In der Vergangenheit entzündeten die Spiele der deutschen Fußball-Nationalmannschaft geradezu ein »Lagerfeuer der Nation«. Bei der Weltmeisterschaft 2002 entstand in Deutschland (genauer: im Berliner Sony Center) das »Public Viewing«, das gemeinsame Fernsehen auf der Großbildleinwand. Einen ersten Höhepunkt errreichte es während des »Sommermärchens« 2006 und kulminierte mit dem Titelgewinn 2014. Ist eine solche kollektive Sportbegeisterung in Deutschland heute noch möglich?
Man kann sich allerdings fragen, ob nicht das Bild des Lagerfeuers irreführende Assoziationen hervorruft: ein Lager, in dessen Mitte seine Bewohner ein Feuer entzünden und gemeinsam darum Platz nehmen. Der Ausdruck »Lagerfeuer im globalen Dorf« (der weltweiten Mediengesellschaft) geht auf den kanadischen Forscher Marshall McLuhan zurück. Seine Theorie entwickelt eine andere Abfolge als die hier skizzierte: Bei ihm steht am Anfang der Fernsehapparat (oder eine vergleichbare Videotechnik), der Bilder von Ereignissen zeigt. Sein Ort ist beliebig: Wenn er angeschaltet ist, bildet sich eine Ansammlung von Menschen, die auf den Bildschirm schauen. Auf ihm sieht man ein fernes Ereignis, ein Fußballspiel, in Echtzeit. Bevor der Bildschirm zu flimmern beginnt, gibt es das Dorf noch nicht. Die Zuschauer, die sich um ihn herum versammeln, leben verstreut, ohne Bindung nebeneinander. Mit dem kollektiven Sehen wird das Dorf erschaffen – es ist also das Feuer, das das Lager erst hervorbringt.
Wenn das Feuer brennt, kommen immer mehr Leute herbei, setzen sich dazu und schauen auf den Bildschirm. Wenn es viele sind und die Flammen sie faszinieren, bildet sich eine gefühlte Gemeinschaft. In den Köpfen der Dorfbewohner entstehen Eindrücke von dem Geschehen auf dem Bildschirm. Sie sehen nicht das reale Spiel – sie ergänzen die TV-Bilder, die sie sehen, zu inneren Vorstellungen von dem Spiel. Der Bildschirm zeigt nicht zusammenhängende Spielzüge, sondern einzelne Szenen aus verschiedenen Perspektiven, die die Zuschauer im Kopf zu Handlungen verknüpfen. Dabei laden sie die flachen körperlosen Bilder mit Energie, Spannung und Emotionen auf. Dies geschieht unter der Voraussetzung, dass sie für das Geschehen auf dem Bildschirm offen sind und es mit ihren Gefühlen begleiten. Sie sind selbst wesentlich an der Faszination beteiligt, die das Feuer auf sie ausübt.
»Lagerfeuerstimmung kommt nur auf, wenn das Spiel Anlässe für die Erzeugung von Gefühlen bietet.«
Die im Dorf entstehende Stimmung kommt also von zwei Seiten zustande, vom Bild auf der Leinwand und von den Zuschauern. Fällt eine Seite aus, gibt es nur ein reizloses Bild. Die Erzeugung der Gefühle ist unvorhersehbar; von der Umgebung des Fußballspiels kann sie nur wenig beeinflusst werden. Man versucht, sie vielfältig und mit viel Geld anzufachen – durch Werbung, Spektakel und durch Tamtam aller Art. Eine Lagerfeuerstimmung kommt jedoch nur auf, wenn das Spiel Anlässe für die Erzeugung von Gefühlen bietet. Diese wiederum verbreiten sich über alle Zuschauer und stellen leicht den Kontakt von Mensch zu Mensch her, in den Stadien, vor den Bildschirmen und unter den Zuschauenden. Wenn man diese Ausbreitung als Massenphänomen bezeichnet, wäre das ein zu grober Ausdruck, der zu einem falschen Verständnis führt: sie als eine kollektive Hypnose anzusehen, wäre eine Abwertung der Fußballbegeisterung als ein primitives Emotionsgeschehen. Wenn man beurteilen will, ob heute im Fußball ein Lagerfeuer möglich sei, muss man den Vorgang seiner Entstehung genauer beobachten.
Aufzeichnungen am 23. März 2024, vor dem Spiel gegen Frankreich
Nehmen wir an, vor einem wichtigen Fußballspiel fängt das Lagerfeuer an zu brennen. Welche Folgen hat dieses Geschehen für das Dorf und seine Bewohner? Im Spiel der Flammen entstehen Bilder; sie stammen aus verschiedenen Quellen, sind daher keine eindeutigen Bilder. Sie kommen aus der Erinnerung an vergangene Spiele; viele von ihnen werden in der Fantasie gebildet, andere sind Wünsche, die unter dem Druck von Misserfolgen gebildet wurden. Sie entstehen nicht aus den Schemen auf dem Bildschirm; von diesen werden sie nur angeregt. Sie rufen Verdruss oder Skepsis hervor. Oder sie erzeugen die Atmosphäre einer optimistischen, in die Zukunft gerichteten Stimmung, und wecken in den Zuschauern Mut und Zuversicht.
Wie können die Bilder vom Fußball eine solche innere Bereitschaft erzeugen? Mit einer anderen Annahme von McLuhan kann man das erläutern: Spiele sind Medien. Dies gilt insbesondere für das Fußballspiel. Als ein Mannschaftssport sendet es eine Botschaft über die kollektiven Emotionen des Teams aus. Bei Individualsportarten ist das viel weniger der Fall; die Botschaft aus dem Spiel einer Mannschaft ist ein Wir-Gefühl. Von den Fernsehbildern des Fußballs kann man eine emotionale Message auf die inneren Vorstellungen der eigenen Person übertragen: als Stimmung des Wir, zu dem man selbst gehört, und als Moral im Kampf gegen die Schwierigkeiten des Lebens. Sie lässt einen emotionalen Zustand entstehen, der die Zuschauer körperlich ergreift und lange in ihnen nachhallen kann. Von dem Ereignis werden alle Sinne zugleich ergriffen. Die Aktivierung ihres Hörens, Fühlens, die Spannung des Spiels, die Erregung über seinen Verlauf werden von den Beteiligten als körperliche Zustände erlebt: Der Erfolg ihrer Mannschaft ist auch ihr Erfolg. Er trägt wesentlich zu ihrem Lebensgefühl bei, obwohl sich in ihrem eigenen Leben nichts verändert hat.
Aufzeichnungen am 25. März 2024, nach dem Spiel gegen Frankreich
Nach dem Ende des Spiels kann die Intensität des Erlebens nachhallen, ergänzt von Zeitungsberichten, Gesprächen und Erzählungen, von Medienanalysen zu den Hintergründen des Erfolgs. Daraus entsteht eine Grundstimmung, die sich in anderen Handlungsbereichen auswirken kann. Sie kann eine Vorstellung davon vermitteln, wie sich kraftvolles, entschlossenes Handeln anfühlt – man spürt es mit dem ganzen Körper. Wichtige Erfolge im Fußball können aufgrund eines erhöhten Wir-Gefühls die allgemeine Einschätzung der aktuellen Lage aufhellen. Das Lagerfeuer kann einen Zuwachs an Kraft und Energie bewirken, insbesondere in Erwartung eines Turniers wie der bevorstehenden Europameisterschaft im eigenen Land.
Bei der Einschätzung dieser Möglichkeit spielt die Gemeinschaft um das Lagerfeuer eine wesentliche Rolle: Am Anfang handelt es sich um vereinzelte Individuen, jedes blickt für sich in das Feuer. Sie sehen in das Spiel der Flammen, ohne eine Verbindung untereinander zu haben. Die Blicke in die Flammen stellen jetzt aber einen indirekten Kontakt zwischen den Beteiligten her und erzeugen in ihnen die gleiche Stimmung. Es ist eine Kommunikation ohne spezielle Akte des Kommunizierens: »Alle Sinne werden zugleich ergriffen« (McLuhan).
In den Tagen nach einem Fußballerfolg kann sich die gehobene Gefühlslage mit optimistischen Aussichten in anderen Bereichen fortsetzen, die nicht die geringste Berührung mit Sport haben, wie in der Ökonomie und bei den Finanzen: Alle größeren Ereignisse, die die Beteiligten als Ermutigung empfinden, werden von der Gemeinschaft des Lagerfeuers in einem Kontext zusammengefasst, als bestünde ein kausaler Zusammenhang zwischen ihnen. Es gibt freilich eine Verbindung, allerdings ganz anderer Art – sie erzeugen eine Atmosphäre, die den von Misserfolgen in der Vergangenheit hervorgerufenen Trübsinn vertreibt. Die Mitglieder der Gemeinschaft blicken wie gestärkt auf die Hindernisse, die ihnen vorher unüberwindlich erschienen. Ihre Einschätzung ist zwar subjektiv; am Lagerfeuer wird diese jedoch als eine allgemeine Überzeugung verinnerlicht.
Aufzeichnungen am 27. März 2024, nach dem Spiel gegen die Niederlande
Das Lagerfeuer des Fußballs funktioniert anders als Reportagen, Debatten, Shows und Unterhaltung im Fernsehen, die auf ihre Weise die Aufmerksamkeit eines Publikums binden können. Die zweite Erkenntnis von McLuhan, »das Spiel selbst sei ein Medium«, trifft auf den Fußball viel genauer zu als auf andere Spiele. Fußball ist das populärste Spiel der Deutschen – alle sozialen Schichten nehmen an ihm Anteil. Das Medium des Fußballspiels löst Gefühle aus, die die Zuschauer in ihren Körpern empfinden. Es bildet eine Art Resonanzkörper der aktuellen affektiven Verfasstheit des Landes.
»Ein äußerst beliebtes Spiel wie der Fußball reicht in die Tiefe der Gesellschaft.«
Ein so populäres Spiel ist viel mehr als eine Deutung der Gegenwart. Das Interpretieren ist das Geschäft der Kommentatoren und Meinungsjournalisten, die die politische und soziale Situation des Landes verstandesmäßig zu erfassen versuchen. Mit dem Verstand lassen sich Trends der Grundstimmung kaum erfassen. Ein äußerst beliebtes Spiel wie der Fußball reicht in die Tiefe der Gesellschaft: affektive Veränderungen lassen sich hier früher als in anderen Bereichen erfassen. Im Spiel wird eine Grundstimmung nicht in Begriffen beschrieben – hier kann man sie fühlen.
Die Veränderung wird von den Spielern und von jenen gespürt, die in das Lagerfeuer schauen. Die Spiele der deutschen Mannschaft gegen Frankreich und die Niederlande haben gezeigt, dass Trainer, Spieler und Fans sich von dem weit verbreiteten Trübsinn lösen – mit robusten Handgriffen, die die Mannschaft umbauen und das wieder zur Geltung bringen, was sie seit 1954 immer wieder von Neuem ausgezeichnet hat: Energie, körperliche Stärke und Einsatzwillen; dies auf einem in Deutschland vorher nie erreichten spieltechnischen Niveau.
Am Lagerfeuer erzählt man sich gern Geschichten darüber, wie einer aus der Ferne kommt und das Dornengestrüpp einfach wegräumt. Das hört sich an wie ein Märchen – solche Geschichten wecken aber manchmal eine Stimmung, die in der Mannschaft tatsächlich vorhanden ist. Dass es im Fußball erstaunliche Wendungen gibt, haben deutsche Mannschaften immer wieder erfahren, insbesondere durch »Rettungen« aus katastrophenartigen Situationen. Im Fußball kann man die sich anbahnenden Stimmungsumschwünge gleichsam seismografisch erfassen – im Negativen wie im Positiven. Was sich im Medium des Spiels jedoch nicht erfühlen lässt, ist die Dauer der Veränderung: Kommt es zu einer kurzfristigen Aufhellung der Stimmung oder beginnt sogar eine echte Konsolidierung des Fußballs in Deutschland?
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