Menü

Corona und die Zivilgesellschaft in Europa

Die Zivilgesellschaft gehört zu den Opfern der Corona-Krise und ihre Schwächung zu den Kollateralschäden ihrer Bekämpfung. Zwar kam es in der heißen Phase, vor allem im März, zu beeindruckenden Manifestationen des spontanen, nicht organisierten, solidarischen Engagements, zu freiwilligem Einsatz von Helfern, nachbarschaftlicher Unterstützung, Spenden und Demonstrationen des Zusammenhalts. Bisweilen keimte sogar die Hoffnung auf, man könne manches davon für die Zukunft bewahren und damit langfristig die freiwillige Gemeinwohlorientierung stärken. Aber gleichzeitig fand eben eine empfindliche Schwächung der Zivilgesellschaft statt. Die Aktivitäten vieler ihrer Organisationen – von den Sport- und Nachbarschaftsvereinen über die vielfältigen Freundes- und Förderzirkel bis zu den Basisorganisationen des politischen und kirchlichen Lebens – wurden eingestellt oder heruntergefahren. Bürgerinitiativen versandeten, Versammlungen, Proteste und Demonstrationen fielen aus. Aber zivilgesellschaftliches Engagement braucht öffentlichen Raum. Selbstorganisierte gemeinsame Aktion braucht öffentliche Kommunikation. All das fehlte jetzt weitgehend. Mit der Öffentlichkeit erstarrte zugleich auch die Zivilgesellschaft.

Die elektronischen Medien boten keinen vollen Ersatz. Die Digitalisierung hat zwar die Selbst-Organisationsfähigkeit zivilgesellschaftlicher Gruppen teilweise erhöht. Aber zur Attraktivität von Vereinen gehört eben die Verbindung von zweckgerichteter Arbeit und Geselligkeit. Kollektive Proteste verlieren an Kraft, wenn sie nur noch digital und nicht mehr auf der Straße veranstaltet werden können. Zivilgesellschaft fußt auf erlebter Gemeinsamkeit. »Social distancing«, das zunehmende Ausweichen auf Heimarbeit, die erzwungene Vereinzelung und die Stimmung des Misstrauens gegenüber den anderen als potenziellen Trägern von Viren – all das widersprach den Prinzipien und der Kultur von Zivilgesellschaft. Grenzüberschreitende Initiativen wurden überdies durch die wiedererrichteten Grenzkontrollen erschwert oder verhindert. In der Krisenrhetorik der Regierungen spielte bürgerschaftliches Engagement kaum eine Rolle. Hauptträger der Krisenbewältigung waren einerseits die staatlichen Instanzen, andererseits die Familien und Haushalte. Die Räume dazwischen – die Sphären von Markt und Zivilgesellschaft – wurden marginalisiert.

Dies war eindeutig ein Bruch mit der Entwicklung der vorangehenden Jahrzehnte, in denen sich die Zivilgesellschaft im Aufwind befand, wuchs und an politischem Gewicht gewann.

Jeder Dritte ist hierzulande irgendwie zivilgesellschaftlich engagiert. Informelles, d. h. nicht oder kaum organisiertes zivilgesellschaftliches Engagement lässt sich kaum quantifizieren, nimmt aber insgesamt zu. In der organisierten Zivilgesellschaft stellen Vereine den bei weitem größten Anteil der insgesamt mehr als 630.000 einschlägigen Organisationen. Stiftungen, gemeinnützige GmbHs, Genossenschaften und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bilden eine rasch wachsende Minderheit. Weiterhin stellt der Sport den größten Einzelposten dar, aber auch der Bereich »Soziale Dienste und Gesundheit« bekommt nach wie vor viel Unterstützung, während die Bereiche »Bildung und Erziehung« sowie »Kultur und Medien« anteilsmäßig zunehmen. Es gibt sehr große zivilgesellschaftliche Organisationen, die Caritas beispielsweise beschäftigt 660.000 hauptamtliche Mitarbeiter, die von Hunderttausenden Ehrenamtlichen und Freiwilligen unterstützt werden. Aber der überwiegende Teil der zivilgesellschaftlichen Organisationen ist klein. Drei von vier arbeiten ohne bezahlte Beschäftigte. 50 % haben ein jährliches Einkommen von weniger als 10.000 Euro. Mitgliedsbeiträge stellen die größte Einkommensquelle dar, öffentliche Zuschüsse decken insgesamt nur etwa 10 %. Dass man »nicht staatlich« ist, sich »freiwillig« engagiert, »nicht gewinnorientiert« arbeitet und – häufig – irgendwie etwas für das »Gemeinwohl« tut, das gehört zum verbreiteten Selbstverständnis der Organisationen, von denen sehr viele nach innen der Geselligkeit dienen, während sie nach außen Leistungen erbringen oder Einfluss ausüben.

Im Aufwind befand sich besonders die »politische Zivilgesellschaft«, also jener kleine Teil, der sich ausdrücklich politischen Zielen widmet. Er hat in den letzten Jahrzehnten an Umfang und Einfluss gewonnen. Dies zeigt sich beispielsweise am wachsenden Einfluss von Stiftungen, Wissenschaftlergruppen und Thinktanks auf die politische Willensbildung, vor allem aber an den ungemein wirkungsvollen Interventionen, mit denen eine rasant wachsende Zahl von zivilgesellschaftlichen Aktionen, Netzwerken und Organisationen in der Flüchtlingskrise 2015/16 und zuletzt im Kampf gegen Umweltzerstörung und Klimawandel die Politik des Landes beeinflusst und gesellschaftliche Mentalitäten verändert haben.

Wie nie zuvor sind damit zivilgesellschaftliche Gruppen zu politisch handelnden Subjekten geworden. Häufig vertreten sie kritische, ja oppositionelle Haltungen gegenüber der Mainstream-Politik, oft auch gegenüber dem parlamentarischen Politiksystem selbst, und zwar auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Dass zivilgesellschaftliche Akteure als mutige Kritiker etablierter Machtverhältnisse auftreten, war und ist aus der oft ruhmreichen Geschichte des zivilgesellschaftlichen Engagements in autoritären und diktatorischen Herrschaftssystemen bekannt – mit einem Höhepunkt in der gewaltlosen Revolution von 1989. Doch auch in den liberal-demokratischen Verfassungsstaaten fehlt es nicht an Konflikten zwischen staatlichen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Kräften, wenn diese ihre Forderungen mit moralischer Unbedingtheit und in spektakulären Protesten vertreten, oder auch wenn es um ihre Anerkennung als gemeinwohlorientierte Organisationen mit entsprechenden Steuerprivilegien geht. Diese Spannungen haben wohl Sprecher der politischen Zivilgesellschaft im Blick, wenn sie bisweilen über »schrumpfende Spielräume« ihres Engagements klagen. Zivilgesellschaft und Konflikt haben viel miteinander zu tun.

Zivilgesellschaftliche Netzwerke haben seit jeher nationalstaatliche Grenzen überbrückt. Die INGOs – Internationale Nichtregierungsorganisationen – hatten in den letzten Jahrzehnten Hochkonjunktur. Es ist unübersehbar, dass der Aufschwung der politischen Zivilgesellschaft vor allem im Einsatz für grenzüberschreitende, globale Geltung beanspruchende, universale Ziele stattfand, etwa im Einsatz für Menschenrechte, im Kampf gegen weltweite Armut oder in Kampagnen zum Schutz der Natur. Getragen wurden diese Einsätze häufig von nationalen Untergliederungen internationaler Organisationen und Netzwerke wie Fridays for Future, Amnesty International, Oxfam oder Greenpeace. Auch die europäische Integration fand teilweise mit zivilgesellschaftlichen Mitteln statt. Auf der einen Seite wurde die europaweite Verflechtung immer dichter, dank vielfältiger Reisen, Austauschprogramme, grenzüberschreitender Wissenschaftskooperation und lebhafter Verknüpfung in Kunst und Kultur. Auf der anderen Seite sind die Brüsseler EU-Institutionen zu Initiatoren, Ankerpunkten und Partnern für europaweit organisierte Gruppen geworden, die zivilgesellschaftliche Selbstorganisation mit verbandstypischer Lobbyarbeit verbinden. Beispielsweise kooperiert der »Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss« in der jetzigen Corona-Krise eng mit gemeinnützigen Sozialunternehmen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die, so der Ausschuss, »in vielen Mitgliedstaaten das Rückgrat der Sozial- und Gesundheitssysteme bilden«. Die zivilgesellschaftliche Dimension der europäischen Integration ist wenig spektakulär, aber stabilisierend. Allerdings haben weder die globalen Kampagnen der INGOs den Rückfall der Welt in unkoordinierte Mächtekonkurrenz noch die europaweite Selbstorganisation der Interessen die Erosion der EU in den letzten Jahren verhindert. Zivilgesellschaft ist schwach und zerbrechlich.

Es gibt keinen Grund, die Zivilgesellschaft zu verherrlichen. Sie ist äußerst heterogen, auch politisch. Zu ihr zählen sowohl Menschenrechtsaktivisten wie Pegida-Anhänger, sowohl weitgehend kommerzialisierte Fußballvereine wie quasi-behördliche Träger sozialer Dienstleistungen. Die Zivilgesellschaft ist zerklüftet und zerstritten, sie verfügt über keinerlei interne Verständigungsmechanismen. »Die Zivilgesellschaft« ist kein handelndes Subjekt. Aus drei Gründen ist es dennoch wichtig, dass sie mit der schrittweisen Überwindung der Corona-Krise rasch wieder in Bewegung gerät:

Erstens: In Fortsetzung älterer Trends hat die Corona-Krise den staatlichen Einfluss auf die Regelung der verschiedenen Lebensbereiche immens gesteigert. Davon wird einiges übrigbleiben. Um einer gesunden Balance willen muss dringend versucht werden, mit bürgerschaftlichem Engagement entgegenzuwirken. Dessen Ort aber ist die Zivilgesellschaft.

Zweitens: Die freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie bleibt den Angriffen rechter und linker Populisten weiterhin ausgesetzt. Nicht die Einführung direkt-demokratischer Verfahren ist eine passende Antwort, um dem Vorwurf des Elitismus zu begegnen. Vielmehr stellt die Zivilgesellschaft eine richtige Antwort dar. Sie ist ein Stück Demokratie mit den für diese typischen Vor- und Nachteilen. Sie bietet breite Partizipationschancen, aber dezentral, konkret und praktisch. Sie verkörpert Vielfalt und damit eine Voraussetzung von Freiheit. Solange die Zivilgesellschaft funktioniert, hat Post-Demokratie keine Chance.

Drittens: In Fortsetzung von Traditionen der letzten Jahre hat die Corona-Krise die Rückwendung der Politik auf den Nationalstaat beschleunigt. Doch in dessen Rahmen werden die zunehmend globalen Probleme der Zeit nicht zu lösen sein. Die Zivilgesellschaft enthält derzeit mehr Bezüge auf die Interessen der Menschheit als ganze als die partikularisierte internationale Politik. Solange diese zur Lösung oder Linderung der großen globalen Herausforderungen so wenig geeignet ist wie momentan, solange muss man jedes Stück zivilgesellschaftlicher Vernetzung begrüßen, das verspricht, trans- und internationale Verständigung und Kooperation zu befördern. Dies gilt auch in Bezug auf die europäische Integration, die durch das Wiedererstarken nationalstaatlicher Identifikationen in den letzten Jahren immer schwieriger geworden ist.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben