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»Bringen ausgeloste Bürgerräte die Demokratie voran?«

Nein, weil gut gemeint nicht automatisch gut gemacht bedeutet. Wer von mir allerdings an dieser Stelle ein Plädoyer gegen Bürgerräte erwartet, wird enttäuscht werden. Es geht nicht um das Ob, sondern um das Wie einer die vorhandenen repräsentativen Verfahren ergänzenden Bürgerbeteiligung. Vernünftig ausgestaltet und richtig platziert, können Bürgerräte eine solche ergänzende Funktion durchaus erfüllen. Es gilt aber auch der Umkehrschluss. Setzt man zu hohe Erwartungen in die Verfahren, die dann nicht erfüllt werden, weil sie vielleicht gar nicht erfüllbar sind, könnte unter dem Strich das Gegenteil der erhofften Wirkung eintreten und der Vertrauensverlust in die Demokratie weiter zunehmen.

Die Gründe, die dem Ruf nach mehr ergänzender Bürgerbeteiligung zugrunde liegen, sind ja bekannt: Allzu oft können die bestehenden Institutionen und Verfahren eine hinreichende Legitimation politischer Entscheidungen nicht mehr gewährleisten. Nicht wenige Bürgerinnen und Bürger wenden sich deshalb von der Demokratie ab – indem sie den Wahlen fernbleiben, populistische Dagegen-Parteien unterstützen oder zu weiteren Formen des systemfeindlichen Protests greifen. Andere lenken ihr politisches Interesse und ihre Partizipationsbereitschaft in Kanäle jenseits der vermeintlich überkommenen Parteiendemokratie. Sie tummeln sich in den sozialen Medien, sind in NGOs engagiert oder werben für ihre Anliegen auf der Straße.

Obwohl die erstgenannte Gruppe für die Demokratie das größere Probleme darstellt, richten sich die Bürgerräte primär an die zweite Gruppe, für deren Engagement sie ein zusätzliches Angebot bereithalten. Nicht-verfasste Partizipation wird auf diese Weise in institutionalisierte, verfasste Partizipation überführt. Die Befürworter heben als großen Vorteil der Bürgerräte hervor, dass sie durch die Zufallsauswahl ihrer Teilnehmer einerseits eine bessere soziale Repräsentation garantierten als Parteien und Parlamente. Zum anderen würden durch sie Bürgerinnen und Bürger aktiviert, die der Politik bisher passiv gegenübergestanden hätten.

Die Überhöhung des Losverfahrens als »urdemokratisches« Instrument erscheint vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen freilich genauso fehl am Platze wie die Vorstellung, die Bürgerräte würden gleichsam automatisch zu einer höheren Selbstwirksamkeit beitragen. Dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einem Bürgerrat das so empfinden mögen, liegt auf der Hand. Ob sich dieser Eindruck auch auf die gesamte Wahlbevölkerung überträgt und zu mehr Zufriedenheit mit der Demokratie führt, bleibt jedoch zweifelhaft. Der Grund liegt in der von der Forschung hinlänglich belegten Folgenlosigkeit vieler Verfahren. Wenn diese keinen »Unterschied machen«, also in die politischen Entscheidungen gar nicht einfließen, dürfte sich die erhoffte Selbstwirksamkeit des demos wohl kaum einstellen.

Drei Punkte gewinnen deshalb bei der Ausgestaltung der Bürgerräte eine Schlüsselbedeutung: deren Themen, die Frage, wer zur Initiierung berechtigt sein soll und die Verbindlichkeit der beschlossenen Empfehlungen für die politischen Entscheidungsträger.

Was die Themen betrifft, muss man dort ansetzen, wo die bestehenden repräsentativen Verfahren ihre größten Defizite aufweisen. Darunter fallen etwa Infrastrukturvorhaben, bei denen sich die Kosten und Nutzen bei den Betroffenen sehr unterschiedlich verteilen – die demokratischen Prinzipien der Stimmengleichheit und Mehrheitsentscheidungen stoßen hier an Grenzen. Ein weiterer Bereich sind Zukunftsfragen, wo die Belange künftiger Generationen im politischen Prozess systematisch aus dem Blick zu geraten drohen, weil diese (noch) kein Stimmrecht haben. Last but not least gibt es Themen wie die Parteienfinanzierung oder das Wahlrecht, in denen Parteien und Parlamente »in eigener Sache« entscheiden und deshalb befangen sind.

Wer sich diese defizitären Bereiche genauer anschaut, wird rasch feststellen, dass es in der Bundesrepublik durchaus eine ergänzende »deliberative« Begleitung gibt, nämlich durch die gerichtliche oder verfassungsgerichtliche Kontrolle. Diese greift aber immer nur nachträglich, kann also eine vorausschauende Verbreiterung der Interessen- und Perspektivenvielfalt im Entscheidungsprozess nicht ersetzen. Außerdem ist sie unter Demokratiegesichtspunkten auch prinzipiell fragwürdig, weil sie die Entscheidungsverantwortung in die Hände von Richtern legt statt in die der gewählten Vertreter.

Der zweite Punkt betrifft die Auslösungskompetenz. Wenn der Eindruck nicht trügt, gibt es in der aktuellen Debatte eine starke Tendenz auf Seiten der Politik, die Einrichtung von Bürgerräten ausschließlich Parteien und/oder Regierungen zu überlassen, damit diese und die sie beherrschenden Parteien die Kontrolle über die politische Agenda behalten. Am Thema Wahlrechtsreform lässt sich das beispielhaft studieren. Hatten die Parteien der Großen Koalition in ihrem kurz vor Ende der Legislaturperiode getroffenen Beschluss, zu deren Vorbereitung eine Kommission einzusetzen, noch ausdrücklich vorgesehen, auch interessierte, per Losverfahren auszuwählende Bürgerinnen und Bürger an den Beratungen zu beteiligen, so taucht ausgerechnet dieses Vorhaben im erneuerten Einsetzungsbeschluss zu Beginn der neuen Wahlperiode nicht mehr auf. Der Verdacht liegt nahe, dass die Parteien in den »sie betreffenden« Fragen dann doch lieber unter sich bleiben wollen.

Damit ist auf den dritten, ebenso neuralgischen Punkt verwiesen: das Problem der Verbindlichkeit. Die Verfahren müssen eine gewisse Gewähr bieten, dass die in den Bürgerräten erarbeiteten Empfehlungen auch berücksichtigt werden. Praxisbeispiele zeigen, wie man dafür geeignete Vorkehrungen treffen kann. Wichtig ist zugleich die Herstellung von Öffentlichkeit. Wo eine angemessene mediale Begleitung fehlt – wie bei den drei auf nationaler Ebene 2020 und 2021 durchgeführten Bürgerräten zu den Themen »Demokratie«, »Deutschlands Rolle in der Welt« und »Klima« – darf man sich nicht wundern, wenn sowohl die Beratungen selbst als auch deren in einem Bürgergutachten zusammengefassten Ergebnisse wirkungslos verpuffen.

Der warnende Hinweis, die neuen Formen der Bürgerbeteiligung nicht gegen die parlamentarischen und direktdemokratischen Verfahren auszuspielen, ist wohlfeil. Er kann eine sorgfältige Analyse nicht ersetzen, wie diese in das bestehende Entscheidungssystem institutionell sinnvoll eingebettet werden können. Auch darf die Forderung nach mehr ergänzender Bürgerbeteiligung die letztlich wichtigere Debatte nicht verdrängen, welche Reformen der repräsentativen Institutionen – also des Wahlprozesses, der innerparteilichen Demokratie und des Parlamentarismus – geboten sind, um der Legitimationsschwäche des demokratischen Systems zu begegnen. Die Ampelkoalition hat neben den Bürgerräten auch diese Fragen auf ihre Agenda gesetzt. Die Hoffnung, dass dabei mehr herausspringt als aus den demokratiepolitischen Ankündigungen ihrer Vorgängerregierungen, bleibt aber einstweilen noch überschaubar.

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