Bildung neu zu denken, kann auch dadurch geschehen, dass wir einen Blick in die Welt werfen und schauen, was in anderen Ländern in der Bildungslandschaft passiert. Wie wird dort eigentlich Schule strukturiert, gibt es so etwas wie eine Wehrpflicht oder wie steht es mit privater Nachhilfe? Das sind nur zwei Fragen, auf die Sie eine Antwort finden werden.
Fünf Autor:innen aus fünf Ländern von ebenso vielen Kontinenten nehmen uns in kurzen Briefen auf eine Reise in die Bildungssysteme ihrer Ländern mit und lassen vielleicht auch neu über Bildung denken.
Disziplin und lebenslanges Lernen in China
Von Yangmu Nelting. Sie absolvierte in China eine Schauspielausbildung und arbeitet heute bei der Dongfeng GmbH um Brücken zwischen Deutschland und China zu schlagen.
Das chinesische Bildungssystem umfasst vier Hauptstufen: Grundschule, Mittelschule, Oberschule und Universität. Doch das Lernen endet in China nicht nach der Schule oder dem Studium. Das Konzept des lebenslangen Lernens wird dort besonders betont, was sich auch in dem Sprichwort »Lerne, solange du lebst!« widerspiegelt. So gibt es beispielsweise spezielle Universitäten für ältere Menschen, an denen Senioren neue Fähigkeiten wie Kunst, Kalligrafie und Musik erwerben und sich persönlich weiterentwickeln können. Auch berufliche Fortbildungen und Umschulungen sind in Zeiten technologischen Wandels und wirtschaftlicher Veränderungen immer wichtiger geworden.
2021 wurde die private Nachhilfe weitgehend eingeschränkt, um die Chancengleichheit zu fördern.
Ein spannender Fakt ist die Abschaffung des privaten Nachhilfesektors in China, der sich vor allem auf Unterricht am Wochenende konzentrierte. Seit 2021 gibt es staatliche Regelungen, die private Nachhilfe weitgehend einschränken, um den Druck auf Schüler und Familien zu verringern und die Chancengleichheit zu fördern. Für die Hochschulaufnahme spielt die »Gaokao«, eine landesweite Prüfung, eine zentrale Rolle. Die Gaokao wird oft als »die faire Prüfung« betrachtet, da sie den Zugang zu Universitäten auf Basis von Leistung und nicht sozialen Faktoren gewährt. Dennoch wird Bildung in informellen Kontexten, wie Onlinekursen und selbst organisierten Lerngruppen, zunehmend wichtiger.
Meine persönliche Erfahrung im chinesischen Schulsystem war geprägt von intensiven Prüfungen und einem langen Schultag. Auch außerhalb der Schule gab es hohen Druck, insbesondere durch die Nachhilfe am Wochenende, die für viele zum Alltag gehörte. Doch das System hat mir ein starkes Gefühl für Disziplin und die Bedeutung des lebenslangen Lernens vermittelt, das mich bis heute prägt.
Israel: Vor der akademischen Laufbahn steht das Militär
Von Mirler Richter. Sie stammt aus Haifa und ist in Israel zur Schule gegangen. Zurzeit lebt sie in Deutschland und tritt unter anderem als DJane auf.
Die kulturelle Vielfalt in israelischen Schulen ist bedeutend, da Schüler aus unterschiedlichen Hintergründen zusammen lernen und so die Bildungserfahrung bereichern.
Typischerweise müssen Schüler:innen nach dem Abschluss der Oberschule zunächst ihren Wehrdienst absolvieren, bevor sie ein Studium an einer Universität oder Hochschule aufnehmen können. Ausnahmen gibt es hier zum Beispiel für ultraorthodoxe jüdische Männer, die nach ihrer regulären Schulzeit an einer Religionsschule studieren. Ein neues Gesetz soll die staatlichen Subventionen für alle ultraorthodoxen jüdischen Männer im wehrfähigem Alter streichen. Auch Frauen müssen nach ihrer Schulzeit zum Militär, allerdings nur, wenn sie zwischen 18 und 19 Jahren alt sind. Die Dauer des Pflichtdienstes ist bei Männern auf 36 Monate und bei Frauen auf 24 Monate begrenzt. Dies schafft eine einzigartige Lücke, in der junge Erwachsene sich auf den Nationaldienst konzentrieren, bevor sie ihre akademische Laufbahn fortsetzen.
Obwohl das System Inklusion fördert und Wert auf kritisches Denken, Kreativität und Innovation legt, gibt es erhebliche Herausforderungen. Ein großes Problem ist, dass Lehrer oft unterbezahlt sind, was zu Frustration führt. Darüber hinaus erschweren überfüllte Klassenzimmer und unzureichende Finanzierung in bestimmten Regionen die Schaffung einer idealen Lernumgebung.
Tschechien: erfolgreich, aber altmodisch
Von Killian Kirchgessner, der seit 2005 in Prag arbeitet und für zahlreiche ARD-Radiosender und Magazine berichtet.
Das Angebot soll es den Interessenten möglichst leicht machen: Eine Woche lang, so lautet das Versprechen, können Neugierige einfach mal den Schuldienst ausprobieren. »Zační učit« heißt die Initiative in Tschechien, übersetzt »Fang an zu lehren«. Mehr als 6.000 Lehrkräfte fehlen in Tschechien, das ist für das Zehn-Millionen-Einwohner-Land eine ganze Menge. Und die private Initiative, die von Prag aus Quereinsteiger gewinnen will, verfolgt ein klares Ziel: Sie will frischen Wind an die Schulen bringen – und mit alten Vorurteilen und Problemen rund um die Bildung aufräumen.
Erstens: Etwa 90 Prozent der Lehrkräfte in Tschechien sind weiblich. Ein Erbe aus der Vergangenheit ist das, und es hängt eng mit der zweiten Herausforderung zusammen – der über lange Jahre hinweg schlechten Bezahlung des Lehrberufs. Letztere zumindest hat sich inzwischen geändert: Die zuständigen Prager Minister haben über mehrere Legislaturperioden hinweg kontinuierlich die Lehrergehälter aufgebessert, so dass der Beruf zumindest in den Regionen fernab der Hauptstadt Prag inzwischen auch finanziell attraktiv ist. Und Vorurteil Nummer drei: Tschechiens Schulsystem gilt als altmodisch.
Didaktisch herrscht Frontalunterricht vor, der Sprachunterricht ist mehr auf Grammatik als auf Sprechfähigkeit fokussiert, es geht stärker ums Faktenlernen und weniger um Anlässe zum Diskutieren – die Liste ließe sich fortsetzen. Die Debatte in der (Fach-)Öffentlichkeit dreht sich in Tschechien auch darum, ob die Bildungserfolge des Landes trotz oder wegen dieser altmodischen Schwerpunkte erzielt werden.
Denn: In den PISA-Tests schneidet Tschechien zwar nicht rekordverdächtig gut ab, liegt aber vor Ländern wie Deutschland. Und gerade in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern hat Tschechien einen guten Ruf und viele qualifizierte Absolventen, die auch dazu beitragen, dass das Land in Sachen Digitalwirtschaft viele Nachbarn längst überholt und eine ganze Reihe von bemerkenswerten Startup-Erfolgsgeschichten geschrieben hat.
Chiles Bildungssystem – so ungleich wie die ganze Gesellschaft
Von Malte Seiwerth. Er hat Geschichte und Lateinamerikastudien in Bern studiert und arbeitet heute als freier Journalist in Santiago de Chile.
Jorge Robles blickt pessimistisch auf die Bildungsreformen der letzten Jahrzehnte in Chile. Trotz großer Ankündigungen, das größtenteils privatisierte Bildungssystem zu reformieren und die öffentlichen Schulen zu stärken, sei bislang wenig passiert. »Es hat sich vor allem um kosmetische Reformen gehandelt«, meint Robles, der über Jahre eine kleine öffentliche Grundschule in einem Armenviertel in Santiago leitete.
»Die sozial am meisten benachteiligten Schüler erhalten die wenigsten Ressourcen.«
Die chilenische Militärdiktatur von 1973 bis 1990 erklärte im Zuge der neoliberalen Reformen Bildung zu einem Konsumgut. Bildung ist seitdem hauptsächlich privat und wird vom Staat höchstens subventioniert. Bis 2007 war es den privaten Trägern sogar erlaubt, Profit zu erwirtschaften. Das offizielle Verbot war ein Erfolg der Schüler_innenbewegung von 2006. Dies führe zu einer starken sozialen Segregation und einem Paradox, so Robles, »die sozial am meisten benachteiligten Schüler erhalten die wenigsten Ressourcen, um betreut zu werden, obwohl sie doch eigentlich besondere Betreuung bräuchten«. Daran habe sich trotz Reformen zur Stärkung der öffentlichen Bildung nichts geändert. »Es braucht ein Ende der Segregation, doch dafür muss sich die Gesellschaft an sich ändern«, ist sich Robles sicher. Die Pandemie und der fast zwei Jahre andauernde Fernunterricht haben die Ungleichheit verstärkt. Was in den reichen Vierteln mehr oder weniger funktionierte, war in Armenvierteln unmöglich. »Es gab niemanden, der den Kindern eine Struktur gegeben hat«, kritisiert Robles, der damals noch Rektor der Grundschule war.
Laut Zahlen des chilenischen Bildungsministeriums gab es in der Zeit 186.000 Schulabgänger_innen, die die Schule vor der zwölften Klasse verließen. »In der Zeit näherten sich die Kinder der Straße«, kritisiert Robles. Sie seien mit dem Umgang von dort in die Schule zurückgekommen. »Das heißt, wir haben mit einem gewalttätigeren Umgang untereinander zu kämpfen«. Chiles Bildungssystem sei ein Negativbeispiel, merkt Robles an, »Bildung zu einem Konsumgut zu erklären war der größte Fehler, den man je machen konnte«.
Neuseeland: multikulturelles, ganzheitliches Lernen
Von Wiebke Reißig-Dwenger, die in Neuseeland lebt und als freie Redakteurin arbeitet. Als Kernthemen schreibt sie über multikulturelles Zusammenleben und das gesellschaftliche Bemühen darum.
Für Neuseeland als kleine Nation mit wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen in die ganze Welt, vor allem nach Amerika, Asien und Europa, ist internationale Zusammenarbeit existenziell. Das hochwertige Bildungssystem, Exportschlager bis Corona, begehrt bei Schülern und Studenten aus aller Herren Länder, ist Grundlage dafür. Es punktet mit Weltoffenheit, Multi-Kulti, Teamgeist und Toleranz, dazu moderner Digitalität selbst auf entlegenen Farmen. Ziel ist es, Weltbürger auszubilden, die für künftige Herausforderungen gemeinschaftlich Lösungen suchen, heißt es in der International Education Strategy des Landes. Langfristige Freundschaften und Kontakte, die daraus entstehen, sichern Neuseeland wissenschaftlichen Austausch und Wissenstransfer.
»Schon im Kindergarten werden Verständnis und Akzeptanz für unterschiedliche Kulturen gelehrt.«
»Schon im Kindergarten werden Maori-Lieder gesungen, Maori-Gedichte gelernt und von Beginn an Verständnis und Akzeptanz für unterschiedliche Kulturen gelehrt«, sagt Musiklehrer Peter Skandera, der vor 40 Jahren von Flensburg nach Neuseeland auswanderte. Auch wenn nur wenige der Ureinwohner die Maori-Sprache fließend sprechen, gilt ihr Gebrauch als Amtssprache, auf Hinweisschildern, im Wetterbericht als identitätsstiftend für die Maori sowie als verbindendes (multi)kulturelles Erbe für ganz Neuseeland. Schulkindern der vornehmlich asiatischen Einwanderer jüngerer Zeit sind gleich drei Sprachen vertraut: ihre Heimatsprache, Maori und Englisch.
Ganzheitliches Lernen mit Lust am Erforschen und Probieren ist seit Langem angesagt. Musik, Theater, Debattieren, Maori-Performance sowie Rugby, Rudern, Basketball in Schulteams, die Lehrer ehrenamtlich leiten, und vieles mehr gehören fest zum Schulalltag. Outdoor-Projekte stärken dazu Selbstvertrauen, sich über die Komfortzone und die eigenen Ängste hinauszuwagen. So ist Neuseeland ein Land der Sportbegeisterten, der Wagemutigen, der Erfinder (Bungee-Jumping). Sie brennen leidenschaftlich für ihre Businessidee, für Surfen, Jagen, Rugby oder Musizieren, für ehrenamtlichen Vogelschutz. Angefacht wird diese Begeisterung, die »Passion« durch beständiges Motivieren, Ermutigen, durch herausfordernden Zuspruch auch im Erwachsenenleben.
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