Menü

Wie Italiens Medien über die deutsche Regierungsbildung berichten Che semaforo? Was für eine Ampel?

Kaum hatten sich die Italiener von der Nachricht »erholt«, dass sie mit der Impfkampagne bei Weitem besser vorangekommen sind als die Deutschen, da wurden sie mit der Nachricht von der »Ampel« in Berlin konfrontiert. Pädagogisch erklärten die Tageszeitungen sogleich was il semaforo bedeutet.

Die italienische Politik hat allerdings zur Zeit vor allem mit sich selbst zu kämpfen: Im Februar 2022 steht die Wahl des Präsidenten an, spätestens im Mai 2023 folgt die Parlamentswahl. Wird Mario Draghi Präsident oder bleibt er weiterhin Premierminister? Aufgrund dieser Lage waren die Reaktionen auf die Wende in Deutschland insgesamt nicht allzu groß. Am 25. November erschien in der Tageszeitung La Repubblica wenigstens das Foto der Verhandlungsdelegationen auf der unteren Titelseite. »Scholz’ Ampel leitet Deutschland« konnte man dort lesen. Im entsprechenden Artikel des Auslandsressorts führte Roberto Brunelli das Farbenspiel weiter: »In einem durch Corona rot markierten Deutschland trägt Baerbock blau, jedoch ist die Ampel grün«. Dadurch wird die ökologische Grundierung der Koalition besonders hervorgehoben.

Brunelli merkt an, wie alle Beteiligten während der Pressekonferenz zur Vorstellung des Koalitionsvertrages zumindest äußerlich zufrieden scheinen. Auch die Liberalen, die u. a. das Finanz- und das Verkehrsministerium bekommen haben. Die Herausforderungen und Schwierigkeiten, die im Koalitionsvertrag stecken, lassen sich jedoch nicht übersehen. Die Klimaziele und das angestrebte »Jahrzehnt der Investitionen« müssen mit dem Versprechen in Einklang gebracht werden, die Finanzen nicht zu überlasten.

Tonia Mastrobuoni, Korrespondentin in Berlin, hebt stattdessen die Kontinuitätslinien zur Ära Merkel hervor. In Anlehnung an die Analysen des Politologen Wolfgang Schroeder sieht Mastrobuoni Neuerungen in den Bereichen Umwelt, Energie und Soziales, jedoch keine Prioritätenverschiebung hinsichtlich der Europa- und der allgemeinen Außenpolitik. Trotz der Bedenken, die der Amtsantritt Baerbocks als Außenministerin hervorgerufen hatte, sei das Erbe von Merkels Außenpolitik im Koalitionsvertrag unübersehbar.

Il Corriere della Sera, eigentlich Italiens meistverkaufte Tageszeitung, hatte am 25. November die Nachricht über die Ampelkoalition nicht auf der Titelseite. Die große Nachricht des Tages war das französisch-italienische »Quirinalabkommen«, das Macron und Draghi am darauffolgenden Tag unterzeichnet haben. Erst in der Auslandsberichterstattung weiter hinten kommt nochmals das Kollektivfoto der Verhandlungsdelegationen plus ein Bild von Olaf Scholz in Übergröße. »Ampel an. Die Regierung Scholz ist da«, darunter eine Darstellung der Schlüsselpunkte des Koalitionsvertrags, drei Kurzporträts von Habeck, Lindner und Scholz sowie ein Eintrag im Stil des Guinness Book of Records: Merkel erreicht Platz drei in der Liste der längsten Amtszeiten deutscher Kanzler*innen: hinter Bismarck und Kohl.

Eine politisch etwas dezidierte Analyse des Koalitionsvertrags bringt Erika Antonelli für die Wochenzeitung L’Espresso: »Vom Mindestlohn zum Cannabis, der Linksruck der neuen Regierung in Deutschland«. Dies seien Symbolthemen der Fortschrittlichen. Hinzu käme das Versprechen des Kohleausstiegs 2030, also acht Jahre vor der ursprünglichen Planung, sowie die Absicht, den Anteil der erneuerbaren Energien auf 80 statt auf 65 Prozent zu erhöhen. Der umweltfreundliche Schub der neuen Regierung sei mit der Übertragung des neuen Wirtschafts- und Klimaministeriums an Robert Habeck, Co-Chef der Grünen und zukünftiger Vize-Kanzler, gestärkt worden.

Aber auch im Bereich der Sozialpolitik würde die Ampelregierung Neues bringen. Dies betreffe insbesondere die Hartz‑IV-Gesetzgebung, die nach dem Vorbild des italienischen Diritto di Cittadinanza (Staatsbürgerschaftsrecht) umgestaltet werden soll, welches 2019 von der Fünf-Sterne-Bewegung eingeführt worden war. Was Zivilrechte anbetrifft, stellen neben dem Wahlrecht für 16‑Jährige folgende Reformen einen epochalen Durchbruch dar: die Liberalisierung des Werbungsrechts für Abtreibungskliniken; die Vereinfachung der Regelung, Geschlechtsänderungen anzumelden, und das automatische Recht auf Elternschaft in der Ehe zwischen Frauen.

Hinsichtlich der Legalisierung von Cannabis stimmen die Koalitionäre in Deutschland überein, im Gegensatz zu Italien, wo man unfähig war, eine ähnliche Gesetzgebung auf den Weg zu bringen, obwohl sich an der Unterschriftensammlung für das Legalisierungsreferendum Massen beteiligt hatten. Die Ampelparteien schmücken sich mit dem an Willy Brandt angelehnten Spruch »Mehr Fortschritt wagen«. Dies könnte auch Italien inspirieren, so Antonellis Schluss.

Als die Besetzung der Ministerposten bekannt wurde, war allgemein Lob zu vernehmen. So viele Frauen an der Spitze von entscheidenden Ministerien ist ein großer Fortschritt. Andererseits hatten Journalist*innen nun den Stress, in Erfahrung zu bringen, wer hinter den vielen neuen Namen, die in Italien völlig unbekannt sind, denn eigentlich steckt. Am Ende des Tages stand wenigstens fest, dass die erste Frau, die das Innenministerium leitet, eine Nancy Faeser ist und nicht die amerikanische Philosophin Nancy Fraser.

Nach der Vereidigung der Ampelregierung wird in den italienischen Medien vor allem Scholz’ laizistischer Schwur hervorgehoben. Bedenken kommen auf bezüglich der Schwierigkeit, eine Regierung aus drei Parteien zusammenzuhalten, die alle unter 27 Prozent liegen und in vielen Fragen entgegengesetzte Positionen haben. Lob bekommt Scholz schließlich für seine ersten Antrittsbesuche, die Frankreich, die EU und die NATO politisch-programmatisch miteinander verbinden.

Was die Reaktionen der Spitzenpolitiker angeht, so hat Enrico Letta, Vorsitzender der Demokratischen Partei, getwittert, dass je länger man das Programm der Ampel im Detail betrachte, umso mehr blicke man mit Interesse auf die Innovationen der neuen Koalition, die Deutschland mit Olaf Scholz an der Spitze einleiten will. Giuseppe Conte, Chef der Fünf-Sterne-Bewegung, setzt stattdessen auf die Mindestlohnpolitik. So habe auch seine Partei einen entsprechenden Gesetzesentwurf ins italienische Parlament eingebracht. In einem Land, in dem die Löhne seit 30 Jahren stetig sinken, sei es an der Zeit, zu einer entsprechenden Neuregelung zu kommen.

Geopolitik als Zentralthema

Der Grundton der Reaktionen in Italien auf die Entstehung der Ampelkoalition ist jedoch eher ein anderer. Er ist indirekt und stark an geopolitischen Überlegungen orientiert. Bezeichnend diesbezüglich ist der Kommentar des Philosophen Angelo Bolaffi, der von 2007 bis 2011 Direktor des Italienischen Kulturinstituts in Berlin war. Sein post-marxistischer Gedankengang charakterisiert die Art, wie viele italienische Intellektuelle die neue Regierung in Deutschland wahrnehmen.

Am Ende der Ära Merkel sei es die große Krise der Pandemie gewesen, die als Geburtshelferin der Ampelregierung diente. So mussten die Liberalen viel dazulernen und restriktiven Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit zustimmen. Der Vergleich mit der Wende, die die rot-grüne Regierung Gerhard Schröder 1998 an die Macht brachte, sei zwingend. Damals war die Krise ökonomischer Natur und Deutschland war Europas »kranker Mann«. Schröders radikale Reform des Sozialstaates habe das »Modell Deutschland« zur Referenz für die gesamte europäische Wirtschaft gemacht – jedoch auch zum Kreuz vieler Länder des alten Kontinents.

Olaf Scholz stehe nun in der Traditionslinie des hanseatischen Reformismus wie Helmut Schmidt. So wird er sich im Krisenmanagement der Pandemie, das Zivilrechte einschränkt und die föderale Architektur der Bundesrepublik herausfordert, beweisen müssen. Zudem könne man letztlich nicht voraussagen, was für eine Politik die Ampelregierung hinsichtlich der neuen geopolitischen Herausforderungen am östlichen Rand Europas hervorbringen wird.

So frage er sich, welche Rolle Deutschland zukünftig spielen will, während viele seiner Politiker/innen immer noch hoffen, es zu einer großen Schweiz machen zu können. Stattdessen solle Scholz sich bei Joschka Fischer Rat holen. Dieser habe es klar zum Ausdruck gebracht. Die »Nach-Mauerfall-Epoche« sei definitiv zu Ende gegangen. Deutschlands Aufgabe sei es, »über die Schattenlinie der historischen Schuld zu springen und ein halbes Jahrhundert sakrosankten Pazifismus ad acta zu legen«.

Da sie nicht mehr auf die Unterstützung anderer zählen können, sollten die Europäer unter Deutschlands Leitung ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, wie das auch Angela Merkel schon betont hat. So seien die Sorgen (vieler italienischer Politiker) unbegründet, dass die Ampel dem Druck der Liberalen nachgibt und zurückkehrt zur rigiden Haushaltsorthodoxie. »Das Schicksal Europas sei unwiderruflich dem Primat der Geopolitik unterworfen«, so werde auch die Ampelregierung die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands der machtpolitischen Stellung Europas in der Welt unterordnen müssen. Nach der Vereidigung der neuen Regierung in Berlin legte Bolaffi am 9. Dezember nochmals nach. Der Kompromiss- und Vertagungslogik der Großen Koalition folge endlich wieder die »Zeit der Entscheidung«. So müsse Scholz ein »geopolitisches Bad Godesberg« einleiten. Der Aufbau eines Europas, das sein Schicksal in die Hand nimmt, sei heute »Deutschlands zweite Chance«.

In unterschiedlichen Variationen findet sich dieser Gedankengang in den Kommentaren zum französisch-italienischen Quirinalabkommen wieder, das am 26. November 2021 von Draghi und Macron unterzeichnet wurde und den Löwenanteil der medialen Aufmerksamkeit in der darauffolgenden Woche auf sich zog. In Italien wurde das Abkommen als notwendige Ergänzung des Élysée-Vertrags allseits begrüßt. Es stärke endlich die bilaterale Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Italien und setze jahrzehntelangen Missverständnissen ein Ende, die letztlich sogar dazu geführt hatten, dass sie im Libyenkonflikt sich gegenüberstehende Kriegsparteien unterstützten.

Darüber hinaus stelle das Abkommen ein Gegengewicht zur Achse Berlin-Paris dar und diene somit dem Zusammenhalt Europas. Es stelle sich jedoch auch die Frage nach dem jetzt noch fehlenden dritten Abkommen, das die Beziehungen Deutschlands und Italiens regelt. Diesem Problem geht Ezio Mauro, ehemaliger Herausgeber der Tageszeitung La Repubblica nach. Mit dem Ende der langen Kanzlerschaft Angela Merkels sei Europas wahre Chefin von der Bildfläche abgetreten. Trotz Macrons Ansprüche und angesichts der Ungewissheiten von Scholz’ Regierung sei somit Europa aktuell praktisch führungslos und leide weiterhin an seinen strukturellen Schwächen.

Die zwei privilegierten Allianzen, die nun bestehen, sind der Beweis dafür, dass die europäische Politik ihre aktuellen Schwächen erkannt hat, aber diese auch überwinden muss. Es gilt, ein gemeinsames Europa der Verteidigung und der Solidarität aufzubauen. Ein einheitliches außenpolitisches Subjekt muss sich herausbilden, das die gemeinsame Währung mit einer entsprechenden Staatsräson füllen kann. So sei die logische Ergänzung der französisch-italienischen Allianz ein ebenso ehrgeiziger Vertrag zwischen Italien und Deutschland, damit das Dreieck geschlossen und zum Motor werde, der Europa aus der aktuellen Blockade herausziehen könne.

Wie jeder weiß, so Mauros Schluss, wird diese Phase der Neukonstituierung Europas ganz unterschiedlich aussehen, abhängig davon, ob eine Mitte-Links-Koalition oder die Rechte unter Giorgia Meloni (Vorsitzende der Partei Fratelli d’Italia) und Matteo Salvini (Vorsitzender der Lega) mit ihren Visegrád-Sehnsüchten die Wahlen 2023 gewinnen wird. Sollte es jedoch Enrico Letta schaffen, um die Demokratische Partei eine »italienische Ampel« mit der Fünf-Sterne-Bewegung, den Resten der Berlusconi-Partei sowie der Linken und den Ökologen zu scharen, stelle sich eine weitere Frage: Wenn ein deutsch-italienisches Abkommen eine sozialdemokratische Handschrift bekommen soll, muss die Zusammenarbeit zwischen deutscher und italienischer Sozialdemokratie erheblich intensiviert werden. Davon ist jedoch bislang wenig zu sehen.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben