Heute gilt Willy Brandt – aus guten Gründen – als einer der erfolgreichsten Vorsitzenden in der Geschichte der SPD, für manche als der bedeutendste überhaupt. Er wird als »Visionär« bezeichnet, der jedoch nie den Blick auf die Realitäten verloren habe. Auch als Charismatiker, der umso stärker wirkte, je größer die Zahl der Zuhörer war. Aber als führungsstark erinnert man ihn nicht. Aber hier trügt das historische Gedächtnis. Denn ohne seine Entschlusskraft gäbe es keine Ostpolitik, keinen Kniefall, keinen Friedensnobelpreis. Hätte Willy Brandt dem verbreiteten Bild entsprochen, gezaudert und in der Wahlnacht des 28. September 1969 erst die Parteigremien befragt, dann hätten sich vermutlich Helmut Schmidt und Herbert Wehner durchgesetzt. Sie hielten die Mehrheit von SPD und FDP für zu knapp, wollten lieber die Große Koalition fortsetzen. Brandt hingegen verkündete ohne Rücksprache (außer mit Walter Scheel), er werde eine neue Regierung bilden. In der Folgezeit wackelte die sozialliberale Koalition bis sie im Mai 1972 gänzlich die Mehrheit verlor. Dennoch: Brandts Mut zahlte sich aus. Seine Regierungszeit ging, obwohl sie nur viereinhalb Jahre andauerte, sogar als »Ära« in die Geschichte ein.
Viele Politiker schaffen sich Netzwerke, um nach oben zu gelangen und dort zu bleiben. Legendär sind die regelmäßigen Anrufe von Helmut Kohl bei den CDU-Kreisvorsitzenden. Natürlich besaß Brandt vielfältige Kontakte in die Partei hinein und pflegte sie. Aber das bemerkenswerteste Netzwerk, über das er verfügte, waren seine internationalen Kontakte. Bereits im Exil hatte er zahlreiche Persönlichkeiten kennengelernt, die nach 1945 in die erste Reihe der Politik aufstiegen, von Paul-Henri Spaak bis Jomo Kenyatta. Als Regierender Bürgermeister von Berlin war er ein inoffizieller zweiter Außenminister der Bundesrepublik; so gut wie jeder internationale Gast, der Bonn besuchte, reiste auch nach Berlin. Sein Renommee im Ausland, das ab 1970 noch größer war als in der Heimat, führte ihn beinah unausweichlich – gegen seine Intention – an die Spitze der Sozialistischen Internationale.
Mit den Grundprinzipien seiner Politik und von Politik im Allgemeinen beschäftigte sich Brandt in zahlreichen programmatischen Grundsatzreden. Dieses »Genre« zu pflegen, unterschied ihn von vielen anderen Spitzenpolitikern. Er hatte ein Gespür dafür, dass man damit politische Führung ausübte. Die Reden enthielten so gut wie immer einen Blick zurück auf die Geschichte von Partei und Land, dem die Frage folgte: Welche Bedeutung hat das für heute und morgen? Friedrich Engels und Karl Marx, Ferdinand Lassalle und August Bebel, das Hambacher Fest 1830 und das Godesberger Programm von 1959, die Literatur des Exils und der 20. Juli 1944 waren Themen solcher Reden, aber auch Otto von Bismarck und Gustav Stresemann. Brandt, der gerne Historiker geworden wäre, wenn er es weder in der Politik noch als Journalist zu etwas gebracht hätte, wollte historisch-politische Orientierung geben. Nie vergaß er hinzuzufügen, dass die Sozialdemokratie keine parteiamtliche Geschichtsinterpretation kenne. Führung hieß hier Anstoß zum Nachdenken zu geben, auf Wichtiges hinzuweisen, Vergessenes zu erinnern. Zu weit vorneweg gehen darf die Führungspersönlichkeit allerdings nicht; sie muss in Kontakt mit den von ihr Geführten bleiben. Das verbirgt sich hinter der Beschreibung von Brandt als Visionär und Realist.
Wichtig war zudem die Rhetorik, nicht nur der Inhalt. Setzt man vorrangig auf »Verwalten« statt auf »Führen«, wie dies Angela Merkel in der Regel tut (Thüringen ist da eine Ausnahme), dann fällt das rednerische Defizit nicht so sehr auf. Brandt aber hatte eine über den Tag hinausweisende politische »Agenda«, voll mit politischen Konzepten, die dem Wahlvolk und den Parteimitgliedern vermittelt werden mussten. Sein eigentümlicher Stil erweckte den Eindruck, als rede er frei und ringe nicht nur um die angemessenen Worte, sondern formuliere hier und jetzt politische Botschaften, auch wenn er ein Manuskript (oder mindestens längere Stichworte) vor sich hatte. Brandts Weg an die Spitze der Partei begann mit einer Ansprache in Berlin im November 1956, als er Demonstranten davon abbrachte, aus Protest gegen den Einmarsch der Roten Armee in Ungarn die Grenze zum sowjetischen Sektor zu überschreiten. Seinen Vorrednern war es nicht gelungen, die Gemüter zu beruhigen. Im legendären Wahlkampf von 1972 versetzten seine Ansprachen die massenhaft erschienenen Zuhörer abwechselnd in Begeisterung und in tiefe Nachdenklichkeit. Im Herbst und Winter 1989/90 fand er die passenden Worte, füllte riesige Plätze und hinterließ Sprichwörtliches.
Eine Grundsatzfrage stellte sich Brandt sein ganzes politisches Leben über: Parteieinheit oder programmatische Eindeutigkeit – was hatte Vorrang? 1931 verließ er die SPD, gründete die Sozialistische Arbeiterpartei mit. Am Ende der Zeit im Exil hatte er erkannt: Parteispaltungen führen zum Sektierertum. Brandts Schlussfolgerung lautete, die Einheit der Partei zu wahren, so lange es geht. Unter »Einheit« verstand er keine »Geschlossenheit« ohne Möglichkeit der Kritik, sondern eine in stetiger Debatte immer wieder neu begründete Gemeinsamkeit über inhaltliche Differenzen hinweg. Darin folgte Brandt seinem großen Vorbild August Bebel. Der »Arbeiterkaiser« hatte, so der Ehrenvorsitzende der SPD 1988, erkannt, dass »die Einheit der Partei (…) sich leichter aufs Spiel setzen als wiedergewinnen lässt«. Bebel haderte mit Reformisten und mit dem linken Flügel, aber er ließ sie nicht hinauswerfen, ergänzte Brandt. Wer dessen Denken etwas näher kennt, weiß, dass dies auch eine Spitze gegen Friedrich Ebert war.
Das Beispiel Ebert verweist auf die Herausforderung an jeden politischen Führer, in kurzer Zeit und auf der Basis beschränkter Erkenntnisse die »richtige« Entscheidung zu treffen. In Zeiten beschleunigter Entwicklungen (1918/19, 1932/33, 1946, 1989) ist dies noch einmal schwieriger. Zum rückblickenden Urteil über die Führungsfähigkeit von Brandt gehört, wie häufig ihm attestiert wird, richtig gelegen zu haben – wobei wir wissen, dass dieses Urteil sich auch wieder ändern kann, denn jede Zeit hat ihre eigenen Maßstäbe. Aus heutiger Sicht lässt sich sagen, dass Willy Brandt 1946 in der Auseinandersetzung mit seinem Exil-Mentor Jacob Walcher, der ihn für die SED gewinnen wollte, richtig entschied; dass er Anfang der 50er Jahre richtig lag, als er gegen Kurt Schumachers Anti-Europakurs opponierte; dass er 1969 zum Glück von Partei und Land nicht die Große Koalition fortsetzte; dass er in den 70er Jahren mit Recht Helmut Schmidts Forderung nach Ausschluss der Jusos zurückwies und ebenso in den 80er Jahren die von Annemarie Renger und Richard Löwenthal verlangte Abgrenzung von den Neuen Sozialen Bewegungen. Und schließlich hätte es die SPD auf Jahrzehnte belastet, wenn nicht Willy Brandt 1990 die Zustimmung zur Einheit Deutschlands gegen Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder durchgesetzt hätte. Natürlich gab es ebenso Fehleinschätzungen, so den »Radikalenerlass« von 1972 und das Verhältnis zu Polens Solidarność.
Willy Brandt wurde schon in jungen Jahren Charisma zugeschrieben und sein weiterer politischer Werdegang mehrte dies nur noch. Er kämpfte gegen Hitler, arbeitete 1936 illegal in Berlin und hielt sich 1937 während des Spanischen Bürgerkriegs in Barcelona auf. Nach 1945 wandte er sich gegen die kommunistische Diktatur und deren Bedrohung des freien Teils von Berlin. Auf den Bau der Mauer reagierte Brandt mit der »Politik der kleinen Schritte«, um die Folgen der Teilung abzumildern. Daraus entstand die »Neue Ostpolitik«, für die er den Friedensnobelpreis erhielt. Auf Reisen in die USA baute er immer wieder Treffen mit innovativen Denkern ein, sei es mit den Gebrüdern Reuther von der Automobilarbeitergewerkschaft oder mit dem Soziologen Daniel Bell. Von ihnen wollte er hören, was sie für die Herausforderungen der Zukunft hielten. Auf die APO, die mehr Freiheiten forderte, und auf die Neuen Sozialen Bewegungen antwortete Brandt mit Gesprächsbereitschaft. Seit den 70er Jahren prangerte er die Ausbeutung des globalen Südens durch den Norden an.
Auch wenn das Bild vom »Visionär« Brandt dies nicht erwarten lässt: Er war zugleich ein Mann der politischen Kleinarbeit. Seit seiner Jugend hatte er Jahr um Jahr Erfahrungen im Alltag der Organisationsarbeit sammeln können. Im Berlin der 50er Jahre kämpfte Brandt um den Landesvorsitz der SPD mit derselben Rücksichtslosigkeit wie seine Widersacher. In den 60ern entwickelte er allmählich den Führungsstil, mit dem er heute verbunden wird: offen und partizipativ. Über die Kabinettssitzungen in der Zeit seiner Kanzlerschaft erzählten Widersacher, Brandts Stil führe dazu, dass die Debatten ausuferten. Es gibt aber auch ganz andere Zeugnisse. Die Internationale Sekretärin der britischen Labour-Partei berichtete 1977 nach einer Sitzung der SI-Führung an ihren Vorstand: »This meeting of the Bureau was a very different affair from past ones [gemeint ist unter Brandts Vorgänger]. It was conducted in an orderly way, both because the papers had been efficiently prepared and because Willy Brandt is an extremely good chairman.« Akten studierte Brandt gründlich, zugleich wusste er zu delegieren. Peter Glotz schrieb über seine Zeit als Bundesgeschäftsführer der SPD (heute entspricht dies dem Generalsekretär): »Er hörte sich die Analysen seiner Mitarbeiter an, fragte nach, wies hin und sagte dann: ›Mach mal.‹ Zu detaillierte Vorlagen gab er einem höflich zurück.«
Den Abschied von der Parteiführung konnte Brandt trotz aller Erfahrung an der Spitze nicht steuern. Anfang 1987 war sein Einfluss in der SPD auf einen Tiefststand gesunken. Hans Apel meinte, seine Vorstandskollegen mit der Frage: »Was bedeutet BMW?« unterhalten zu müssen. Der SPD-Chef erfuhr davon und war »not amused«, denn die Auflösung lautete: »Brandt muss weg«. Kurz darauf scheiterte der Vorsitzende gleich zweimal mit Personalvorschlägen: Weder beim Posten des Schatzmeisters noch bei der Parteisprecherin folgte ihm der Parteivorstand (dass dies im letzteren Fall späteren Schaden von der SPD fernhielt, steht auf einem anderen Blatt). Diejenigen, die Brandt vorhielten, zu wenig politische Führung zu zeigen, beklagten, seine Äußerungen seien schwammig, er lasse Diskussionen treiben, auf Angriffe reagiere er defensiv. Man wisse nicht, wofür er stehe und wohin er wolle. Sie forderten, er müsse einmal auf den Tisch hauen. Die Debatte darum war nicht neu. Bereits Anfang 1972 und auch zwei Jahre später hatte es derartige Vorwürfe gegeben. 1974 trugen sie zu seinem Rücktritt als Kanzler bei. Mit Willy Brandt in der damaligen Form hätte die SPD die Bundestagswahl 1976 vermutlich verloren.
Aber aufs Ganze gesehen, kann man doch sagen: Wäre Brandt so führungsschwach gewesen, wie immer wieder behauptet wird, wäre er nicht der am längsten amtierende Parteichef der deutschen Sozialdemokratie geworden: Seinen 23 Jahren, von 1964–1987, stehen Bebels 21 Jahre (1892–1913) gegenüber. Dass Brandt und Bebel zusammen 44 der mittlerweile 157 Jahre der Parteigeschichte an der Spitze standen, kommt nicht von ungefähr. Durch ihren Lebensweg besaßen sie den Respekt ihrer Genossinnen und Genossen, der politischen Mitstreiter und Gegner. Sie hatten eine Vorstellung von Weg und Zukunft der sozialen Demokratie und sie kannten sich im Klein-Klein der Parteiarbeit aus. Und sie wussten, die SPD zusammenzuhalten.
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