weil Ihr es seid«, lautete der zentrale grüne Wahlkampfslogan. Die große Mehrheit der Bevölkerung war jedoch zu einer ökologischen Erneuerung durch eine völlig regierungsunerfahrene Kandidatin im Kanzleramt nicht bereit. Offensichtlich wurde Annalena Baerbock nach ihren Pannen die erforderliche Krisentauglichkeit nicht mehr zugeschrieben.
Gegenmodell Baerbock
Dabei hatte die 40-Jährige ja ganz bewusst als das Gegenmodell zu den »älteren weißen Männern« Laschet und Scholz kandidiert. An ihrem Scheitern zeigt sich: Es ist ein schmaler Grat zwischen Hoffnung und Hybris – zumal für eine, die – anders als Robert Habeck – nie ein Regierungsamt innehatte und außer grüner Parteipolitik und knapp acht Jahren im Parlament beruflich wenig vorzuweisen hat.
Zur Erinnerung: Der einzige solitäre Spitzenkandidat, den die Grünen je hatten, war 2002 Joschka Fischer – und dieser war da bereits vier Jahre lang Außenminister und zuvor langjähriger Fraktionschef gewesen. Dabei ging es bei seiner Kandidatur nur um die Rolle eines starken Juniorpartners an der Seite der SPD. Diesmal aber ging es um die Krone der Politik, das Kanzleramt, und folglich in Fischers Worten in die »Todeszone«. Dieses Wissen haben Baerbock und ihre Parteistrategen sträflich ignoriert.
Dabei spielten die Ereignisse dieses Sommers den Grünen eigentlich in die Hände. Die Flutkatastrophe wie auch die verheerenden Brände in weiten Teilen Europas und der USA hätten die Partei normalerweise in neue Höhen katapultieren müssen – zumal Klimapolitik als Wahlkampfthema bei den Umfragen stets ganz oben rangierte. Doch faktisch wurde es ob der Pannen von Baerbock dann eben gerade nicht die von den Ereignissen dieses Jahres her durchaus mögliche Klimawahl.
Für die Grünen nahm der für dieses Jahrzehnt so entscheidende Wahlkampf zunehmend tragische Züge an. So erlebte die grüne Spitzenkandidatin infolge ihrer Anfängerfehler gleich zu Beginn der Kampagne einen Absturz in den Umfragewerten, der an das Schulz-Phänomen vor vier Jahren erinnerte. Und trotzdem machten die Gegner der Grünen in Medien und Wirtschaft mit aller Brutalität gegen die Kandidatin Front – und brachten damit zugleich zum Ausdruck, wie sehr sie eine grüne Kanzlerin fürchten.
Zunächst stellte die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM) Baerbock mit großen Anzeigen in diversen Tageszeitungen an den Pranger. Durch die Darstellung der Kandidatin in Moses-Pose inklusive Steintafeln mit den »zehn Verboten« sollte das Bild der ewigen grünen Verbotspartei evoziert werden. Und danach legte mit dem Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall einer der Hauptsponsoren der INSM umgehend nach: »Das Grünen-Wahlprogramm ist Sozialismus pur«, verkündete Stefan Wolf, im »Nebenberuf« Vorstandsvorsitzender des Automobilzulieferers Elring-Klinger AG, im Interview mit Der Welt.
Das aber ist angesichts der neuen Generation Baerbock eine regelrecht absurde Dämonisierung. Denn diese ist eher hyperpragmatisch und alles andere als sozialistisch geprägt. Was die Baerbock-Habeck-Grünen vorschlagen, ist von Radikalismus denn auch weit entfernt. Ihnen schwebt ausweislich ihres Wahlprogramms und des Buches von Baerbock gerade nicht die »klare Kante« vor, sprich: harte Konfrontation mit der auf fossilen Brennstoffen basierenden Ökonomie im Stile eines Jürgen Trittin, sondern vielmehr eine »kooperative Wirtschaftspolitik«. Zu diesem Zweck plädiert Baerbock für einen »Pakt mit der Wirtschaft«. Demzufolge werden den Unternehmen Kosten ausgeglichen, die diese zusätzlich erbringen müssen, um klimaneutral zu werden. Dafür schließt der Staat mit den Unternehmen langfristige Verträge ab, mit Laufzeiten von 15 bis 20 Jahren, in denen er ihnen die Übernahme aller Mehrkosten beim ökologischen Umbau garantiert. Auf diese Weise soll ein Anreiz zur Umstellung der Produktion auch für jene Unternehmen geschaffen werden, bei denen die Transformationskosten deutlich über den Einsparungen durch CO2-Reduktion liegen. Für diesen Pakt würde der Staat tief in die Tasche greifen müssen – nicht zuletzt zugunsten der Metallbranche, die im Wahlkampf so aggressiv gegen Baerbock agierte.
Für ihre eher wirtschaftsfreundliche Position im Sinne einer »Versöhnung von Ökonomie und Ökologie« erntete die Parteispitze prompt massive Vorwürfe, insbesondere seitens der jungen Parteimitglieder, die zugleich Fridays for Future nahestehen. Sie attackierten scharf den von der Grünenspitze festgelegten Preis von 60 Euro für eine Tonne CO2 – mit dem durchaus richtigen Argument, dass auch dieser nicht die erforderliche Begrenzung der Klimaerwärmung auf 1,5 Grad garantiere.
Die Grünen saßen also in diesem Wahlkampf zwischen allen Stühlen, sprich: Sie konnten es keinem recht machen. Und genau das Gleiche gilt für die Zeit nach der Wahl: Den einen sind sie viel zu harmlos, den anderen bereits zu radikal. Mit der absehbaren Ampelkoalition lautet daher die grüne Gretchenfrage: Wie viele Kompromisse können die Grünen mit FDP und SPD eingehen, ohne ihren eigenen Markenkern zu verraten?
Ampel ohne Alternative
Erschwerend für die Grünen kommt zweierlei hinzu: Es gibt – nach dem krachenden Scheitern von Armin Laschet wie auch von Rot-Grün-Rot – faktisch keine wirkliche Alternative zur Ampelkoalition. Sie können also nicht den Preis hochtreiben. Und: Bei Olaf Scholz gab es von Beginn an eine Präferenz für die Ampel. Schließlich signalisiert der Erfolg seines Wahlkampfes keineswegs den Willen der Bevölkerung zu einer grundlegenden Veränderung oder gar zu einer radikalen Zäsur, sondern weit eher eine bloß partielle Wende neben einem gepflegten Weiter-so, getreu der Devise: keine Experimente. Am Ende wurde Olaf Scholz auch gewählt, weil er merkeliger war als seine beiden Konkurrent/innen.
Hier aber zeigt sich das ganze grüne Dilemma: Was heute erforderlich ist, ist eine radikale ökologische Transformation der Industriegesellschaft. Andernfalls werden die klimapolitisch entscheidenden Jahre bis zur Mitte dieses Jahrzehnts ereignislos verrinnen. Die Hoffnungen der Grünen auf ein besseres Ergebnis sind jedoch auch an der Illusion gescheitert, in der Mehrheitsgesellschaft gäbe es einen tatsächlichen Wunsch nach fundamentaler »Erneuerung«, so Baerbocks Kernbotschaft. Doch nach bald eineinhalb Jahren Coronakrise sehnt sich die Mehrheit nicht wirklich nach Erneuerung, sondern eher nach der Rückkehr zur »Normalität« der ressourcenverschlingenden Vor-Coronazeit.
In der Theorie bejahen viele eine konsequente Klimapolitik. Kommt es dagegen zum Schwur und müssen die Leute erkennen, dass ihnen grüne Politik wirklich etwas abverlangt – etwa 16 Cent mehr pro Liter Benzin – ist die Unterstützung ganz schnell am Ende. Dabei hatten sich auch Union und SPD auf eine Erhöhung um 15,5 Cent geeinigt, aber den konkreten Betrag, anders als die Grünen, einfach nicht an die große Glocke gehängt.
In diesem Wunsch nach unbedingter Besitzstandswahrung steckt eine gewaltige Verdrängung der fatalen ökologischen Lage, die eigentlich eine weit radikalere, tatsächlich nachhaltige Politik verlangt. Eine Mehrheit der Bevölkerung lebt ganz offensichtlich noch immer weit stärker in den Konsumansprüchen der Gegenwart als im Bewusstsein der ökologischen Probleme. Man kann fast von einer Schizophrenie sprechen: Obwohl wir in diesem Flut- wie Hitzesommer die Auswirkungen der Klimakrise wieder dramatisch erlebt haben, sträubt sich die Mehrheit konsequent dagegen, die notwendigen Veränderungen auch nur zu realisieren. Und CDU/CSU wie FDP bedienen genau diese Schizophrenie, wenn sie einerseits wirksamen Klimaschutz versprechen, aber andererseits auch weiteres Wirtschaftswachstum und ein Festhalten an der schwarzen Null.
Die große Schizophrenie
Dennoch kann auch progressive Politik diese gleichermaßen schizophrene wie strukturkonservative Grundstimmung im Land nicht ignorieren – auf die Gefahr hin, ansonsten immer mehr an Zuspruch zu verspielen. Jede Aufforderung zur Veränderung muss daher zugleich mit einer sozialen Stabilitätsgarantie einhergehen.
Was dieses Land daher jetzt braucht, ist eine starke, sozial wie ökologisch konsistent agierende Koalition, die gegenüber einer offensichtlich immer politikerfeindlicheren »Zivilgesellschaft« und den sie anfeuernden neoliberalen Boulevardmedien überhaupt durchsetzungsfähig ist. Dafür kommt es in der Ampel vor allem auf die ökologische Sensibilität auch der FDP an. Doch von Geschlossenheit sind die drei Parteien ihrer Programmatik nach weit entfernt. Wie es zwischen der grün-roten Forderung nach höheren Steuern sowie neuen Schulden zugunsten massiver Klima- und Infrastrukturinvestitionen und der Ablehnung all dessen durch die FDP zu einem produktiven Kompromiss kommen soll, ist momentan noch nicht absehbar.
Die kommenden schwierigen Koalitionsverhandlungen werden daher einen Vorschein davon geben, was wir von den nächsten vier Jahren zu erwarten haben – und ob es verlorene oder vielleicht doch noch gewonnene, nämlich sinnvoll genutzte Jahre werden, allen Schwierigkeiten zum Trotz. Wir befinden uns jedenfalls in einer historisch gänzlich neuen Situation: Angesichts einer Kanzlerpartei von nur 25 % muss ein weit schwächerer Kanzler als zuvor in einer Dreierkonstellation mit Fliehkräften in konträre Richtungen agieren, wie wir es bis dato nicht kannten. Die Konsequenz: Die Akteure der »zweiten Reihe«, insbesondere die beiden Vizekanzler, werden an Bedeutung gewinnen. Eines allerdings steht auch fest: Die zentrale Devise des SPD-Wahlkampfes »Auf den Kanzler kommt es an« wird nach der Wahl nicht weniger entscheidend sein als vor der Wahl.
Im besten Fall werden sich die beiden kleineren Parteien, Grüne und FDP produktiv ergänzen, unter Führung wie Moderation der Scholz-SPD. Im schlechtesten Fall werden sie sich neutralisieren, gerade was ihre konträren klimapolitischen Positionen anbelangt. Das aber wäre fatal angesichts maximaler Probleme und kommender Krisen- und Katastrophenjahre. So drohen am Ende wir alle zu Verlierern dieser Wahl zu werden.
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