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Ein Kontinent auf dem Weg zum »Bildungsraum 2025« Campus Europa

Geert Mak, der große niederländische Chronist Europas, hat in seinem Buch In Europa (2005) und seinem reflektierenden Nachfolgewerk Große Erwartungen (2020) ein fulminantes Zeugnis abgelegt über die Hoffnungen wie die Enttäuschungen, die sich mit Europa in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts verbunden haben. Dabei muss auffallen, dass Mak bei seiner Suche »Auf den Spuren des europäischen Traums« so gar nicht die Universitäten und Hochschulen als die »europäische Bildungsinstitution par excellence« in den Blick genommen hat, obwohl doch »keine andere europäische Institution wie die Universität mit ihren überlieferten Strukturen und ihren wissenschaftlichen Leistungen in der ganzen Welt universale Geltung erlangt« hat (Walter Ruegg, 1993).

Universitäten liegen in der »Genetik« Europas. Sie sind ureigener Bestandteil der europäischen Identität – von der scholastischen Bildung für das christliche Europa mit der ersten europäischen Hochschulgründung 1088 in Bologna bis in die Moderne der nationalen Universitäten in der Staatenbildung des 19. Jahrhunderts, wie Wolfgang Weber in seiner Geschichte der europäischen Universität (2002) aufgezeigt hat. Ideell sind die Universitäten seit der Aufklärung geprägt durch Rationalismus und Humanismus und gleichwohl nicht gefeit gegen schlimmste Menschenverachtung und Geistesfeindlichkeit im 20. Jahrhundert durch die Totalität von Faschismus und Kommunismus. Strukturell sind sie im Gleichklang mit der Industrialisierung und dem naturwissenschaftlichen und technologischen Fortschritt zu zentralen Ausbildungs- und Studienorten für die wissenschaftlich geprägten Funktionseliten und akademisch vorbereiteten Berufe und zu Schlüsseleinrichtungen für Forschung und Entwicklung geworden.

Mit dieser Aufgabenstellung sind dann in den letzten 50 Jahren immer größere Hochschulkapazitäten in allen europäischen Ländern entstanden. Über 3.500 Hochschulen mit 20 Millionen Studierenden gibt es aktuell allein in den Staaten der Europäischen Union. Und die Zahlen wachsen. Seit der Jahrtausendwende richteten sich mit der Lissabon-Strategie neue Erwartungen an Forschung und Entwicklung an den Hochschulen in Europa. Sie sollten zu zentralen Institutionen des größten wissensbasierten Wertschöpfungsraums der Welt werden, als der Europa nach dessen Wiedervereinigung mit seinen damals rund 430 Millionen Menschen ebenso optimistisch wie visionär geplant war. Parallel dazu wurde 1999 an der Sorbonne von den europäischen Bildungsministern mit der Bologna-Reform der gemeinsame europäische Hochschulraum begründet. Ziele waren eine länderübergreifende zweiphasige Hochschulausbildung, eine bessere Nutzung der Hochschulkapazitäten für eine erste wissenschaftlich vorbereitete Berufstätigkeit und die Erhöhung der Mobilität aller Hochschulangehörigen.

Peter Glotz hatte als sozialdemokratischer Vordenker für das Europa der Zukunft den Bildungseinrichtungen ins Aufgabenheft geschrieben, dass sie ihre Arbeit humanistisch, europäisch und nachhaltig verstehen müssten. Dieser Auftrag geriet ob der funktionalistisch begründeten Entwicklung in der kapitalistisch durchdrungenen Systemlogik des Neoliberalismus der Jahrhundertwende dann allerdings allzu sehr ins Hintertreffen.

Dabei waren erste nachhaltig wirkende Impulse für eine Europäisierung der Hochschulen schon lange vor deren struktureller und institutioneller Verknüpfung mit der europäischen Idee durch Programme gesetzt worden, die vor allen Dingen auf die einzelnen Menschen und deren ganz konkrete Erfahrung von Europa zielten. Was Robert Schuman 1950 als »Solidarität der Tat« einforderte, hat dann die Erziehungswissenschaftlerin Sofia Corradi bis zu einem EU-Ratsbeschluss mit dem European Community Action Scheme for the Mobility of University Students (ERASMUS) im Jahr 1987 durchgefochten. War Sofia Corradi die italienische »Mutter« von Erasmus, wurde der französische EU-Kommissionspräsident Jacques Delors zu dessen »Vater«. In den zehn Jahren seiner Amtszeit begann eine Erfolgsgeschichte des europäischen Bildungsaustauschs, die weltweit einmalig ist. Zehn Millionen Teilnehmende kann dieses Programm seit seinem Entstehen vor 34 Jahren verzeichnen. Davon sind fünf Millionen Studierende. Mit 28 Mitgliedsländern und sechs Partnern außerhalb der EU, von Liechtenstein bis zur Türkei, hat es sich als das weltgrößte Austauschprogramm erwiesen. Europäische Integration durch persönliche Begegnung war die Absicht. Wie heißt es in einem Bonmot von Jacques Delors aus dem Jahr 1992 so treffend: »Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.« Von 2021 bis 2027 soll sich die Zahl der Teilnehmenden auf bis zu zwölf Millionen verdreifachen. Den großen Sozialisten und Europäer dürfte es freuen.

In der Spur von Delors hat der französische Staatspräsident Emmanuel Macron dessen Mission, den Campus zum Ort der Begegnung für die akademische Jugend Europas zu machen, mit neuen Impulsen forciert. In seiner berühmt gewordenen Sorbonne-Rede vom 26. September 2017 fasst er zusammen: »Ich schlage die Einrichtung europäischer Universitäten vor, die ein Netzwerk von Universitäten aus mehreren Ländern Europas bilden und die einen Studienverlauf schaffen, in dem jeder Studierende im Ausland studiert und Seminare in mindestens zwei Sprachen belegt. Europäische Universitäten, die auch Orte pädagogischer Neuerung und exzellenter Forschung sind. Wir müssen uns das Ziel stecken, bis 2024 mindestens 20 dieser Universitäten zu errichten.«

Damit hat nach Delors einmal mehr ein Franzose, ausgestattet mit dem ungebrochenen Selbstbewusstsein einer grande nation und ihrer geistigen Kraft, das Studium und den Bildungsaustausch zum Motor von europäischer Integration und Identität gemacht. Gleiches war von einer deutschen Kanzlerin im Format und Anspruch leider nicht zu vernehmen. Mit dieser Initiative Macrons war implizit eine neue Schubkraft für einen Europäischen Bildungsraum verbunden, der vom Rat der Bildungsminister/innen zur allgemeinen und beruflichen Bildung im Mai 2009 unter dem Motto »education and training 2020« schon beschlossen worden war und der jetzt mit Blick auf den Bildungsraum 2025 eine konkrete hochschulpolitische Zielsetzung bekommen sollte.

Aus starken Ideen sind dann in der Operationalisierung durch konkrete Politik des Rates nach dem Bottom-up-Prinzip errichtete Hochschulnetzwerke in der gesamten Europäischen Union geworden. In den Jahren 2019 und 2020 gab es je eine Pilotausschreibung »Europäische Hochschulen« mit dem Ziel, ab 2021 in der Nachfolgegeneration zu Erasmus+ eine neue Förderlinie zu initiieren. Schlüsselelemente für diese unterschiedlichen Kooperationsmodelle von Hochschulallianzen sind langfristige gemeinsame Strategien für Bildung in Verbindungen zur Forschung, interuniversitäre Hochschulcampusse mit europäischen mobilitätsorientierten Lehrplänen, europäische wissensbildende Teams von Wissenschaftlern und Studierenden in einem multidisziplinären Ansatz und ein institutionelles Zusammenwachsen mit einer gemeinsamen Vergabe von Abschlüssen und einer abgestimmten Einstellung von Professoren.

Konkret haben sich 41 Allianzen mit 280 Hochschulen in strategischen Partnerschaften von fünf bis neun Hochschulen aller Art und Ländern aller Größen zusammengefunden. Eine osteuropäische oder eine südeuropäische Hochschule muss jeweils einbezogen sein. Aus Deutschland sind schon jetzt 35 Hochschulen unmittelbar beteiligt.

Mit Recht darf die Kommission darauf stolz sein, dass nicht nur Universitäten, sondern auch andere Hochschulformen Teil dieser Netzwerke sind. Trotzdem fällt die Dominanz von Universitäten auf, während Kunsthochschulen und insbesondere Hochschulen für angewandte Wissenschaften eher die Ausnahme sind. Zugleich muss die Kommission mit der Kritik leben, dass die Unterstützung für die beteiligten Hochschulen mit sieben Millionen Euro pro ausgewählter Allianz und damit insgesamt einer Million im Durchschnitt pro Hochschule für drei Jahre bisher zu schmal bemessen ist. In Deutschland können die größten Lücken mit einem begleitenden Zusatzprogramm durch den Bund zum Glück einigermaßen geschlossen werden.

Worauf es jetzt ankommt

Das große Interesse muss jetzt Verpflichtung sein, das Budget für die Zukunft deutlich zu erhöhen, damit es dann ab 2025 nach der ersten Pilotphase eine wirklich stimulierende Förderung für noch mehr vorbildhafte Europa-Universitäten und -Hochschulen geben kann. Spielräume für signifikant mehr Quantität und Qualität sind jetzt geschaffen, denn das Erasmus-Budget ist mit den Beschlüssen von 2021 um rund 80 % auf über 26 Milliarden Euro insgesamt gestiegen. Ohne die Chancen und Abgründe von Identitätspolitik hier ausleuchten zu wollen: Europäische Identität als Movens, weil Voraussetzung wie Ergebnis integrativer Prozesse, muss sich individuell wie strukturell aufbauen können in einem europäischen Studium generale, in multidisziplinärem Lehren und Lernen, über freie und kritische Wissenschaft und praktische Verantwortung im großen gemeinsamen Haus Europa. Besondere Programme wie das Jean-Monnet-Projekt, um Lehre, Forschung und Reflexion zur europäischen Integration an den Hochschulen zu verankern, behalten dabei ihre Berechtigung. Neue Ansätze, mit denen das Erasmus-Mundus-Programm um eine institutionelle Komponente erweitert wird, sollten dazu kommen. Gehört mit Blick auf die globale Verantwortung Europas in Partnerschaft nicht auch eine afrikanische Hochschule in jede dieser europäischen Allianzen? Die Initiative des DAAD zum Aufbau von Fachzentren an afrikanischen Hochschulen kann hierfür Vorbild sein. Deren Zahl ist mittlerweile auf zwölf gestiegen. Ein europäischer Hebel sollte hier noch weit mehr Wirkung erzielen können.

Auch der große Restart europäischer Bildungspolitik, die Ausbildung und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern, die in ganz Europa unterrichten können, ist in den europäischen Hochschulnetzwerken in Zukunft anzugehen. Immerhin bewegt sich hierzu schon etwas in der Arbeit der Europäischen Kommission. Ihr ist mit Blick auf den europäischen Bildungsraum 2025 die bessere Aus- und Fortbildung von Lehrern ein ganz besonderes Anliegen. Es ist beabsichtigt, bereits im Jahr 2021 insgesamt 25 Erasmusakademien für Lehrende ins Leben zu rufen, um den Austausch von Lehrenden, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen und die Mobilität im Rahmen von Erasmus+ zu fördern. Die Europäischen Hochschulen sollten dies als Chance nutzen, sich gerade in der Lehreraus- und -weiterbildung ihrerseits zu profilieren und sich mit den neu geplanten Erasmus-Akademien zu vernetzen. Der Europa-Lehrer darf für die Zukunft jedenfalls keine Utopie bleiben. Wir brauchen sie und ihn in der Realität, in jedem Land und an jeder Schule.

Geert Mak beschließt seine Erkundungen im Zwiegespräch mit einer erdachten klugen Geschichtsstudentin. Er möchte seiner »lieben Freundin in der Zukunft«, so sein Traum, im Jahr 2069 über die Schulter blicken, was sie über unsere Zeit und Europa schreiben wird. Es liegt auch an mutiger Bildungspolitik, ob die europäischen Hochschulen dann als eine tragende Säule demokratischer, fortschrittlicher und weltoffener europäischer Identität positiv herausgestellt werden. Europa als einer der drei Stützpfeiler in der Zukunftsagenda von Olaf Scholz und der SPD weist hier den Weg.

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