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Für einen handlungsfähigen Staat Comeback eines Abgeschriebenen

Es ist mehr als ein Zufall, dass der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP mit grundlegenden Ausführungen zum Staat beginnt. Auf 16 Seiten machen die Koalitionäre ganz zu Beginn ihrer Vereinbarung deutlich, dass ihre zentralen Anliegen ohne einen handlungsfähigen, modernen Staat nicht erreichbar sein werden. Seite auf Seite folgen Überlegungen dazu, was der bundesrepublikanische Staat stemmen soll und wie er dafür aufgestellt sein muss.

Damit liegt der Koalitionsvertrag voll im Trend: Der Staat ist zurück. In der praktischen Politik und in der intellektuellen Debatte spielen die Gestaltungspotenziale des Staates wieder eine Rolle. Das ist bemerkenswert, schließlich gab es in den vergangenen vier Jahrzehnten in der Verhältnisbestimmung zwischen Staat, Markt und Gesellschaft vor allem eine Stoßrichtung: Der Markt war überlegen, der Staat sollte zurückgedrängt werden.

Andreas Reckwitz hat in diesem Zusammenhang von einem Dynamisierungsliberalismus gesprochen und meinte damit eine Politik, die vor allem darauf aus ist, zu deregulieren, den Märkten und den Einzelnen in diesen Märkten das Feld zu überlassen und die staatlichen Steuerungsfunktionen deutlich zurückzufahren.

In den westlichen Gesellschaften hat die neoliberale Staatsverachtung tiefe Spuren hinterlassen. Über Jahrzehnte aufgebaute Strukturen der öffentlichen Daseinsvorsorge und solidarische Mechanismen zur Absicherung gegen die großen Lebensrisiken wurden in rascher Zeit geschliffen. In den östlichen Gesellschaften traf der Marktradikalismus nach dem Scheitern des sogenannten realexistierenden Sozialismus in ein ideologisches und institutionelles Vakuum und konnte sich deshalb kaum gezügelt entfalten. Rücksichtsloser Raubtierkapitalismus und grenzenlose Bereicherung für einige Wenige, der Fall ins Bodenlose für viele andere prägen bis heute diese Gesellschaften.

Nach vier Jahrzehnten überbordender Marktgläubigkeit in allen Teilen der Welt sind nun aber wieder die Stimmen lauter, die einen aktiven Staat einfordern, wiederum in fast allen Teilen der Welt: In den USA versucht Präsident Joe Biden, den Staat mit einem riesigen Investitionspaket zum Innovationstreiber zu machen, die EU zielt mit dem »Green New Deal« primär auf staatliches Handeln ab, um Europa klimaneutral zu gestalten. Und die drastischen Erfahrungen der Corona-Pandemie zeigen überall: Ein handlungsfähiger Staat ist entscheidend in Zeiten der Krise. Innerhalb kürzester Zeit konnte der Staat eine ungeahnte Wirkungsmacht entfalten und die Verheerungen der Pandemie vielenorts zumindest deutlich abfedern.

Der Staat spielt also wieder eine Rolle als Agentur für gesellschaftliches Gestalten. Noch dazu greift die Erkenntnis um sich, dass wir mit einem runtergefahrenen Rumpfstaat die Aufgaben, die vor uns liegen, nicht werden bewältigen können. Aber: Welchen Staat wollen wir? Und welchen Staat brauchen wir? Um diese Fragen zu beantworten, lohnt ein kurzer Rückblick auf die ideengeschichtliche Entstehung moderner Staatlichkeit.

Was soll ein Staat eigentlich?

Moderne Staatskonzepte haben ihren Ursprung in der Philosophie der Aufklärung. Wir bringen zum Beispiel John Locke, Immanuel Kant oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel damit in Verbindung. Häufig war deren Denken von Staatlichkeit mit sogenannten Vertragstheorien verknüpft. In einem irgendwie vorgestellten Ur- oder Naturzustand waren die Menschen frei, aber zugleich auch bedroht. Ihre Sicherheit war gefährdet, etwa im Sinne der berühmten Wendung von Thomas Hobbes, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei.

Zu einem bestimmten Zweck, der ihnen einsichtig und anschlussfähig erschien, haben sich dann diese Menschen zusammengetan. Sie haben untereinander einen Vertrag abgeschlossen und damit einen Staat gegründet. Mit Hilfe dieses Staates konnten sie den Gefahren, die sie bedrohten, begegnen, so die Grundannahme der Vertragstheoretiker.

Freilich gab es ganz unterschiedliche Varianten davon, wie genau dieser Staat aussehen könnte und was eigentlich die Bedrohung sei, um derentwillen der Staat entstehen müsse. Aber das Grundanliegen der Vertragstheoretiker verweist auf die eigentliche Idee von Staatlichkeit: Es geht um einen vernünftigen Zweck, der den Menschen dienen soll. Mit Vernunft ist dabei die Fähigkeit des Einzelnen gemeint, herauszufinden, was nicht nur für ihn oder sie unmittelbar verlockend oder günstig ist, sondern was für alle langfristig gut ist. Nicht kurzfristiger Egoismus, sondern langfristiges Gemeinwohl sollte die Idee prägen, was der Staat sein kann und soll. Kurzum: Der Staat dient ganz den langfristigen Interessen der Bürgerinnen und Bürger. So zumindest die Idee.

Wie stand die SPD zum Staat?

In der Arbeiterbewegung hat es lange ein Spannungsverhältnis gegeben zwischen denjenigen, die den Staat ablehnten und denjenigen die anerkannten, dass man nur den Zweck des Staates richtig fassen müsse. Die »Staatsverneiner« haben laut Ulrich Sarcinelli in der Tradition von Karl Marx den Staat als Instrument der herrschenden Klassen begriffen, den es zu überwinden gelte. Schon Friedrich Engels hat hierauf eine viel differenziertere Perspektive entfaltet. Dennoch blieben die »Staatsverneiner« mindestens über das erste Drittel der sozialdemokratischen Parteigeschichte einflussreich. Das kann nicht verwundern, angesichts der Realität des kaiserlichen Deutschlands, das die Arbeiterbewegung bewusst ausgrenzte.

Die »Staatsbejaher«, wie Sarcinelli die andere Seite nennt, waren ebenfalls von Anfang an in der organisierten Arbeiterbewegung vertreten. Der Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) Ferdinand Lassalle etwa zielte keineswegs auf eine grundsätzliche Überwindung des Staates ab. Ihm ging es darum, diesen zu reformieren. Spätestens in der Weimarer Republik zeigte sich, dass der Staat – wenn seine Zwecke demokratisch legitimiert und definiert werden – den Interessen der Mehrheit dienen kann.

Kurt Klotzbachs Buch über die SPD in den Jahren von 1945–1965 trägt schließlich den programmatischen Titel Auf dem Weg zur Staatspartei. Damit ist nicht nur gemeint, dass die SPD im bundesrepublikanischen Staat immer einflussreicher wurde, sondern dass sie ein positives Verhältnis zum Staat entwickelt hatte, und ihn als Gestaltungsinstrument begriff, um demokratische und soziale Reformen voranzutreiben.

Um so erstaunlicher waren die Jahre um die vergangene Jahrhundertwende. Die Regierungs-SPD hatte – damals ganz auf der Höhe der Zeit – die Analyse übernommen, dass der Staat vor allem ein Hemmschuh für wirtschaftliche Dynamik sei und das Freiheitsstreben des Einzelnen beschränke. Um so wichtiger scheint es nun angesichts veränderter Zeiten und Herausforderungen zu sein, zu klären, was der Staat eigentlich leisten kann und soll und wie er dafür beschaffen sein muss.

Heute sind es mindestens drei Gefahren, vor deren Hintergrund die Zwecke eines modernen Staates entwickelt werden müssen: Die gefährdete Freiheit, die wachsenden sozialen Fliehkräfte in unseren Gesellschaften und die gewaltigen ökologischen Verheerungen, die uns bedrohen.

Im Einzelnen: Erstens: Ein moderner Staat muss Freiheit gewährleisten. Mit dem Ausbau moderner Staatlichkeit ging eine Ausdehnung von Freiheitsrechten Einzelner einher. Staatsbürgerliche Gleichheit sollte garantieren, dass sich Bürgerinnen und Bürger auf Augenhöhe begegnen und dass das Maß an Freiheit nicht von der Größe der Geldbörse oder der Gnade der Stärkeren abhängt. Der Anspruch der Sozialdemokratie war dabei, dass es nach und nach zu einer Ausdehnung demokratischer Rechte auf alle Bereiche unseres Zusammenlebens kommt, auch in der Wirtschaft. Nicht demokratisch legitimierte Macht galt es zu überwinden. Der demokratische Staat war dafür ein Vehikel.

Inzwischen erleben wir, dass selbst in etablierten Demokratien Freiheitsrechte mitunter wieder umstritten sind und eingeschränkt werden. Das Recht auf Abtreibung oder die Freiheitsrechte homosexueller Menschen sind nur zwei Beispiele dafür, welche individuellen Freiheiten in einigen Ländern wieder beschränkt werden. Dabei zeigt sich auch die Janusköpfigkeit staatlicher Strukturen. Sie können eben nicht nur Freiheiten gewährleisten, sondern auch autoritär und freiheitsfeindlich wirken. Es gilt, den Staat als Garant von Freiheitsrechten zu stärken.

Eine wichtige Aufgabe wird dabei auch sein, die Mechanismen demokratischen Aushandelns und demokratischer Kompromissorientierung selbst zu verteidigen. Es war Carlo Schmid, der als einer der sozialdemokratischen Väter des Grundgesetzes leidenschaftlich für die Verteidigung demokratischer Prinzipien plädiert hat. Ein demokratischer Staat ist kein Staat des »anything goes«. Im Gegenteil: »Wo man den Mut hat, an [die Demokratie] als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben (…) muss man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.«

Zweitens: Ein moderner Staat muss gesellschaftlichen Zusammenhalt befördern. Der Staat ist die einzige Instanz, der gegenüber wir uns als Gleiche begegnen können. Angesichts immer weiter zerfasernder Gesellschaften, in denen Einzigartigkeit zum kulturell-ästhetischen Leitstern wird und in denen sich eigene Kommunikations- und Wahrnehmungswelten entwickeln, die einigermaßen losgelöst nebeneinander bestehen, ist das von zentraler Bedeutung. Die Begegnung mit dem Staat und das staatliche Handeln können verbindend wirken in einer Zeit, in der vieles auseinanderstrebt.

Um tatsächlich Verbindendes zu stiften, muss der Staat sowohl für den Einzelnen Sicherheit geben als auch starke, gemeinsame Strukturen schaffen. Das Gefühl, dass der Staat Sicherheit gewährleistet, auch wenn vieles anderes im Leben schiefgeht, hat in den neoliberalen Jahrzehnten allerdings gelitten. Untersuchungen belegen deutlich, dass Menschen, die sich an den Staat wenden, etwa in Zeiten von Arbeitslosigkeit den Staat nicht als Sicherheitsanker wahrnehmen, sondern im Gegenteil als verunsichernd. Sigrid Betzelt und Ingo Bode haben 2018 in ihrem Buch Angst im neuen Wohlfahrtsstaat nachgezeichnet, dass der Sozialstaat in Folge der Reformen der vergangenen zwei Jahrzehnte vom »Angsthemmer« zum »Angstreiber« geworden sei.

Die Abkehr von der Statussicherung, verschärfte Zumutbarkeitskriterien und nicht zuletzt die Zunahme atypischer Beschäftigung, die per se nicht auf Berechenbarkeit und Langfristigkeit angelegt ist, sind wichtige Beschleuniger dieses veränderten Empfindens. Hier muss sich staatliches Handeln verändern, um Sicherheit und damit gesellschaftlichen Zusammenhalt zu ermöglichen und zugleich das Verhältnis von öffentlicher Fürsorge und privater Verantwortung neu auszutarieren.

Andererseits geht es darum, starke, verbindende Strukturen zu schaffen. Nach Jahrzehnten öffentlicher Sparpolitik gilt es, Infrastruktur auch in der Fläche zu fördern, öffentliche Güter zu stärken und gepflegte öffentliche Räume zu schaffen, in denen man sich begegnen kann, frei von kommerziellen Interessen. Die wachsende Kluft zwischen Städten, in denen es vieles davon gibt, und Dörfern und Landstrichen, die abgehängt sind, muss ein Zusammenhalt stiftender Staat so gut es geht schließen.

Drittens muss ein moderner Staat die ökologische Transformation steuern. In der Abkehr der existenziellen Bedrohung für menschliches Leben auf diesem Planeten liegt die größte Herausforderung für staatliches Handeln. Es wird umfassendes Umsteuern in vielen Bereichen unseres Zusammenlebens vonnöten sein. Die Art und Weise wie wir arbeiten, reisen, wohnen, essen und wirtschaften wird sich verändern und staatliche Strukturen sind die einzigen Strukturen, die diesen Wandel umfassend steuern können.

Das bedeutet bei Weitem nicht, dass nicht auch andere Strukturen Teil dieses Wandels sind und zu ihm beitragen. Ohne private Initiativen, zivilgesellschaftliches Handeln und unternehmerisches Engagement werden die gewaltigen Aufgaben nicht zu bewältigen sein. Aber staatliches Handeln kann an verschiedenen Stellen etwas leisten, was andere Akteure nicht oder weniger gut leisten können. Er kann etwa die Geschwindigkeit und die Richtung des Wandels demokratisch rückkoppeln und so eine gesellschaftliche Grundlage für den Wandel sichern. Staatliches Handeln kann ferner dazu beitragen, dass die Transformation schneller gelingt und dass die Zahl derjenigen die unter dem Wandel leiden, gering bleibt. Auch die Möglichkeit, frei von Marktzwängen Investitionen vorzunehmen, die sich erst langfristig auszahlen, ist vor allem dem Staat gegeben.

Damit sind einige der Zwecke skizziert, die moderne Staaten erfüllen müssen. Ein neoliberaler Nachtwächterstaat wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Auch die Wohlfahrtsstaaten der 70er Jahre entsprechen nicht den aktuellen Notwendigkeiten. Was dann? Andreas Reckwitz spricht von einem »resilienten Infrastrukturstaat«, Marc Saxer zeichnet das Bild eines »hegenden und pflegenden Gärtnerstaates« und Dierk Hirschel schreibt vom »Staat als Steuermann«. Egal, welches Bild man wählt, klar ist, dass es einen aktiven und gestaltenden Staat braucht, demokratisch kontrolliert und den langfristigen Interessen seiner Bürgerinnen und Bürger dienend. Keine Kleinigkeit. Aber die Renaissance des Staates in Zeiten der Pandemie zeigt: Es ist ziemlich viel möglich, wenn es gewollt wird.

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