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Bürgerräte – ein Weg aus der Repräsentationskrise?

Seit den 90er Jahren befinden sich die liberalen Demokratien in einer zunehmenden Vertrauenskrise. Ein wachsender Teil der Menschen wendet sich von der Politik ab, weil er den Eindruck hat, diese vertrete sie in ihren Meinungen und Interessen nicht mehr. Demokratie- und Parteienforscher zerbrechen sich schon seit Langem die Köpfe darüber, wie der Repräsentationsschwäche entgegengewirkt werden kann. Die Schlüssel- und Zauberformel lautet »mehr Bürgerbeteiligung«.

Doch wie soll diese konkret aussehen? In Deutschland war die Forderung lange Zeit gleichbedeutend mit »mehr direkter Demokratie«. Erhoben wurde sie insbesondere durch die in den 80er Jahren als neue Kraft in das Parteiensystem hinzutretenden Grünen. Der SPD fiel es leicht, sich dem anzuschließen, konnte sie doch mit der »Volksgesetzgebung« an die eigene Tradition anknüpfen. Lediglich die Unionsparteien und hier vor allem die CDU blieben skeptisch. Als die rot-grüne Regierung die dreistufige Volksgesetzgebung 2002 in das Grundgesetz einführen wollte, blockierten sie das Vorhaben. Auf der kommunalen und Länderebene, wo die Verfahren zum Teil schon existierten, wollten und konnten sich aber auch die Konservativen dem neuen plebiszitären Trend nicht entgegenstellen.

Seit einiger Zeit schlägt das Pendel zurück. Insbesondere bei den linken Parteien ist mit Blick auf die direkte Demokratie ein Sinneswandel zu verzeichnen. Symbolhaft markiert wurde dies durch den Beschluss des Grünen-Parteitags im November 2020, die Volksgesetzgebung aus dem Programm zu streichen, selbst wenn die Mehrheit dafür knapp ausfiel. Auch bei der SPD ist inzwischen nur noch von »Bürgerbeteiligung« die Rede, nicht mehr von »direkter Demokratie«.

Drei Gründe sind für diese Entwicklung maßgeblich. Erstens mussten gerade die linken Parteien registrieren, wie sich die »von unten«, also den Bürgern selbst ausgelösten Verfahren wiederholt gegen eigene Vorhaben richteten. Einen besonders markanten Einschnitt stellte hier die in einer Volksabstimmung 2010 zu Fall gebrachte Schulreform in Hamburg dar, wo der Eindruck entstand, eine gute situierte Minderheit habe sich auf Kosten der Mehrheit durchgesetzt. Auch der Ausgang mancher nationaler Abstimmungen in anderen Ländern – etwa die erfolgreiche Anti-Zuwanderungsinitiative in der Schweiz – brachte die einstigen Befürworter ins Nachdenken. Ein noch abschreckenderes Beispiel stellte der Brexit dar.

Der zweite Grund für die gestiegene Skepsis liegt in den institutionellen Folgewirkungen der direkten Demokratie. Die von unten ausgelösten Verfahren, die ja von ihrem Charakter her oppositionell sind, in ein parlamentarisches Regierungssystem zu integrieren, kommt der Quadratur des Kreises gleich – hier gibt es einen grundlegenden Unterschied zur Schweiz. Deshalb gibt es ständigen Streit um die richtige Ausgestaltung der Direktdemokratie, ein Hin und Her zwischen »Öffnung« und »Schließung«, dass auch bei den pro-plebiszitären Kräften Überdruss auslöst.

Als dritter Grund muss schließlich die Vereinnahmung der Forderung nach mehr direkter Demokratie durch den Rechtspopulismus genannt werden. Während Grüne und SPD von der Volksgesetzgebung abrücken, propagiert die AfD sogar die Einführung eines fakultativen Referendums nach Schweizer Vorbild. Verfassungspolitisch ist das nicht ohne Ironie, weil die Konsenswirkungen, die von einem plebiszitären Vetorecht ausgehen, den mehrheitsdezisionistischen Demokratievorstellungen des Populismus geradewegs zuwiderlaufen.

Parallel zum abflauenden Eintreten für die direkte Demokratie lässt sich seit einigen Jahren ein verstärktes Interesse an solchen Formen der Bürgerbeteiligung beobachten, die in der Politikwissenschaft unter dem Begriff »deliberativ« firmieren. Als Vorreiter entpuppte sich hier Baden-Württemberg, wo unter der von den Grünen geführten Regierung 2011 das Amt einer Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung geschaffen wurde – besetzt mit Gisela Erler. Diese trieb die Bürgerbeteiligung in Land und Kommunen durch zahlreiche Projekte zielstrebig voran – zu nennen ist etwa die Einrichtung eines onlinegestützten Portals zur Initiierung partizipativer Gesetzgebungsverfahren.

Aufgenommen wurde der Trend vom wichtigsten zivilgesellschaftlichen Akteur der Demokratiepolitik in der Bundesrepublik, dem Verein »Mehr Demokratie«. Hatte dieser sich seit den 80er Jahren mit fast missionarischem Einsatz für den Ausbau der direkten Demokratie auf allen staatlichen Ebenen starkgemacht, verlegte er seine Beratungs- und Lobbytätigkeit jetzt nicht minder emsig auf das Feld der Bürgerbeteiligung. Auf Initiative und unter Federführung des Vereins traf an zwei Wochenenden im September 2019 in Leipzig ein aus 163 Personen bestehender »Bürgerrat« zusammen, um Vorschläge für eine Reform der Demokratie auszuarbeiten. Das »Bürgergutachten« wurde zwei Monate später Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble übergeben, der daraufhin für den Bundestag die Schirmherrschaft über das Projekt übernahm und einen weiteren Bürgerrat zum Thema »Deutschlands Rolle in der Welt« einberief. Dieser nahm seine Arbeit im Januar 2021 auf und reichte sein Gutachten ebenfalls zwei Monate später ein.

Aus Sicht der Regierenden haben die deliberativen gegenüber den direktdemokratischen Verfahren zwei wesentliche Vorzüge. Zum einen sind ihre Ergebnisse bloß konsultativer Natur, die Entscheidung bleibt bei den Regierungen und Parlamenten. Zum anderen behalten diese die Kontrolle über die Themenagenda, wenn sie selbst solche Verfahren anstoßen. Die zivilgesellschaftlichen Akteure würden dagegen gerne auch den Bürgern ein Initiativrecht einräumen und Vorkehrungen treffen, dass die Empfehlungen der Bürgerräte von den Regierenden nicht einfach ignoriert werden können.

Als großen Vorteil der deliberativen Bürgerbeteiligung heben die Befürworter die Zufallsauswahl der Teilnehmer hervor, die im Vergleich zu den parlamentarischen Körperschaften für eine höhere Repräsentativität in demografischer Hinsicht sorge und gleichzeitig dem Problem der sozial ungleichen Partizipation begegne. Unter den deutschen Politologen sind die Losverfahren mittlerweile zu einem regelrechten Modethema avanciert, deren Heilwirkung man allerdings überschätzt. Erstens stellen solche mini-publics in der Bundesrepublik keineswegs ein Novum dar. Die von dem Soziologen Peter Dienel erfundene »Planungszelle« wurde etwa bereits in den 70er Jahren entwickelt und in der Praxis vielfach erprobt. Ihr Anwendungsbereich reduzierte sich allerdings auf konkrete Planungsvorhaben, die überwiegend im kommunalen Rahmen stattfanden, während die heutigen Befürworter der Zufallsauswahl diese auch auf Beteiligungsverfahren ausdehnen möchten, die Fragen der »großen Politik« adressieren. Zweitens kommt es in der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie primär auf die substanzielle Repräsentation an, also darauf, ob die Regierenden im »besten Interesse« des Volkes handeln. Die von der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Hanna Pitkin so bezeichnete »deskriptive« Repräsentation, die die demografische Zusammensetzung des Parlaments mit derjenigen der Bevölkerung vergleicht, tritt normativ dahinter zurück, obwohl sie empirisch auf das Handeln natürlich erheblichen Einfluss ausübt. Und drittens gewährleisten die zufallsbasierten Verfahren die Repräsentativität keineswegs so gut, wie die Befürworter glauben machen wollen. Gerade beim Schlüsselmerkmal Bildung ist die Auswahl auch hier nach »oben hin« verzerrt, weil von den ausgelosten Bürgern am Ende nur ein kleiner Teil tatsächlich zur Verfügung steht und mitmacht.

Zweifel an den Verfahren weckt auch der Ablauf der Beratungen. Beim Leipziger Bürgerrat sollten sich die Teilnehmer mit dem Bürgerrat selbst und der direkten Demokratie befassen. Dass sie beides mit großen Mehrheiten auf ihre Reformliste setzten, kann nicht überraschen. An einem Bürgerrat wirkten sie ja gerade mit. Und bei der direkten Demokratie waren unter den wissenschaftlichen Referenten, die die als Laien auftretenden Bürger mit der Materie vertraut machen sollten, die Pro-Stimmen »zufälligerweise« deutlich überrepräsentiert. Dasselbe gilt für den Beirat, der die Initiatoren bei der Auswahl der Experten unterstützt. Für die Umsetzbarkeit der Vorschläge verheißt das nichts Gutes.

Mit Ausnahme der AfD und – vielleicht – der Linken dürfte das Votum des Bürgerrats keine der übrigen Parteien bewegen, die Zurückhaltung gegenüber bundesweiten Volksentscheiden aufzugeben, zumal der Trend, wie gesehen, längst in die andere Richtung weist. Eine aufgeschlossenere Haltung ist beim Thema Bürgerrat zu erwarten. Weil dieser den Primat der parlamentarischen Repräsentation unangetastet ließe, würde sich der Bundestag mit seiner Einführung wenig vergeben. Die im Gutachten des Bürgerrats ausgesprochenen Empfehlungen, die Bürgerbeteiligung gesetzlich zu verankern und auch dem Volk das Recht zu geben, bundesweite Bürgerräte einzuberufen, dürften den Abgeordneten aber vermutlich zu weit gehen und deshalb chancenlos bleiben.

Noch größere Zweifel an der Seriosität weckt das Themenfeld »Deutschlands Rolle in der Welt«, das sich der zweite Bürgerrat im Januar 2021 vornahm. Die Außenpolitik ist bekanntlich eine Domäne der Regierung und der nationalen Gesetzgebung nur zum Teil zugänglich. Entsprechend wenig werden die im März 2021 an den Bundestag übergebenen Empfehlungen ausrichten. Die meisten von ihnen laufen auf Allgemeinplätze hinaus, die die Regierung in ihrem Aktionskreis nicht einengen (»Orientierung am Nachhaltigkeitsprinzip«, »Einsatz für freien Handel«). Und wo sie konkrete Forderungen erheben wie bei der Umsiedlung von Flüchtlingen aus den überfüllten Lagern an den EU-Außengrenzen, dürften sie schlichtweg ignoriert werden. War es vielleicht gerade diese erwartbare Folgenlosigkeit, die den Bundestag bewogen hat, das Thema vorzuschlagen?

Die bisherigen Erfahrungen mit losbasierten Bürgerbeteiligungsverfahren in der Bundesrepublik sind gemischt. Im kommunalen Rahmen haben sie ihre Funktionsfähigkeit in vielen Fällen bewiesen, auf der Länder- und Bundesebene steht diese Probe noch aus. Ob der 2019 stattgefundene Leipziger Bürgerrat Demokratie und sein soeben abgeschlossener ähnlich ausgerichteter Nachfolger als Blaupause für eine die parlamentarische-repräsentative Demokratie ergänzende Bürgerbeteiligung taugen, ist zweifelhaft. Sie nähren eher den Verdacht einer Alibiveranstaltung, bei der es der einen Seite – den zivilgesellschaftlichen Initiatoren und Befürwortern – vor allem darum geht, sich ein neues demokratiepolitisches Tätigkeitsfeld zu erschließen, während die andere Seite – die politischen Akteure in Regierung und Parlament – die Bürger mit den Verfahren beschwichtigen möchte.

Die Forschung hat neben der Repräsentativität der Teilnehmer und der Ressourcenaufwändigkeit der Durchführung der Verfahren vor allem deren Folgenwirksamkeit als wesentlichen Erfolgsfaktor identifiziert. Je stärker die Themen auf konkrete Ziele ausgerichtet sind, umso höher liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die Präferenzen der Bürger in die Entscheidungsprozesse Eingang finden und sich in den Entscheidungsergebnissen widerspiegeln. Ein bloßes Rosinenpicken durch die Regierenden wird so vermieden. Die Auswahl und Eingrenzung der Agenda stellt folglich eine zentrale Bedingung für das Gelingen der Bürgerbeteiligung dar. Wenige ausgewählte Verfahren, die in der Gesetzgebung tatsächlich ihre Spuren hinterlassen, sind besser als ein permanent eingerichteter, parallel zu den Parlamenten tagender Bürgerrat, der zu allem und jedem Stellung nehmen darf, bei den Regierenden und in der Öffentlichkeit damit aber keine Resonanz findet.

Die Auslösung und Trägerschaft der Verfahren gewinnt daher eine Schlüsselbedeutung. Liegt diese allein bei den Regierenden, besteht die Gefahr, dass unbequeme Themen von vornherein gemieden werden. Ein schlagendes Beispiel stellt die aktuelle Debatte um das Bundestagswahlrecht dar, bei dessen Änderung 2020 Union und SPD sich mit ihrer Mehrheit nicht nur über die Opposition hinwegsetzten, sondern auch von den berechtigten Einwänden einer kritischen Öffentlichkeit unbeeindruckt ließen. In dem von ihnen durchgedrückten Gesetz ist zwar vorgesehen, dass zur Vorbereitung einer umfassenderen Reform noch in der laufenden Legislaturperiode eine Kommission eingesetzt wird. Welche Agenda diese verfolgen soll, wer die Agenda festsetzt, ob auch zugeloste Bürger der Kommission angehören sollen und wieweit Parlament und Regierung an deren Beschlüsse gebunden werden – all das hat man aber bewusst offengelassen. Dabei wäre gerade ein Thema wie die Wahlrechtsreform prädestiniert, um die Möglichkeiten und Grenzen einer institutionalisierten Bürgerbeteiligung zu erkunden.

Insofern wäre es vielleicht ratsamer, das Augenmerk bei der Erprobung der Verfahren von vornherein stärker auf die kommunale und Länderebene zu richten. Das hätte zugleich den Vorteil, dass man an die im Rahmen der direktdemokratischen Verfassungsgebung hier bereits eingerichteten Initiativrechte anknüpfen könnte. Wenn die Bürger das Recht haben, ein Gesetzesvorhaben unmittelbar selbst auf den Weg zu bringen, warum sollten sie dann nicht auch die Möglichkeit bekommen, über dasselbe Vorhaben ein Bürgerbeteiligungsverfahren einzuleiten? Der Nutzen einer losbasierten Bürgerbeteiligung liegt darin, dass sie in bestimmten, besonders legitimationsrelevanten Bereichen eine breitere Interessenberücksichtigung gewährleistet als die vorhandenen parlamentarisch-repräsentativen (und/oder direktdemokratischen) Institutionen. Dies zu einem allgemeinen Argument zu erhöhen, erscheint jedoch unangebracht. Um die Demokratie zu verbessern, muss man das Repräsentativsystem nicht neu erfinden. Insbesondere verbietet es sich, die neuen Verfahren gegen die Parteien auszuspielen, denen in diesem System weiterhin die zentrale Rolle zukommt. Würde es gelingen, deren repräsentative Qualität wieder zu stärken, wäre der Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung vermutlich leiser.

Kommentare (1)

  • Arno Niesner
    Arno Niesner
    am 09.08.2023
    David Van Reybrouck zufolge fiel der Gebrauch des Losverfahrens "häufig mit dem Höhepunkt von Wohlstand, Prosperität und Kultur zusammen“, es sorgte „in der Regel für weniger Konflikte und größere Beteiligung der Bürger“ und „wurde immer in Kombination mit Wahlen praktiziert, um Kompetenz zu garantieren“. Schließlich stellt er fest: „Staaten, die das Losverfahren anwandten, erlebten häufig Jahrhunderte der politischen Stabilität, trotz großer interner Unterschiede zwischen rivalisierenden Gruppen.“ (in: Gegen Wahlen, 7. Aufl., 2021, S 83)

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