Für viele von uns medizinischen Laien begann das Augenöffnen durch das Coronavirus gleich mit dem ersten Fachkommentar. Es war interessant und für die meisten wohl neu zu hören, dass der überzeugende Virenexperte Christian Drosten, der sich fortan im Interesse der Volksaufklärung an jedem frühen Nachmittag fast eine Stunde im NDR für detaillierte Befragungen zu den wechselnden Sachständen zur Verfügung stellte, an der Berliner Charité eine Professur für »emergente Viren« innehat. »Emergente« Viren? Und dann auch noch als ausschließliche Widmung einer ganzen Professur – und vieler weiterer in der Welt? Das machte nachdenklich. Offenbar bleibt der unerwartete Einbruch neuer Viren aus dem Tierreich in die Menschenwelt dauerhaft ein großes Thema – nicht nur für die Wissenschaft. Es geht, so erfuhr man später, um zehntausende unterschiedliche Spezies, mit denen dabei immer zu rechnen ist. Das ändert die Lage für Gesellschaft, Staat und uns alle. Welche Eigenschaften die überspringenden Viren dann jeweils haben, welche Ansteckungsfähigkeit, welche Wirkungen, welche Krankheitsbilder mit welchen Verläufen sie hervorrufen sowie alles Weitere, das zu wissen ihre erfolgreiche Eindämmung ermöglicht, kann immer erst ermittelt werden, wenn sie im Menschen angekommen sind. Hinzu können zwei Eigenarten eines neuen Virus kommen, die wie im Falle von Corona den medizinischen Umgang mit der Herausforderung sehr erschweren: Sie können wichtige Eigenschaften mit schon bekannten Viren teilen (hier der Sars-Gruppe), aber nicht die Ansteckungswege und die Art der Schädigungen der Patienten. Und manche können ziemlich schnell mutieren, so dass sie schwer zu fassen sind.
An der Herkulesaufgabe, das damit gegebene Rätsel so rasch wie möglich zu lösen, arbeiten seit der Entdeckung von Covid-19 die besten Virologen der Welt in engen Netzwerkverbünden, in denen fast alles Wissenswerte und neu Entdeckte tagesaktuell um den Globus geht. Wie in jedem echten Forschungsprojekt verändern sich in diesem Prozess das Wissen und damit unweigerlich die Folgerungen für die Praxis. In Deutschland ist es das beispielgebende Verdienst von Christian Drosten, genau das auf nüchterne Weise überzeugend vorgeführt, gleichsam verkörpert zu haben. Der zweckgerichteten Taktik einiger Politiker und einiger dafür einschlägig bekannter Massenmedien, die informierende, aufklärende Rolle der Wissenschaft und die Entscheidungs- und Verantwortungsfunktion der Politik zu vermengen und daraus Kapital zu schlagen, hat dieser Wissenschaftler durch klare Unterscheidungen und Relativierungen in nahezu jeder seiner öffentlichen Äußerungen entgegen gewirkt. Es hat leider nicht immer genutzt. Das zeigte in Reinkultur der skurrile Versuch der rheinischen Frohnatur Armin Laschet, sich für sein naiv drängendes, aber höchst risikoreiches Bemühen um frühestmögliche »Lockerung« der verhängten Sperren hinter einem anderen Experten für Virologie zu verstecken, der sich dafür zur Verfügung stellte. Es geriet bei vielen auf allen Seiten der künstlich errichteten Frontlinien von Medien, Politik und Wissenschaft aus dem Blick, dass die Logik der Letzteren gerade darin besteht, Erkenntnisfortschritte durch eine gewisse Skepsis gegenüber dem jeweils Erreichten zu erzielen. Ungeachtet dessen, muss sich die Politik zwar am jeweiligen Erkenntnisstand orientieren, aber sich ihm nicht unterwerfen. Da sie bei ihren Entscheidungen, die das Wohlergehen oder gar das Leben einer großen Zahl von Menschen betreffen, noch viele andere Interessen und Gesichtspunkte zu berücksichtigen und aufkommende Zweifel in Rechnung zu stellen hat, muss sie der Versuchung widerstehen, sich hinter dem ohnehin recht schmalen Rücken der Wissenschaft verstecken zu wollen. Einmalig, wie so vieles an diesem irregulären Zeitgenossen, dürfte in diesem Zusammenhang die jüngste Aktion Donald Trumps sein, einen unliebsamen Experten wie Professor Anthony Fauci brutal »abzuschießen«, wenn er sich verantwortungsloser Politik tapfer, wenn auch fast ohne Erfolg, in den Weg stellt.
Die Art, wie die entscheidungsbefugten Politiker in den vom Virus heimgesuchten Ländern mit dieser ebenso überraschenden wie schwerwiegenden Herausforderung umgegangen sind, dürfte, nein muss unbedingt in die Lehrbücher eingehen. Der Grundbefund zeigt nämlich, dass nicht die Eigenart des jeweiligen Regierungssystems, Demokratie oder Diktatur, die Scheidelinie zwischen Erfolg und Versagen bei der Bekämpfung des Virus markiert, sondern die Fähigkeit und das Verantwortungsbewusstsein der jeweiligen Regierungen unabhängig vom gegebenen politischen System (Wolfgang Merkel in NG|FH 5/2020). Beispielgebend erfolgreich waren die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, die Volksrepublik China und zu Beginn die Republik Südkorea, am eklatantesten versagt haben die großen Demokratien Brasilien, Indien und allen voran die USA. Letztere trotz der zur Verfügung stehenden nahezu unbegrenzten technischen und finanziellen Möglichkeiten. Ein Befund, der, nebenbei gesagt, auch Anlass zum Überdenken der bisher vorherrschenden eindimensionalen Kategorisierungen politischer Systeme geben kann. Karl R. Popper behält recht: Institutionen sind wie Festungen, ob sie halten oder fallen, hängt allein von ihren Besatzungen ab.
Im Falle von Covid-19 haben sich Erfolg und Misserfolg klar und deutlich an den aktuellen Fallzahlen und vielleicht mehr noch an den Todesraten im weltweiten Vergleich gezeigt. In schrillen Manövern greifen die offenkundigen Versager daher zu teils hanebüchenen Ausreden und enthemmten Schuldzuweisungen, um wenigstens ihre eigene Haut zu retten, wie üblich allen voran der ahnungslose, enthemmte Prahlhans im Weißen Haus. Damit torpedieren sie die Voraussetzungen genau jener globalen Kooperation, auf deren Erfolg es bei der Bewältigung dieser Pandemie jetzt und beim nächsten Mal gerade ankommt. Ein kurzer Blick auf die Abläufe ist ratsam. Die Berichte der ehemaligen WHO-Präsidentin Gro Harlem Brundtland sowie Recherchen des Spiegel verleihen einigen Daten besonderes Gewicht: Unklare Anzeichen für dieses Virus und erste Infektionen auch außerhalb Chinas gab es, wie sich im Nachhinein zeigt, bereits in den letzten Monaten des Jahres 2019. Am 30. Dezember 2019 erhält die Virologin Ai Fen im Zentralkrankenhaus Wuhan einen Laborbefund, der den neu aufgetretenen Virus »Sars-Coronavirus« bestätigt. Das erfährt an diesem Tag auch der berühmt gewordene und später an der neuen Krankheit verstorbene Wuhaner Augenarzt Li Wenliang, auf dessen Netzkommunikation zum Thema die örtlichen Gesundheitsbehörden repressiv reagieren. Brundtland zufolge ist seit dem 1. Januar 2020 öffentlich (und damit im digitalen Zeitalter auch »weltöffentlich«) präsent, dass in Wuhan ein neues Sars-Virus gefunden wurde, das offenbar von Mensch zu Mensch übertragbar ist. Am 11. Januar veröffentlicht das Klinische Zentrum für öffentliche Gesundheit in Shanghai die vollständige Gensequenz des Erregers. Am 20. Januar geben chinesische Behörden diesen Befund amtlich bekannt und zehn Tage später ruft die WHO den Internationalen Gesundheitsnotstand aus.
Allerspätestens von diesem Augenblick an wusste jeder Virologe und jeder Politiker auf der Welt, was die Stunde geschlagen hat und konnte mit den Beratungen und Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung beginnen. Fernhalten aus einzelnen Ländern lässt sich ein solches Virus grundsätzlich nicht, wie Experten urteilen (so Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung), Vorboten waren schon im Spätsommer 2019 in Europa aufgetaucht. Worauf es nun allein noch ankam, war der Schutz der Bevölkerung durch Vorsorge, Eingrenzung, Abwehr, Minimierung der Folgen durch ein vorbereitetes und handlungsfähiges Gesundheitssystem. Erst am 10. März erkannten die Experten in Europa die Tragweite der Bedrohung und die Politiker begannen zu handeln. Dann allerdings in den meisten EU-Ländern konsequent, wenn auch leider nicht gemeinsam. Im Gegensatz dazu verlegten sich die beiden populistischen Brüder im Geiste und an der Macht, der amerikanische und der brasilianische Präsident, Donald Trump und Jair Bolsonaro, zuerst mehr als drei Monate lang auf glattes Leugnen der Gefahr, teils mit pseudo-medizinischen, teils mit ideologischen Floskeln (»leichtes Grippchen«). Als das nicht mehr half, folgten im Falle Trumps prahlerische Medienauftritte mit der Parole »Ich, der Kriegspräsident, habe alles im Griff«. Als das Virus sich partout nicht wegtricksen lassen wollte, schaltete Trump zunehmend auf ebenso aggressive, wie absurde Schuldzuweisungen um, als könnte durch sie irgendeinem Menschen, außer ihm selbst, geholfen werden.
Das Virus legte das Unvermögen und die Verantwortungslosigkeit der rechten Populisten schonungslos offen. Sie aktivierten ihren alten Trick der Ablenkung von echten Problemen durch die Brandmarkung von Sündenböcken. Das wird nicht helfen, da die wachsende Not dadurch nicht verschwindet und mehr und mehr Menschen, am meisten die Ärmsten und Geschwächten, das Leiden hautnah erfahren. Trump versucht der amerikanischen Öffentlichkeit einzureden, das Virus – »the Chinese Virus« oder gar die »chinesische Pest (plague)« – sei eine Art Kriegführung Chinas gegen die USA, jedenfalls eine gezielte Aktion. Seine Hilfstruppen in Deutschland haben vor einiger Zeit tatsächlich begonnen, die Summen für den folglich einzuklagenden Schadensersatz zu kalkulieren. Covid-19 wird zum Baustein für einen neuen Kalten Krieg. Trump und seine Gefolgsleute sollten ihre Taktik zur Ernüchterung einmal an der sogenannten »Spanischen Grippe« am Ende des Ersten Weltkriegs durchspielen. Diese wurde von einem US-Soldaten nach Europa eingeschleppt und kostete 20–50 Millionen Menschen das Leben, mehr als der ganze Krieg. Da mittlerweile alle Zweifel ausgeräumt sind, das Virus sei in einem chinesischen Labor fabriziert worden und klar ist, dass es »emergent«, also unvorhersehbar in die Menschenwelt getreten ist, fehlt für Schuldzuweisungen hinsichtlich seiner Entstehung jede Grundlage. Das gleiche gilt für den Grenzübertritt des Virus schon kurz nach der Entdeckung, trotz der beispiellos massiven Isolation der Riesenstadt Wuhan, weil in einer globalisierten Welt die Schotten für diese Art von »Reisenden« nie lückenlos dichtgemacht werden können. Von »Schuld« kann folglich nur im Hinblick auf den politischen Umgang mit der Gefährdung in den einzelnen Ländern gesprochen werden, nachdem die Existenz des Virus selbst und damit die Wahrscheinlichkeit einer Ausbreitung weltweit bekannt geworden war – also an einem Tag im Januar 2020.
Vermutlich hätte die chinesische Führung ihre offizielle internationale Warnung in der Tat eine Reihe von Tagen früher veröffentlichen können. Wahrscheinlich haben dem zwei Gründe entgegengewirkt. Der eine liegt im komplizierten Mit- und Gegeneinander der politischen Autoritäten auf der Zentral- und den Regionalebenen des Landes, die letztere dazu verleitet, an spektakulären Schadensfällen der vorliegenden Art so lange wie möglich selbst herumzuwerkeln und die frühe Veröffentlichung von Informationen zu verhindern, wie in Wuhan geschehen, um zu vermeiden, dass die Zentrale sie der Unfähigkeit zur Lösung eines großen Problems zeiht. Dieses bekannte strukturell-funktionale Defizit ist die unvermeidliche Kehrseite der Fähigkeit des Autoritarismus zum widerspruchslosen Durchgreifen, wo es geboten erscheint, was dann bei den folgenden Schließungen demonstriert wurde. Es liegt auch nahe, dass in einem Fall wie dem vorliegenden zu lange nach »absoluter« Gewissheit über die Natur und den Gefährdungsgrad des noch unbekannten Risikos gesucht und in den Zirkeln der Macht debattiert wurde, bevor die imageschädigende und Verunsicherung stiftende Nachricht in die Welt gesetzt wurde. Sobald dann der Entschluss dazu gefasst war, hat China mit atemberaubender Konsequenz die Ausbreitung des Virus im Lande unterbunden und damit auch dessen »Flucht« über die Grenzen zumindest stark eingedämmt – auf Kosten des Lebens in der Stadt Wuhan. Wenn die Dynamik der Pandemie gebrochen und der amerikanische Wahlkampf vorüber ist, sollte eine neutrale internationale Expertengruppe in China nach Antworten auf die offenen Fragen suchen.
Für den Weg der USA ins Desaster, das immer weitergehende Massensterben, die dreieinhalb Millionen infizierten Menschen, die mehr als 150.000 Toten (Stand Ende Juli), die krasse Ungleichheit zwischen Arm und Reich, Schwarz und Weiß selbst noch im Sterben, tragen allein Donald Trump und die zu seinem willfährigen Resonanzboden verkümmerte Republikanische Partei die Verantwortung. Das liegt klar zu Tage. Das Virus hat es gezeigt: Auch demokratische Institutionen können nicht funktionieren, wenn die Nervenbahnen der Öffentlichkeit beschädigt, die Gesellschaft heillos gespalten und das politische Leben aggressiv polarisiert ist. An letzterem aber hat dieser Präsident selbst dann noch unablässig weitergearbeitet, als sein Land schon am Boden lag. Mit China hat das nichts zu tun.
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