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»Brauchen wir die Regelstudienzeit?«

Ja, denn sie gibt Orientierung und schafft es so, das Studium leichter zu absolvieren. Die Regelstudienzeit als Richtschnur des Studiums bewirkt, sich an der neuen und durch Selbstorganisation geprägten Welt der Universität nach der Schulzeit besser zurecht zu finden und Erfolge für sich zu verbuchen.
Der Begriff des Studierens stammt vom dem lateinischen Verb studere und kann mit »sich bemühen um« oder »streben nach« übersetzt werden. In Zeiten nach dem Bolognaprozess geht es für die Studierenden in erster Linie um den Erwerb sogenannter Creditpoints, die in ihrer Gesamtheit nachher einen akademischen Abschluss bilden. Das Studium ist zwar eine Zeit der charakterlichen wie intellektuellen Orientierung, doch steht für alle Studierenden am Ende auch das Ziel des Abschlusses. Das Studium ist kein Selbstzweck, sondern ein Schritt der beruflichen Qualifikation.
Vom regulierten Schulbetrieb hin zur studentischen Eigenverantwortung
Die Bundesrepublik Deutschland und die 16 Bundesländer normieren so viele Dinge in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen: Einschulungstermin, Gemeinschaftsschulzeit, landeseinheitliche Curricula und dann das Abitur nach zwölf oder 13 Jahren. Am Ende steht in 15 von 16 Bundesländern ein Zentralabitur mit landesweit denselben Aufgaben für alle Schülerinnen und Schüler. Doch sobald diese Schulpflicht hinter sich gelassen wurde, muss allein entscheiden werden.
Nicht bloß die Wahl des Studiengangs muss selbstständig erfolgen. Vom ersten Tag an sind Studierende erstmal und vorrangig Individuen. Das schulische Kollektiv wird ersetzt durch ein individuell zusammenstellbares Studium mit Vorlesungen, Seminaren, Übungen und Praktika. Das Studium bringt viele Freiheiten mit sich. Von der Zeit des Aufstehens und Zubettgehens angefangen, über die Wahl von Lehrveranstaltungen bis hin zu nicht vorhandenen Anwesenheitspflichten im deutschen Universitätsbetrieb sind die studentischen Rechte vielfältig. 
Doch sie bergen das Risiko, sich in diesem Dickicht freier Entscheidungen zu verirren. Man sieht den sprichwörtlich bekannten Wald vor lauter Bäumen nicht (mehr). Dabei soll das Studium nicht verschult werden, lediglich mehr Struktur bekommen. Mithilfe der Regelstudienzeit wird der neue Studierende in die Lage versetzt, eine Idee davon zu bekommen, wie das Studium ablaufen kann und welche Schritte nach doch erprobten Erfahrungswerten sinnvoll in eine Reihenfolge zu bringen sind. #

 
Die Zeit des Studiums – auch in Regelstudienzeit schön

Die Zeit des Studiums wird gerne romantisierend als die schönste des Lebens bezeichnet. Daran muss erstmal nichts verkehrt sein. Das Studium soll selbstverständlich Freude bereiten. Gleichzeitig wird damit aber impliziert, dass das wesentlich länger angelegte Arbeitsleben nicht schön sei. Dabei ist diese Ansicht vom falschen Grundsatz aus gedacht. Das Studium kann schließlich auch sehr quälend sein. Entscheidend dafür ist jedoch nicht die Zeit, in der man das Studium absolviert. Bedeutsam ist viel eher die persönliche Perspektive auf die eigene Tätigkeit. Das Studium ist die Haupttätigkeit von Studierenden. Auch wenn Schätzungen zufolge fast Zweidrittel von ihnen nebenbei arbeiten und darauf angewiesen sind, muss das Studium die oberste Priorität haben.

In den Hintergrund tritt dann oftmals die Regelstudienzeit. Dabei kann gerade die dafür sorgen, das Studium wieder als die entscheidende Arbeit im Leben von Studierenden zu begreifen. Mit der Regelstudienzeit als eine Art Gerüst ist der Rücken frei, um sich mit den Inhalten des Studiums auseinanderzusetzen – und Erfolge zu feiern. Wer schneller studiert, hat früher und in kürzerer Zeit mehr Fortschritte zu verzeichnen, was sicherlich kein Nachteil sein kann. 
Die nicht besuchte Vorlesung und eine nicht geschriebene Hausarbeit mögen auf den ersten Blick verlocken und die alternativen Möglichkeiten mit der frei gewordenen Zeit attraktiver erscheinen, aber am Ende steht nicht das gewünschte Ergebnis. Die Regelstudienzeit bringt die Möglichkeit, sich eine Art Fahrplan zu erstellen, der die Form vorgibt. Diese muss dann immerhin noch mit der dann teilweise fast unendlich erscheinenden Anzahl an belegbaren Kursen gefüllt werden. Die Freiheit des Studiums bleibt.


Stichwort: Regelstudienzeit


Die Regelstudienzeit wurde in Deutschland 1978 eingeführt. Von Beginn an ging es damals da-rum, auf diesem Weg ein zielgerichteteres Studieren und letztlich auch eine Verkürzung der Studiendauer zu erreichen. Argumentiert wurde aber auch mit dem Rechtsschutz für Studierende: Die Hochschulen sollten garantieren, dass das Fach nicht innerhalb der vorgegebenen Semesterzahl aufgelöst wurde. Die Studierendenvertretungen waren von Beginn an gegen die Regelstudienzeit und insbesondere gegen jede Zwangsexmatrikulation nach ihrem Überschreiten. 
Ab 1998 wurden Studiengänge durch den „Bolognaprozess“ innerhalb der Europäischen Union vereinheitlicht und in Bachelor- und Masterstudium unterteilt. Ziel waren erneut die schnellere Ausbildung von Studierenden und die Entlastung der Hochschulen durch eine kürzere Dauer des Studiums. Für einen Bachelorabschluss sind üblicherweise sechs Semester Regelstudienzeit vor-gesehen, für einen Masterabschluss zusätzliche vier. Die Regelstudienzeit kann sich aber auch abhängig von der Studienordnung der Hochschule unterscheiden. 
Eine Überschreitung der Regelstudienzeit wird normalerweise nicht sofort sanktioniert, allerdings sehen viele Studienordnungen eine Höchstsemesterzahl vor, ab deren Erreichen höhere Semestergebühren oder sogar die Exmatrikulation möglich sind. Auch die staatliche Unterstüt-zung durch BAFöG ist an die Regelstudienzeit gebunden, wird also im Normalfall bei Überschreitung nicht weiter gezahlt.

Selbst die Studienleistungen verlieren nicht an Qualität beim Berücksichtigen der Regelstudienzeit. Auch eine verschobene Klausur muss irgendwann geschrieben werden. Der Lernaufwand bleibt. Hausarbeiten müssen geschrieben werden und jede könnte noch besser formuliert und recherchiert werden, noch mehr könnte gelesen werden, an diesem oder jenem Satz noch mehr gefeilt werden. Nicht nur Geisteswissenschaftler kennen das. Doch auch das gehört zur Erkenntnis des Studiums: Irgendwann muss ein Ergebnis stehen. Was für Prüfungen im Kleinen gilt, gilt gleichermaßen für das Studium im Großen. Das Studium kann kein auf Jahrzehnte angelegtes Projekt sein, sondern ist lediglich eins von vielen Kapiteln im Laufe eines Lebens. 
Zwischen Perspektiven und wirtschaftlichen Abhängigkeiten


Dabei ist es deutlich, dass es mit einem Ziel vor Augen leichter ist. Wer im 6. Semester weiß, dass nun das Bachelorstudium geschafft ist, wird mit diesem Semester besser zurechtkommen als jemand, der planlos Kurse wählt und nicht weiß, wohin diese überhaupt führen sollen. Sicherlich kann das den persönlichen Horizont erweitern, doch dem Ziel bringt es einen nur sehr bedingt näher.
Zudem sorgt ein Studium in Regelstudienzeit für einen zeitnäheren Berufseinstieg, der wiederum für eine Verbesserung der persönlichen wirtschaftlichen Situation sorgt. Erhebungen zufolge leiden immer mehr Studierende unter einem hohen Kostendruck, der ihr Studium und Leben stark belastet. Eine frühere Berufsausübung kann stattdessen dafür sorgen, nicht mehr auf BAföG, schlecht bezahlte Nebenjobs oder die Unterstützung durch die Eltern angewiesen zu sein und eine wirtschaftliche Freiheit zu spüren. 
Auch wenn die Regelstudienzeit erstmal nur eine leere Hülse für die Studierenden sein mag und die Nachteile schnell begriffen werden können, kann diese leere Hülse doch gefüllt werden. Die Regelstudienzeit gibt schließlich nur die Fahrtrichtung vor, gesteuert werden muss selbst.
 

 

Nein, weil die Regelstudienzeit ein realitätsfremdes Konstrukt gegen die Interessen der Studierenden ist.

Die Geschichte der Regelstudienzeit an deutschen Hochschulen zeigt eine deutliche Verschiebung von einem Rechtsschutz hin zu einer Bringschuld von Studierenden. Freiräume für Studierende wurden über die letzten Jahrzehnte immer weiter eingeschränkt. Der Druck, der dadurch auf Studierende ausgeübt wird, ist nicht zu unterschätzen.

Eines der größten Probleme ist, dass die Festlegung der Regelstudienzeit eines Grundstudiums auf üblicherweise sechs Semester völlig willkürlich ist. Studiengänge mit ganz unterschiedlichen Anforderungen an das Arbeitspensum werden über einen Kamm geschoren. Manche Studiengänge lassen sich sicherlich ohne allzu großen Stress in dieser Zeit bewältigen. Aber in anderen, sehr lernintensiven Fächern führt das zu massiver Überforderung. Der Zeit- und Leistungsdruck, dem viele Studierende ausgesetzt sind, wirkt sich enorm nachteilig auf die Gesundheit und Lebensqualität aus. Wir sehen heute in der Folge einen höchst bedenklichen Anstieg von Studierenden mit Krankheitsbildern wie Burnout und Depression.

Hinter der recht kurz gehaltenen Regelstudienzeit steht das Bild von Studierenden, die ihre gesamte Zeit und Energie auf das Studium verwenden sollen und können. Aber diese Annahme berücksichtigt nicht die Realität von Studierenden mit Kind, von schwangeren Studentinnen und von denen, die sich um andere Angehörige kümmern (müssen). Da solche Pflege- und Betreuungsarbeit überproportional häufig von Frauen übernommen wird, trägt die Regelstudienzeit auch dazu bei, genderspezifische Ungleichheiten zu vergrößern.

Hinzu kommt, dass viele Studierende zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts einem Nebenjob nachgehen müssen, wenn sie nicht ausreichend finanzielle Unterstützung von ihren Eltern erhalten. In der Theorie sollte das durch BAföG ausgeglichen werden, es ist jedoch zweifelhaft, wie realistisch das bei den zum Teil horrenden Mieten in Großstädten und den hohen Lebensmittel- und Energiepreisen tatsächlich ist. Selbst beim BAföG-Höchstsatz von 934 Euro pro Monat kommen die meisten Studierenden wohl nicht umhin, sich eine Nebentätigkeit zu suchen. In der Realität haben also diejenigen einen Vorteil, die sich aufgrund eines wohlhabenden Elternhauses komplett auf ihr Studium konzentrieren können.

Verflachung der Lehre

Abgesehen von solchen existenziellen Bedürfnissen von Studierenden erschwert die Regelstudienzeit auch eine intensivere Auseinandersetzung mit den Inhalten eines Fachs. Insbesondere im Grundstudium, in dem es doch darum gehen sollte einen breitgefächerten Überblick und Zugang zum Fach zu bekommen, bleibt selten viel Zeit für ein tieferes Eindringen in die Materie. Im Stress zwischen Prüfungen und Hausarbeiten müssen sich Studierende auf das Notwendigste beschränken. Am Ende des Studiums steht dann leider oft nur ein oberflächliches Verständnis ihrer Fachrichtung.

Zudem besteht der Sinn des Studiums doch nicht nur darin, möglichst schnell Fachkräfte für den Arbeitsmarkt auszubilden. Ohne den Druck, das Studium in der kurz bemessenen Regelstudienzeit abschließen zu müssen, könnten Studierende ihre eigene Disziplin tiefer ergründen und so auch eine bessere Vorstellung über den späteren Berufsweg bekommen. Sie könnten zudem »über den Tellerrand hinaus« Einblicke in andere Disziplinen bekommen und sich so breiter bilden.

Für viele junge Menschen ist der Beginn des Studiums das erste Mal, dass sie aus ihrem Elternhaus ausziehen. Viele ziehen in eine andere Stadt. Diese neu erlangte Unabhängigkeit und Freiheit sind aufregend, aber sie stellen für viele auch eine Herausforderung dar. Die Prozesse der Loslösung von zu Hause und der Orientierung in neuen, unbekannten Kontexten sind nicht immer leicht zu navigieren. Da ist es verständlich, dass das Studium manchmal nicht oberste Priorität hat.

Studierenden sollte es bis zu einem gewissen Grad selbst überlassen sein, wie sie ihr Studium zeitlich gestalten; letztlich geht es doch um die Entwicklung von selbstbewussten Persönlichkeiten, die eine Sinnhaftigkeit in ihrer Tätigkeit sehen. Die Verschulung und Ökonomisierung der Lehre, deren Ausdrucksform die Regelstudienzeit ist, unterliegen aber einem entgegengesetzten Prinzip, indem sie das Studium engmaschiger Kontrolle unterwerfen. Die oder der Studierende als Mensch ist hier nur von sekundärer Bedeutung.

Welche Ziele verfolgen wir in der Bildung?

Studierenden sollte auch die Möglichkeit gegeben werden, Zeit auch anderen Dingen als nur dem Studium widmen zu können: Freundschaften zu pflegen, Hobbies nachzugehen und Kulturangebote wahrzunehmen. Manche Studierende sind Künstler*innen oder betreiben Leistungssport, Aktivitäten, die teilweise sehr zeitintensiv sein können. Häufig gibt es eine Unvereinbarkeit zwischen diesen Tätigkeiten und einem Studium in Regelstudienzeit. Aber Studierende sollten nicht gezwungen werden dazwischen wählen zu müssen. Es muss möglich sein, ein vielseitiges und erfüllendes Leben neben dem Studium zu haben.

Mit dem Bolognaprozess war auch die Hoffnung verbunden, dass die Vereinheitlichung von Studiengängen den Hochschulwechsel erleichtern und die Zahl von Studienabbrechern verringern würde. Diese zweite Erwartung zumindest hat sich nicht erfüllt – gleichzeitig gibt es schon seit Jahrzehnten Untersuchungen, die nachweisen, dass ein Studienabbruch nicht automatisch auch Scheitern bedeutet, insofern recht viele Studierende diesen Abbruch bewusst zugunsten von attraktiven Jobangeboten vollziehen.

Aber der Stress für Studierende hat generell zugenommen und am Ende des Studiums steht für viele eine tiefe Unsicherheit über die Sinnhaftigkeit des Erlernten. Die Debatte um Sinn und Unsinn der Regelstudienzeit ist so letztlich auch Ausdruck einer breiteren gesellschaftlichen Diskussion darüber, welche Ziele wir in der Bildung verfolgen. Wollen wir möglichst effizient Menschen für den Arbeitsmarkt ausbilden? Oder wollen wir Menschen die Möglichkeit bieten, sich persönlich zu entwickeln und ein tiefgreifendes Verständnis von Zusammenhängen zu formen? Bildung ist mehr als nur Ausbildung.

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