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Dafür & dagegen War die bisherige Außenpolitik falsch?

Nein, denn die bisher geltende Absage an Waffenlieferungen in Kriegsgebiete war politisch gut begründet. Und für Waffenexporte muss weiterhin gelten, dass sie nicht die Grenze zu einer Kriegsbeteiligung überschreiten. Die Entscheidung der Bundesregierung vom 27. Februar, ein 100-Milliarden-Euro-Paket für die Ausrüstung der Bundeswehr bereitzustellen sowie begrenzte Waffenexporte in die Ukraine zuzusagen, sind Reaktionen auf eine aktuelle Herausforderung, aber noch keine »Zeitenwende«. Insbesondere wenn damit Ausrüstungsdefizite im Bereich der Landesverteidigung behoben werden sollen. Zu fragen bleibt, ob eine Aufrüstung, die auf den aktuellen Krieg reagiert, auch eine Antwort auf künftige Gefahren für unsere Sicherheit ist, die militärisch nicht zu lösen sind.

Dass der Krieg in der Ukraine Folgen für die deutsche Sicherheitspolitik und für das Verhältnis zu Russland haben wird, liegt auf der Hand. Dieser Krieg ist eine empörende und zugleich beängstigende Realität. Putins Krieg hat eine eindeutige Verurteilung durch die Vereinten Nationen erfahren. Er hat entschiedene Antworten der EU, der USA und aller Verbündeten ausgelöst: eine breite Unterstützung der Ukraine und weitreichende Sanktionen gegen Russland. Deutschland trägt das mit und nimmt die erheblichen ökonomischen Belastungen in Kauf. Aber keine der drastischen Sanktionen können zunächst die Tatsachen, Leid und Zerstörung abwenden, die durch den Krieg in der Ukraine geschaffen werden. Das ist schwer zu ertragen und setzt die Politik unter Druck, dem Schrecken ein Ende zu setzen.

Dieser Umstand, dem Krieg nicht sofort Einhalt gebieten, den Aggressor mit angedrohten Konsequenzen nicht zur Aufgabe zwingen zu können, ist schwer auszuhalten. Das scheint bei der Rede von der »Zeitenwende« mitzuschwingen. Soll das heißen, Friedens- und Entspannungspolitik sind überholt, gemeinsame Interessen zu suchen, um Krieg zu verhindern, aus der Zeit gefallen? Wir erleben gerade das Gegenteil: Den Krieg einzudämmen, zu beenden, bevor er die Schwelle zu einem Atomkrieg überschreitet, hat absolute Priorität. Willy Brandts Satz »Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts« ist aktuell wie nie – und die Friedens- und Entspannungspolitik ist die Alternative.

Es ist die alles überragende Frage dieses Krieges, eine Eskalation zu vermeiden, bei der die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen überschritten wird. Alles, was jetzt von außen getan werden kann, um die Ukraine zu unterstützen, steht unter dieser Prämisse. Wie kann die Politik damit umgehen? Dass einerseits Entschlossenheit, andererseits Zurückhaltung verlangt werden, setzt die Politik unter hohen moralischen Druck. Dabei spielen auch die Medien eine Rolle, die den Krieg praktisch live übertragen und damit starke Emotionen wecken. Es müssen aber Zwischenfälle und Reaktionen vermieden werden, die einen Automatismus der Eskalation auslösen. Dafür müssen diplomatische Kanäle und die Kommunikation zwischen den Militärs der NATO und Russlands funktionieren.

Angesichts der von Tag zu Tag zunehmenden Opferzahlen des Krieges stehen Schritte zur Einstellung der Kämpfe und zum Schutz der Zivilbevölkerung an erster Stelle. Dabei geht es erst um Deeskalation und schließlich um eine Exit-Strategie. Hier kann Diplomatie Entscheidendes leisten, Kompromisse sondieren und vermitteln. Kompromisse wären für die Ukraine eine größere Zumutung, angesichts der erlittenen Verluste. Aber die Erhaltung der staatlichen Existenz und Souveränität wäre ein übergeordnetes Ziel. Für Russland würde es um Rückzug gehen und im Gegenzug um Zugeständnisse, zum Beispiel die Ostukraine und die Krim betreffend. Wer den Exit an einen Regimewechsel in Russland knüpft, sollte damit rechnen, dass ein Regime wie das Putins dann mit Atomwaffen um sein Überleben kämpfen würde.

Dass eine Ausweitung des Ukraine-Krieges auf die NATO und ihren atomaren Schutzschirm unbedingt auszuschließen ist, ist eine Zumutung für die Ukraine und ihre Unterstützer. Diese Zumutung ist aber nicht neu. Es war die Gefahr eines Atomkrieges, die die Westmächte den Mauerbau 1961 oder die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 hinnehmen ließ. Das war nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aber bald nicht mehr auf dem Schirm. Von Krieg als letztem Mittel der Politik, als Ultima Ratio, war wieder die Rede. Dass er immer begrenzt bliebe, eine Angelegenheit der anderen sei, war der Glaube. Das Wissen, dass Krieg letztlich die Existenz der Menschheit aufs Spiel setzt, war ausgeblendet. Aus der Zeit gefallen schienen diejenigen, die im Krieg die Ultima Irratio sehen, die größte Unvernunft, wie Willy Brandt vor 50 Jahren sagte.

Als 1962 die Stationierung von Atomraketen auf Kuba die Sowjetunion und die USA an den Rand eines Atomkriegs brachte, war es die Erkenntnis, dass ein Krieg »alles zerstören würde, was wir aufgebaut haben«, die zum Kompromiss, dem beiderseitigen Abzug von Atomraketen führte. Es war US-Präsident John F. Kennedy, der daraufhin in einer Rede im Juni 1963 eine »Strategie des Friedens« entfaltete. Ein Ende des atomaren Wettrüstens müsse möglich sein, weil es im gemeinsamen Interesse sei: »Selbst bei den feindlichsten Ländern kann man damit rechnen (...).« Und Kennedy fügte hinzu: »(…) in der Hoffnung, dass konstruktive Veränderungen innerhalb des kommunistischen Blocks Lösungen in Reichweite bringen könnten, die heute noch unerreichbar scheinen«. Das war der Punkt: Heraustreten aus der Kriegslogik in eine Friedenslogik. Und das hatte Folgen.

Nach dem Besuch Kennedys Ende Juni 1963 in West-Berlin begannen Willy Brandt und Egon Bahr eine Alternative zur festgefahrenen Politik der Stärke zu konzipieren. Aus Kennedys »Strategie des Friedens« leiteten sie eine Entspannungspolitik ab, die das Sicherheitsdilemma des »Gleichgewichts des Schreckens« in Europa auflösen sollte. Darum ging es beim »Wandel durch Annäherung«. Die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition, dann die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa folgten. Fast nahtlos fügte sich in diesen Ansatz das Konzept der »Gemeinsamen Sicherheit« ein, welches Egon Bahr Anfang der 80er Jahre mit erarbeitete und nachweislich die sowjetische Bereitschaft zur Beendigung des Wettrüstens beeinflusste. Die Zeitenwende, die mit der »Charta von Paris« im November 1990 proklamiert wurde, eine Friedensordnung für ganz Europa, ist die jetzt vom Tisch?

Der Anspruch der europäischen Friedensordnung von 1990 ist Geschichte, ist in seiner Gänze auch nicht eingelöst worden. Angesichts des Krieges scheint der Rückgriff auf die Entspannungspolitik illusionär. Was aber dann? Russland bleibt Teil Europas, der größte Staat unseres Kontinents. Seine Sicherheitsinteressen berühren unsere. Selbst wenn Putin die Sicherheitsinteressen Russlands nur vorgeschoben hat, um diesen Überfall auf die Ukraine zu legitimieren: Hatte die russische Politik nicht schon vor Putin dies gefordert? Hatten nicht sogar namhafte amerikanische Politiker davor gewarnt, Russlands Sicherheitsinteressen zu ignorieren? Am deutlichsten wurde George Kennan, bedeutender US-Diplomat, Russland-Kenner und Urheber der Politik der »Eindämmung des sowjetischen Imperialismus« seit 1947. Er schrieb 1997 in der New York Times, die NATO-Osterweiterung sei der »verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg«. Diese Entscheidung lasse erwarten, »dass die nationalistischen, anti-westlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Meinung entzündet werden«.

So ist es gekommen. Wir wissen nicht, was der Krieg noch hervorbringen wird. Aber wir können davon ausgehen, dass es am Ende um Grundsätze und Institutionen einer europäischen Friedensordnung geht, die die Erfahrungen des Scheiterns berücksichtigen und deshalb Russland einbeziehen. Schon heute nehmen die Ukraine und Russland jeweils politische Vereinbarungen aus der Zeit nach 1990 für sich in Anspruch. Und das erfordert auch von Europa, im Zusammenhang mit der Lösung des Konflikts die Chance zu ergreifen, Sicherheit in Europa wieder mit Russland zu denken.

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