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Andreas Voßkuhle, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts ©

picture alliance/dpa | Katharina Kausche

Ein Gespräch mit Andreas Voßkuhle darüber, wie die Handlungsfähigkeit des Staates verbessert werden kann»Da kann sich jetzt etwas ändern«

NG/FH: Herr Voßkuhle, wie handlungsunfähig ist der Staat inzwischen?

Andreas Voßkuhle: In vielen Momenten tut er sich im Augenblick in der Tat schwer, etwas zu Wege zu bringen. Er hat aber das Potenzial dazu. Das erkennen wir in prekären Zeiten – etwa wenn er nach dem Überfall der Russen auf die Ukraine die Energieversorgung sichert oder wenn er auf eine Pandemie reagiert in einer doch recht erfolgreichen Art und Weise. Er ruft die Leistung, zu der er fähig ist, aber immer weniger ab. Es wurden in den zurückliegenden Jahren viele Probleme nicht wirklich angegangen. Warum funktioniert das, was unter Druck möglich ist, in normalen Zeiten nicht? Wir beobachten da eine Reihe von Blockaden.

Gibt es dafür eine zentrale Ursache, einen Hebel zum Umsteuern?

Meistens spielen viele Faktoren zusammen. Wir sind erstens ein förderaler Staat, der Abstimmungsbedarf zwischen den Ebenen ist relativ hoch. Das potenziert sich nochmal im Zuge der Europäischen Union…

…aber wir wollen doch den Föderalismus und die EU?

Sicherlich, vom Prinzip her schon. Dann gibt es einen zweiten Faktor, den ich für enorm wichtig halte: In vielen Bereichen erwarten wir ein hohes Maß an Perfektion. Insbesondere wollen wir Risiken minimieren. Das führt zu sehr viel Regulierung und komplizierten Verfahren. Insofern wird ein Paradox deutlich: Die Bürgerinnen und Bürger sind gegen mehr Normen, wollen aber gleichzeitig mehr Sicherheit. Und wenn irgendetwas passiert, ist der Ruf nach dem Gesetzgeber groß. Also haben wir ein hohes Anspruchsniveau, vom Arbeitsschutz über Brandschutz und Datenschutz bis zu Gesundheits- und Denkmalschutz. Unsere durchregulierte Gesellschaft droht an ihren vielen Normen zu ersticken.

Sind es nicht auch die Gerichte, die diese kleinteilige Präzision des Schutzes immer wieder erzwingen?

Wer Normen sät, wird Rechtsprechung ernten! So ist das auch hier. Die Gerichte versuchen – mit hohem Anspruch – die Normen des Gesetzgebers zu präzisieren. Das hängt mit der Tradition rechtsstaatlichen Denkens in Deutschland und Europa zusammen, macht vieles aber nochmal komplizierter.

Wird der Staat denn wirklich effektiver, wenn er mehr Ermessensspielräume lässt?

Ich meine ja – aber auch hier hängen die Dinge miteinander zusammen, es gibt nicht den einen großen Hebel. In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sind etwa für die Kommunen die rechtlichen Möglichkeiten geschaffen worden von bestimmten rechtlichen Vorgaben abzuweichen. Das wurde allgemein als Vorteil angesehen im Interesse von mehr Flexibilität und Handlungsfähigkeit. Bisher sind die neuen Möglichkeiten aber kaum genutzt worden. Warum? Weil es dazu eine Verwaltungskultur bräuchte, in der die Leute gerne Verantwortung übernehmen und Spielräume nutzen, auch wenn dann womöglich mal etwas schief läuft. Offensichtlich fehlt es an solchen Personen.

Sind aber die Spezialisierung und die Hierarchisierung der Verwaltung letztlich nicht auch logisch und effektiv im Sinne der Steuerbarkeit?

In der Initiative für einen handlungsfähigen Staat setzen wir darauf, dass man hier etwas ändern könnte. Deshalb haben wir zum Beispiel vorgeschlagen, dass Fragen der Verwaltungskultur mit der Digitalisierung zusammengedacht werden sollten, weil wir ja auch Menschen brauchen, die mit den Möglichkeiten der neuen Techniken umgehen können. Ich glaube, dass wir es schaffen können, dass Leute verantwortungsbewusster werden, eher mit Ermessensspielräumen umgehen können und stärker in Teams und Projekten denken. Den Grundsatz einer hierarchischen Verwaltung braucht man dafür nicht aufzugeben. Es geht hier lediglich um Modifikationen. Vor allem das Ressortprinzip bedarf der Neujustierung. Viel zu häufig wird gefragt, was eine geplante Maßnahme für das eigene Ressort und dessen Themen bedeutet – statt auf das große Ganze zu schauen.

Sind diese Beharrungskräfte nicht objektiv und jede Generation wächst hinein?

Sie sind da. Wir schlagen deshalb vor, es mit Experimenten zu versuchen. Mit Ausprobieren. Mal sehen, ob die Politik diese Idee unterstützt. Wenn etwas im Experiment funktioniert, wächst auch die Bereitschaft zur grundsätzlichen Veränderung.

Wie stark beeinflusst das Thema Handlungsfähigkeit den generellen Blick der Menschen auf den Staat?

»Demokratie ist gefährdet, wenn die, die sie repräsentieren, dauerhaft nicht das liefern, was vom Staat erwartet wird.«

Die Demokratie ist gefährdet, wenn diejenigen, die sie repräsentieren, dauerhaft nicht das liefern, was vom Staat erwartet wird. Das sehen wir ja auch in den USA. Viele haben Donald Trump gewählt, weil sie glauben, dass er die Handlungsfähigkeit des Staates erhöht. Auch in Deutschland steigt der Ärger darüber, dass viele Dinge nicht mehr funktionieren. Lange Wartezeiten auf Baugenehmigungen, Zugverspätungen, gesperrte Brücken – es sind viele Momente im normalen Alltagsleben, in denen sich Frust aufbaut. Dann fragen manche, ob es vielleicht Alternativen gibt zu denjenigen, die in Verantwortung sind und schnell als abgehobenes Politik-Establishment wahrgenommen werden.

Ist das dann letztlich nicht doch eher eine Sehnsucht nach dem Autoritären statt nach Flexibilität?

Wer glaubt, Handlungsfähigkeit sei notwendig mit dem sogenannten starken Mann, mit einem eher autoritären Gemeinwesen verbunden, der irrt. Der eiser­ne Käfig der Hierarchie ist nicht wirklich eine Antwort, im Gegenteil. Der Staat funktioniert dauerhaft nur, wenn die Bürgerinnen und Bürger sich mit ihren Problemen gesehen fühlen und mitmachen.

Ist das Verhältnis Gesellschaft–Staat eigentlich in Ordnung? Ist es nicht ein Gegenüber geworden statt eines Miteinanders – und deshalb die Distanz so groß?

Das ist eine schwierige Diskussion. Seit der Entstehung des modernen Staates im Spätmittelalter denken wir über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft nach. Wir sind da noch nicht zu einem endgültigen Ergebnis gekommen und werden das wahrscheinlich auch nie. Nachdem der Ausbau des Sozialstaats in den 80er Jahren an seine Grenzen gekommen war, dachten viele in Deutschland, wir bräuchten einen schlanken Staat. Damit einher gingen vielfältige Privatisierungsbestrebungen, die aber nur teilweise erfolgreich waren. Dann wollten wir einen aktivierenden Staat, der stärker auf gesellschaftliche Selbstregulierung setzt. Momentan dominiert das Zukunftsbild des digitalisierten und vernetzten Staates die Debatte. Die Bürgerinnen und Bürger fühlen sich hier jedoch etwas verloren, weil nicht klar ist, wer für sie sorgt und ob sie zu den Gewinnern oder Verlierern der Globalisierung zählen werden.

Der Staat dann doch eher als Dienstleister der Gesellschaft, der für deren Schutz sorgt?

Ich sehe ihn nicht als schlichten Dienstleistungsstaat. Aber ich glaube, dass er in den Kernbereichen funktionsfähig sein muss – sonst verlieren wir alle das Vertrauen in unser Gemeinwesen. Staatliche Handlungsfähigkeit und Demokratie sind unmittelbar miteinander verkoppelt.

Wenn Sie so grundsätzlich werden: Braucht es dann nicht doch mehr als eine Aufzählung von Einzelmaßnahmen? Braucht es nicht einen starken, sichtbaren und auch symbolischen Kurswechsel? Wo müsste etwas sehr sichtbar werden?

Wir brauchen so etwas wie eine Aufbruchstimmung in der Gesellschaft insgesamt. Uns fehlt ein überzeugendes Reform-Narrativ, wie wir gemeinsam Veränderungen auf den Weg bringen können. Hier öffnet sich aber gerade ein Fenster. Ein Digitalisierungsministerium mit Zuständigkeit für die Verwaltungsreform hat es so noch nie gegeben. Das ist schon ein Zeichen. Daran müssen wir anknüpfen.

Durch die fundamentale Veränderung der Kommunikation könnte das eher unterlaufen werden. Verstärkt die digitale Welt – speziell durch die sozialen Medien – die Distanz zum Staat?

Mit dem Aufkommen der digitalen Medien geht aus meiner Sicht ein gewisser Zivilisationsbruch einher. Die soziale Einhegung von Kommunikation ist verschwunden. Wir erleben dort überwiegend eine sehr direkte, rohe Form von Kommunikation, in der persönliche Diffamierungen, Hetzkampagnen, Manipulation und Lügen an der Tagesordnung sind. Damit einher geht ein erheblicher Bedeutungsverlust von demokratischen Institutionen wie etwa der Vermittlungs- und Filterfunktion von Parteien und klassischen Medien. Letztlich lässt sich in dieser Situation nur durch eine Veränderung der Kultur gegensteuern, durch das Plädoyer für einen anderen Umgang mit den technischen Möglichkeiten. Dieser Wandel vollzieht sich manchmal schneller als erwartet. Menschen, die wirklich etwas zu sagen haben, sehen es etwa zunehmend als Zeichen der Souveränität an, nicht dauernd wie dressierte Tierchen auf ihr Handy zu schauen.

Der Staat des Grundgesetzes ist auch dazu da, gleichartige Lebensverhältnisse zu schaffen. Ist die wachsende Ungleichheit bei den Vermögens- und Einkommensverhältnissen nicht auch ein Faktor, der die Zweifel am Staat wachsen lässt?

Diese Entwicklung hat ohne Zweifel große Bedeutung – wobei das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen manchmal sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Wichtig ist, dass die Grundversorgung für alle gewährleistet ist und Chancengleichheit besteht. Wir sind alle unterschiedlich, aber wir sollten im Leben die gleichen Chancen haben – ein altes sozialdemokratisches Versprechen, das natürlich nie vollständig eingelöst werden kann.

Müsste eine Staatsreform nicht auch an dieser Stelle neue Angebote machen?

Da muss man sich die verschiedenen Politikfelder genauer anschauen. Bei Bildung und Ausbildung spielt die soziale Herkunft immer noch eine viel zu große Rolle. Die Renten- und Pensionslasten für die nächste Generation werden immer größer. Wir sehen ferner, dass wir nicht genügend Frauen in den Arbeitsmarkt bekommen, weil die Betreuungssituation für Kinder immer noch nicht hinreichend ist, um nur einige Beispiele zu nennen. Da muss eine Staatsreform ansetzen. Auch die absurde Wertschöpfung durch die großen Digitalkonzerne wirft Gerechtigkeitsprobleme auf. Fast-Monopole führen zu großem Reichtum von wenigen, die dadurch zusätzlich noch erheblichen Einfluss auf die Spielregeln der Gesellschaft erhalten.

Also müsste der Staat handeln – aber die Leute wählen Parteien, die das gar nicht wollen?

Es gab aber auch Regierungen, die mehr hätten bewegen können, als sie getan haben. Da war man teilweise auch ein bisschen zu bequem und hat den Konflikt gescheut. Wer politisch etwas reißen will, muss eben ins Risiko gehen und manchmal sogar Stimmenverluste bei einer Wahl akzeptieren. Wenn wir zurückschauen darauf, was frühere Kanzler und die eine Kanzlerin bewegt haben, dann war da oft auch die Fähigkeit, unpopulären Anliegen Gehör zu verschaffen. Politik muss fähig sein, Prioritäten zu setzen und danach zu handeln…

…weil Handlungsfähigkeit auch Durchsetzungswillen erfordert?

»Es gibt in der Politik und der Verwaltung zu viele Leute, die auf die Bremse treten.«

Ohne die Bereitschaft, für seine Ideen zu kämpfen, werden sie nicht verwirklicht. Wir brauchen mehr Menschen, die dafür brennen, konkrete Ziele zu erreichen. Es gibt in der Politik und der Verwaltung zu viele Leute, die aus ganz unterschiedlichen Gründen immer wieder auf die Bremse treten. Das muss sich ändern. Viele Veränderungen, die unsere Welt besser gemacht haben, mussten erst mal gegen großen Widerstand durchgesetzt werden.

Mentalitäten fallen nicht vom Himmel. Erzieht das demokratische System zur Bremserrolle, weil nun mal viele so sind und Konfliktvermeidung eher persönlichen Erfolg verspricht?

Ich sehe gerade bei den Jüngeren positive Trends. Wir sind weiterhin eine offene, reflektierende, kritische Gesellschaft, die festgefügte Mentalitäten nicht einfach akzeptiert. Wir fragen uns, wie wir leben wollen und was der Sinn von allem ist. Ich spüre bei den jungen Leuten in meinem universitären Umfeld sehr deutlich, dass sich das Verständnis von einem guten Leben verändert hat: Weniger Konsum, mehr Aktivität, mehr Selbermachen, mehr Natur, mehr Gemeinsinn.

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