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© picture alliance / imageBROKER | Kurt Amthor

Progressives Regieren – (noch) gänzlich ohne KI Da muss man mit!

John of Us, der Kandidat für das Amt des Präsidenten von Qualityland im gleichnamigen Science-Fiction-Roman (Qualityland, 2017) des Kabarettisten und Liedermachers Marc-Uwe Kling, ist ein Android. Das sollte nicht wirklich überraschen, da er Kandidat der progressiven Fortschrittspartei ist und Technologie unmissverständlich für Fortschritt steht. Sein Gegner und Gegenkandidat, Conrad Koch, ist ein Mensch, der die konservative Qualitätsallianz vertritt. Möglicherweise sollte dies darauf hindeuten, dass Menschen – welcher Qualifikation auch immer – für Qualität stehen, während Roboter den Fortschritt insinuieren müssen – den technischen Fortschritt jedenfalls.

Auch wenn jegliche Ähnlichkeit zu real existierenden Personen oder Situationen in einem Zukunftsroman quasi per se ausgeschlossen ist und eine Buchrezensentin die Handlung auf Spiegel-Online als »konventionell, aber okay« und das Buch insgesamt als weniger witzig als frühere Werke des Autors bewertete, hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass mit Qualityland Deutschland und mit der Fortschrittspartei die SPD gemeint sein könnte. Damit wäre Conrad Koch von der Qualitätsallianz automatisch dem konservativen Gegenspieler der SPD bzw. der Allianz zweier konservativer deutscher Parteien zuzuordnen. Auch an dieser Stelle ist die Ähnlichkeit mit dem Namen eines vor Jahren aktiven CDU-Politikers und zeitweise hessischen Ministerpräsidenten rein zufällig, weil sich die Nachnamen in Qualityland nach den Berufen der Eltern richten. Demnach gibt es Martyn Vorstand, Aisha Ärztin (früher: Aisha Flüchtling), Conrad Koch oder eben Peter Arbeitslos und Kiki Unbekannt.

Progressiv ist voll im Trend

Anders als in Qualityland wird Deutschland aktuell noch nicht von Androiden oder einer KI regiert, jedenfalls nicht nachweislich – das Progressive ist unter den politischen Eliten dennoch ununterbrochen en vogue. Im Jahr 2021 gipfelte dies in einer »Fortschrittskoalition« zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Das progressive Regieren, aus dem Lateinischen progressus (»Fortschritt«) oder auch progredi (»vorwärtsschreiten«), bedeutet für die Bundesregierung nicht in erster Linie Reformen oder gar eine Revolution. Dass man vieles besser machen möchte, bedeute noch nicht automatisch, dass man alles anders machen würde, erklärte der erste SPD-Kanzler nach Helmut Schmidt im Wahlkampf 1998.

»Die heutigen KIs replizieren frühere Entscheidungen und sorgen so dafür, dass alles bleibt, wie es ist.«

Progressiv steht, verkürzt gesagt, als Gegenpol zu konservativ. Umgangssprachlich erklärte es die NZZ: »Die progressiven Städter wollen Freiheit und Offenheit, während sich die konservative Landbevölkerung nach Autorität und Tradition sehnt […].« Progressive Politik impliziert jedoch auch die Fähigkeit, in der Politik zu lernen, auf sich ändernde Umstände zu reagieren, anpassungsfähig zu sein oder in Bewegung zu bleiben. Das geht schlecht nach einem Plan – und noch weniger nach einem (Koalitions-)Vertrag. Letztendlich fasst progressiv all das zusammen, was künstliche Intelligenz (KI) heute (noch) nicht kann.

Da es aus historischen, unbereinigten, zufälligen, zumeist fehlerhaften und biasbehafteten Daten Entscheidungen oder Ergebnisse generiert, in denen sich immer wieder die Fehler der Vergangenheit wiederholen. Auch wenn die Resultate die Menschen mitunter überraschen: Neu oder progressiv sind sie nicht. Das können sie nicht sein – die heute entwickelten KIs stecken »in the loop«, indem sie frühere, auch schlechte, Entscheidungen replizieren und dafür sorgen, dass alles bleibt, wie es ist – bis in die Ewigkeit oder bis ein Mensch kommt und sie von dieser Aufgabe erlöst. Oder abschaltet. Fortschritt, Verbesserung, Optimierung? Das klingt mehr nach Kaizen der Politik als nach dem Koalitionsvertrag.

Im Koalitionsvertrag manifestiert sich der Fortschritt in Begriffen wie »Innovation«, »Digitalisierung« oder »KI«, wobei sich KI zunehmend aus dem Wirk- und Definitionskreis der Digitalisierung als eigenständiges Ziel progressiver politischer Handlungen sowie als die nächste Schlüsseltechnologie emanzipiert.

Mit SPRIND zu mehr Freiheit?

Im Bereich der Innovation hat man sich im Koalitionsvertrag auffallend stark für die Bundesagentur für Sprunginnovationen SPRIND gemacht. Die Agentur musste nicht, wie andere, erst auf die Mittelzuweisung aus dem Bundeshaushalt warten, sondern erhielt einen Schub an Finanzierung direkt aus dem Koalitionsvertrag. Sie sollte – mit einem Gesetz – auch von Einschränkungen, Beschränkungen, »lähmenden Kontrollmechanismen« befreit und unabhängig(er) in ihren Investitionsentscheidungen werden: »Mit dem SPRIND-Freiheitsgesetz befreien wir unsere Bundesagentur für Sprunginnovationen jetzt von unnötigen bürokratischen Fesseln und geben ihr neue Freiheiten«, sagte die Bundesforschungsministerin anlässlich des Kabinettsbeschlusses im Juli 2023. »Die Agentur könne so künftig schneller und finanziell flexibler agieren und damit mehr Sprunginnovationen zum Durchbruch verhelfen.«

»Künstliche Intelligenz emanzipiert sich als nächste Schlüsseltechnologie.«

Im Antrag der CDU/CSU-Fraktion zum Thema Künstliche Intelligenz als Schlüsseltechnologie für Deutschlands Zukunft stärken, der im September 2023 im Bundestag diskutiert wurde, hatte man, eventuell mangels Sprungtechnologien, einen neuen Auftrag an die Agentur: Um die Potenziale der KI für die deutsche Wirtschaft zu schöpfen, sollte die Bundesregierung im Rahmen einer »vorkommerzielle[n] Beschaffung« als »strategischer Ankerkunde für deutsche KI-Start-ups« auftreten, »analog zu den erprobten Verfahren bei Trägerraketen (Launchern) und Quantentechnologien«. Für die Konzeptionierung eines solchen Vorgehens scheint den Autoren des Antrags SPRIND »prädestiniert«.

Sozialdemokratische Digitalpolitik

Der zweite Begriff, »Digitalisierung«, bedarf kaum einer Vorstellung. Internet für die Schulen steht beispielsweise schon so lange in den Wahlprogrammen der Parteien, wie es das Internet überhaupt gibt. Konkretisiert und weitergedacht wurde die Digitalpolitik im Papier der SPD vom Mai 2023: Sozialdemokratische Digitalpolitik: Ein Update für das Jahrzehnt der Transformation. Dieses sollte wiederum von einem digital:hub der SPD mit vertiefenden Inhalten, Diskussionen und noch mehr konkreten Aspekten ausgefüllt und angereichert werden. Beides – das Papier sowie der Hub – bedürfen eventuell doch einer Vorstellung, da weder das Papier noch die Gründung des digital:hub im November 2022 von den Medien besonders stark wahrgenommen wurden.

Bei der Gestaltung des technologischen Wandels lassen sich die Autoren der Digitalpolitik von den sozialdemokratischen Grundwerten – Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – leiten: »Damit der digitale Wandel in einem sozialen Fortschritt mündet, müssen wir ihn in Deutschland, Europa und international aktiv gestalten«, heißt es in dem Papier, »auch durch Grenzsetzungen und Vorgaben, die Risiken mildern und dafür sorgen, dass die vielen und nicht nur einige wenige profitieren; dass es die demokratischen, aber nicht die antidemokratischen Kräfte sind, die von der Digitalisierung profitieren. Die Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen und eine gerechte Verteilung der Mehrwerte, die aus technologischen Fortschritten resultieren, sind unsere Aufgaben.«

Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als Grundwerte des technologischen Wandels.

Zu den Schwerpunkten der sozialdemokratischen Digitalpolitik gehören unter anderem die Forderung nach einem diskriminierungs- und barrierefreien Zugang zum Internet sowie zu sozialen Netzwerken und Diensten. Hierfür spielen der Ausbau der Infrastruktur, die Verfügbarkeit sowie die Resilienz eine große Rolle: Schlüsseltechnologien und -kompetenzen möchte man »noch stärker als bisher hierzulande fördern und aufbauen« und »Standardisierung und Normung […] noch früher angehen«.

Technologische Souveränität und Diversifizierung

Wirtschaftliche bzw. technologische Souveränität möchten die Autoren des Papiers nicht als »De-Globalisierung« verstehen, sondern als »eine Form der nächsten Phase der Globalisierung«, basierend auf Diversifizierung, Resilienz sowie vielfältigen Partnerschaften für »gemeinsame nachhaltige Entwicklung«. Wenn es um die individuelle Souveränität der Bürgerinnen und Bürger geht, möchte man digitale Infrastrukturen resilienter machen und »die digitale Souveränität stärken«. Konkret bedeutet dies: »[Wir] werden […] das Recht auf Verschlüsselung schaffen«, das »Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität von IT-Systemen weiter ausgestalten« sowie die »Integrität und Sicherheit von IT-Systemen« als staatliche Verpflichtung betrachten, »so dass dem Staat eine Gewährleistungspflicht gegenüber seinen Bürger*innen zukommt«. Im Hinblick auf die anlasslose Kontrolle digitaler Kommunikation, die anlasslose Datenspeicherung, das Aufbrechen von Verschlüsselung oder das Zurückhalten von Schwachstellen durch den Staat positioniert sich das Papier klar, indem es diese ablehnt. »Gleichzeitig muss der Staat eine wirksame und effektive Strafverfolgung sicherstellen«, heißt es weiter. Wie schafft man diesen Spagat? Indem man »Freiheit, Selbstbestimmung und Sicherheit« nicht als Widerspruch, sondern vielmehr als »wechselseitige Voraussetzungen« sieht.

Bürgerbeteiligung über den Einsatz von Technologien in der Verwaltung.

Dem Thema der Selbst- und Mitbestimmung widmet man sich in erster Linie im Kontext der digitalen Arbeitswelten, der Transformationsprozesse sowie der digitalen Arbeitszeit und des digitalen Arbeitsorts. Im gesellschaftspolitischen Kontext gehören die »Verfügbarkeit digitaler Räume für einen herrschaftsfreien Diskurs, Möglichkeiten der Selbstorganisation für die Zivilgesellschaft und politische Partizipation und Willensbildung sowie Netzneutralität und Selbstbestimmung im digitalen Raum« auch dazu. An dieser Stelle geht das aktuelle Papier der Grundwertekommission mit der komplexen Überschrift Staatlichkeit in der sozialökologischen Transformation: mehr Legitimation durch Partizipation vom August 2023 weiter und konkretisiert, wie eine solche Selbst- und Mitbestimmung im Rahmen einer Reform der öffentlichen Verwaltung oder einer Modernisierung einer Partei ausgestaltet und vitalisiert werden könnte. Digitalisierung sei kein Selbstzweck, betonen die Autoren, »[e]ine Reform der Verwaltung im sozialdemokratischen Sinne erfordert eine Strategie, die auf demokratischen Werten basiert. Dazu gehören die Wahlmöglichkeit von Technologien, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und die Einbeziehung der Bürger in demokratische Entscheidungsprozesse.«

Begründete Zuversicht

»Die allgemeine Gefühlslage der Machtlosigkeit auch bezüglich der Verbesserung persönlicher Lebensumstände und die Verunsicherung hinsichtlich der Vorbereitung und Sicherung einer gemeinsamen, positiven Zukunft in der sozialökologischen Transformation können nicht allein durch sozialstaatliche oder ordnungsstaatliche Maßnahmen überwunden werden«, erklären die Autoren. »Hier bedarf es einer breiteren Palette an Ansätzen: Aufklärung und Erklärung, Diskussion und Dialog, Beteiligung und Engagement, individuelle Verantwortung und das Streben nach dem Gemeinwohl.« Deswegen lautet auch die Empfehlung der Grundwertekommission: »Die Sozialdemokratie muss die Förderung begründeter Zuversicht durch partizipative Erfahrungen und die daraus resultierende Beeinflussung viel stärker als bisher in den Mittelpunkt ihrer politischen und gesellschaftlichen Arbeit rücken.«

Dass sich sowohl die Digitalisierung als auch die künstliche Intelligenz zu diesem Zweck und nicht nur als Technologien der wachsenden Überwachung, Leistungs- und Arbeitskontrolle nutzen lassen, haben bereits die Pioniere des Internets geahnt. Allerdings müsste man, um den Ansatz einer Balance herzustellen, zunächst die Flut an Sicherheits- und Überwachungsgesetzen, die in den letzten Jahren durchgewunken wurden, rückwirkend unter den grundrechtlichen Aspekten prüfen. Um es jedoch mit den Worten des Alten aus Qualityland auszudrücken: »Das ist der Algorhythmus, wo man mitmuss!«

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