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Was Generationenwechsel und Diversität für den künftigen Politikstil bedeuten Brand New Bundestag

Der aktuelle Bundestag ist so neu, jung und divers wie nie zuvor. Allein von der SPD-Fraktion zog mehr als die Hälfte der Abgeordneten zum ersten Mal in das höchste deutsche Parlament ein. 17 Prozent der SPD-Abgeordneten haben einen Migrationshintergrund – fast doppelt so viele wie in der vorherigen Legislaturperiode. 33 Prozent sind unter 40 Jahre alt – vorher waren es nur 12 Prozent.

Die historische Chance ist einmalig. Die Generation der Babyboomer hat sich aus dem Parlament zurückgezogen und Platz gemacht. Was aber bedeutet dieser »Brand New Bundestag« (so nannte sich auch im Vorfeld der Wahl eine Kampagne zur Unterstützung einzelner Kandidat/innen) für die Politik? Ist durch den Generationenwechsel auch ein Politikwechsel zu erwarten? Werden Themen wie Digitalisierung und Klimaschutz, die von Jüngeren als »ihre« Themen genannt werden, tatsächlich mehr Bedeutung bekommen? Wird sich der politische Stil ändern?

Man mag skeptisch sein angesichts der hohen Erwartungen. Denn: Einiges spricht eher gegen die Aufbruchstimmung. Die Hälfte der SPD-Mitglieder ist über 60 Jahre alt, nicht anders als bei CDU/CSU. Etwas jünger sind die Mitglieder von FDP und Grünen, Die Linke ist sogar noch älter. Das ist die Basis der Abgeordneten, egal welchen Geburtsjahrgangs: Die Jungen kommen nur dann nach oben, wenn die Alten an der Parteibasis es ihnen erlauben. Auch mehr als ein Drittel des Wahlvolkes ist über 60 Jahre alt. An ihnen kommt man nicht vorbei. Denn in einer Demokratie entscheiden nun einmal die Wählerstimmen und die demografische Entwicklung prägt auch die Definition des Gemeinwohls. Masse ist Macht.

Aus diesem Grund üben sich »die Jungen« in einem vorauseilenden Gehorsam gegenüber den Älteren, wie es die Politikwissenschaftlerin Bettina Munimus in ihrer Studie »Die latente Macht der Alten« herausgearbeitet hat: Wer jung ist und nach oben will, übernimmt die Themen der Alten und macht sich vor allem bei ihnen beliebt. Da wundert es nicht, dass viele junge Abgeordnete ausgerechnet die Rente zu ihren wichtigsten Themenschwerpunkten zählen.

Auch wer mit 30 in den Bundestag einzieht, hat oft schon knapp die Hälfte seines Lebens in der Partei verbracht. Als allgemeine Regel gilt: Nur wer schon früh bereit war, seine Zeit der Partei zu opfern, hat Chancen auf ein Mandat.

Wer in der Politik etwas werden will, muss früh anfangen. »Ein Großteil der Arbeitskapazitäten von Berufspolitikern wird von Aktivitäten, die auf die Erhaltung der eigenen Position abzielen, absorbiert«, heißt es in einer Analyse der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages von 2007 über die Rekrutierung von Abgeordneten und Politikern in Spitzenpositionen. Und diese Zeit muss man irgendwo hernehmen.

Die Lebensläufe von Spitzenpolitiker/innen gleichen sich: Eintritt in die Partei spätestens mit 16 Jahren; ein halbes Dutzend Ämter und Posten im Orts- und Kreisverband, in der Hochschulgruppe, im Unterbezirk, Bezirk und Landesverband. Ein schädlicher Ortswechsel sollte möglichst vermieden werden, denn danach muss man sich erst wieder neu seine Meriten erwerben, es sei denn, man wechselt in die jeweilige Landeshauptstadt oder nach Berlin, dies jedoch mit dem alleinigen Ziel, den Kontakt zu den dortigen Parteispitzen zu pflegen und somit auch die eigene Karriere zu pushen.

Ideal ist ein Job in der Partei, z. B. als Büroleiter/in oder Social Media Referent/in oder auch im parteinahen Umfeld bei einer Gewerkschaft. Dann hat man schon von Berufs wegen die Zeit, sich intensiv mit der Partei zu befassen und den nötigen Stallgeruch aufzunehmen. Alternativ arbeitet man im öffentlichen Dienst, wo die Beurlaubung für den Wahlkampf und die Rückkehr in den bis zur Pension sicheren Job problemlos möglich sind. Man wartet nur auf den richtigen Moment – den Abgang des/der alteingesessenen Abgeordneten – und ist für die Nachfolge prädestiniert. Ein Leben außerhalb der Parteiblase kennt man dann allerdings nicht.

Der Politikwissenschaftler Wolfgang Rudzio schrieb 2018, über 87 Prozent des politischen Spitzenpersonals hätten einen solchen Karrierepfad mit einer »zeitlich langen und intensiven Bewährungsphase« oder einer »reinen Polit-Karriere« durchlaufen. Bei vielen der neuen Abgeordneten ist das nicht anders, auch wenn es manche Quereinsteiger/innen gibt.

Eine solche Biografie spricht indes nicht zwangsläufig gegen die Kompetenz. Eine gewisse Tuchfühlung mit Parteibasis und Wählerschaft gehört aus guten Gründen zu den Erfolgsfaktoren im politischen Handwerk. Je länger und intensiver die Ochsentour aber ist, desto mehr schließt sie Menschen aus, die diese Kapazität nicht aufbringen können – und das sind nahezu alle Berufsgruppen außerhalb des (vor-)politischen oder staatlichen Apparats. Quereinstiege sind zwar möglich und gibt es immer wieder, aber sie bleiben auf den hinteren Bänken, selbst wenn sie in ihrer inhaltlichen Kompetenz unschlagbar sind. Der Konformitätsdruck ließ auch junge Abgeordnete schnell sehr alt wirken.

Der Wahlkampf ließ wenig Aufbruchstimmung erkennen. Olaf Scholz gewann die Wahl, indem er sich als Fortführung der Kanzlerschaft Merkels inszenierte, nur ein wenig sozialer: die berühmte »Merkel-Raute« auf dem Cover des SZ‑Magazins; die mehrfache Betonung im TV‑Duell, die Kanzlerin und er hätten diese oder jene Maßnahme auf den Weg gebracht; selbst im offiziellen SPD-Werbespot war Merkel nahezu omnipräsent. Man versprach Stabilität, und vor allem: stabile Renten.

Zugleich waren die Grünen damit beschäftigt, möglichst nicht zu radikal aufzutreten – aus Angst um die Wählerstimmen »in der Mitte«. Auch an den Plakaten war zu erkennen: Von der Kreativität und den frechen Slogans früherer Wahlkämpfe war wenig übriggeblieben.

Wird der Generationenwechsel diesen Trend brechen? Hoffnung besteht. Was sich strukturell verändert hat: Die jungen Abgeordneten sind erstmals nicht mehr nur eine vernachlässigbare Minderheit, sondern eine relevante Gruppe. Über die Fraktionen hinweg kannten sich die Jüngeren bisher kaum; man vertrat seine Partei, und war von den Mehrheiten der alten Etablierten abhängig. Nun sind viele der Etablierten abgetreten, und das Neue hat eine Chance. Überparteiliche Initiativen wie »Brand New Bundestag« fördern und vernetzen junge Talente in der Politik. Die Jungen sind nicht mehr auf sich allein gestellt, sondern können sich verbünden und Mehrheiten prägen.

Der Rückzug der Boomer schlägt sich auch im Generationenwechsel in den Parteivorständen nieder: Mit Kevin Kühnert wurde ein Sozialdemokrat im Juso-Alter zum Generalsekretär gewählt, und Lars Klingbeil folgt auf den Elder Statesman Norbert Walter-Borjans, der sich aus Altersgründen zurückzieht, als Parteivorsitzender.

Bei den Grünen deutet sich eine Verjüngung des ohnehin schon jungen Parteivorsitz-Duos an, und die bisherige stellvertretende Parteivorsitzende Ricarda Lang wird mit 27 Jahren als neue Parteivorsitzende gehandelt. Selbst für die Grünen ist ein solcher Generationenwechsel ein Novum.

Bei der dritten Ampelpartei, der FDP, scheint der Vorsitzende Christian Lindner – auch er relativ jung – noch unangefochten. Aber mit Konstantin Kuhle, Johannes Vogel, Gyde Jensen, Lukas Köhler, Ria Schröder und anderen teils sehr jungen und dennoch bereits profilierten Abgeordneten steht auch die liberale Fraktion abseits ihres Vorsitzenden für eine Abkehr von der alten Garde.

Auch die Kommunikationskanäle sind anders. Instagram und Twitter gehören für viele der Neuen zu den natürlichen Plattformen. Dort verbünden sie sich mit reichweitenstarken sympathisierenden Influencern und stärken so ihr Profil, wie es von den Etablierten nur wenige vermocht haben. Der digitale Resonanzraum lässt auch Sprache und Stil der Politik nicht unberührt.

Inhaltliche Positionierungen

Auffällig viele der neuen Abgeordneten legen Wert auf das Thema Klimaschutz. Auch wenn das Interesse bisweilen eher rhetorisch sein mag, um einem populären Trend zu entsprechen, so ist doch erstaunlich, wie viele der neuen Abgeordneten vor allem von Grünen und SPD die Fragen von Klima und Energie in ihren Biografien glaubhaft verankert haben.

Zugleich haben sich bei der SPD gleich mehrere informelle Initiativen für Energiewende und Klimaschutz etabliert: etwa der »Sozialdemokratische Energiewende-Appell«, der noch aus der alten Fraktion angestoßen wurde, vor allem aber das Netzwerk »SPD.Klima.Gerecht«, das aus den Reihen der Jusos initiiert wurde und erstaunlich viele der neuen Abgeordneten vereint.

Wo verorten sich die Jungen politisch? Solide Daten dazu fehlen. Festhalten lässt sich aber: Durch den programmatischen und personellen Einfluss der Jusos verschob sich die SPD nach links, sowohl was die soziokulturelle (liberal-progressiv vs. konservativ-autoritär) als auch die sozioökonomische Dimension (mehr Staat vs. weniger Staat) betrifft, wie Sven Regel und Leila van Rinsum für das WZB herausgefunden haben. Mit einem Wahlprogramm, das so links war wie seit 30 Jahren nicht mehr, gewann die SPD die Wahl.

Die Kombination des Kandidaten Olaf Scholz, der Stabilität versprach, und einem Programm, das die progressive DNA der SPD ausbuchstabierte, erscheint paradox und war dennoch erfolgreich – wenngleich auch die SPD im Jahre 1998 mit einem ähnlichen Ansatz gewann (»Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen«, lautete damals der Slogan von Kandidat Gerhard Schröder).

Die Grünen hingegen sind sogar ein Stück nach rechts gerückt, wie Juliane Hanel und Christoph Ivanusch für das WZB ermittelten, ausgehend von dem Eindruck, man müsse sich für die Mitte wählbar machen.

Im Übrigen löst sich auch der vermeintliche Widerspruch zwischen »weichen«, soziokulturellen Themen (wie Gendern, Vielfalt, Minderheitenschutz) und »harten«, wirtschaftlichen Umverteilungsthemen auf: Anders als die alte Garde um den SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel, der regelmäßig erklärte, die SPD betreibe zu viel Klimaschutz und Minderheitenpolitik, und solle sich endlich wieder auf Sozial- und Wirtschaftspolitik konzentrieren.

Dieses Ausspielen von Themen war politisch fatal: »Menschen in Deutschland, die denken, gendergerechte Sprache ist wichtig, sind stärker für Umverteilung und sehen sie als wichtigeres Thema. Bei der Bevölkerung gibt es keine Konfliktlinie zwischen Umverteilung und ›Identitätspolitik‹«, schreibt der Politikwissenschaftler Tarik Abou-Chadi von der Oxford University auf Twitter. Die heutige SPD denkt wieder beides zusammen, gerade dank des Einflusses des Nachwuchses.

Bringt der Generationenwechsel im Bundestag auch einen Politikwechsel, also ein Ende der sprichwörtlichen »Alte-Säcke-Politik«? Bei mancher Skepsis: Einiges spricht dafür. Die nächsten vier Jahre werden zeigen, was wen mehr verändert: die Marschierenden die Institutionen – oder vielmehr die Institutionen die Marschierenden.

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