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Das Betriebsrätegesetz von 1920

Als auf dem ersten allgemeinen Kongress der im revolutionären Umsturz gebildeten Arbeiter- und Soldatenräte Mitte Dezember 1918 in programmatischer Tradition der Sozialdemokratie eine klare Mehrheitsentscheidung für die parlamentarische Republik gefallen war, bedeutete das im Bewusstsein der Beteiligten keine Absage an die vielmehr auch vom gemäßigten Teil der Revolutionsbewegung angestrebte Sozialisierung und Demokratisierung der Wirtschaft, namentlich in den Schwer- und Schlüsselindustrien. Während die politischen bzw. örtlichen und territorialen Räte nach der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar bald an Einfluss verloren, forciert durch die mehrheitssozialdemokratischen und die gewerkschaftlichen Führungen, wuchs die Bedeutung der auf Betriebsebene entstandenen »wirtschaftlichen« Arbeiterräte in den großen Streikbewegungen des Winters und Frühjahrs 1919, mit denen große Teile der Arbeiterschaft in den Unternehmen das Kapitalverhältnis infrage stellten. Während die SPD (die bei der Wahl am 19. Januar 37,9 % erreicht hatte; die USPD 7,6 %) in einer Koalition mit den bürgerlichen Mittelparteien im Reich sowie in den meisten Ländern regierte und verzweifelt bemüht war, die militärische Demobilisierung, die wirtschaftlich-sozialen Kriegsfolgen und die harten Waffenstillstands-, dann auch Friedensbedingungen in den Griff zu bekommen, hatten die Gewerkschaften bereits Mitte November 1918 mit den Arbeitgeberverbänden eine Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) gebildet. Das betreffende Abkommen brachte ihnen endlich die Anerkennung als Tarifpartner auch seitens der bislang widerstrebenden Industriegruppen; die Unternehmer sahen die ZAG als Versicherung gegen Entmachtung und Enteignung.

Die großen Streik- und Sozialisierungsbewegungen, die mehr auf Arbeiterselbstverwaltung und -selbstbestimmung zielten als auf bürokratisierte Staatsbetriebe, liefen den Konsolidierungsbemühungen der Regierungen, der SPD- und der Gewerkschaftsspitzen entgegen, soweit letztere nicht durch Neuwahl in den Sog der Radikalisierung gerieten wie der Deutsche Metallarbeiterverband. Der wiederholte Einsatz gegenrevolutionärer Freiwilligenverbände (Freikorps) gegen örtliche Aufstände und Massenstreiks vertiefte den Graben, der sich innerhalb der Arbeiterbewegung aufgetan hatte, und im Verlauf der Jahre 1919 und 1920 wurde die USPD, die gleichzeitig immer weiter nach links tendierte, zur gleichrangigen und in manchen industriellen Zentren gegenüber der SPD stärkeren Kraft. Gleichzeitig begann sich im bürgerlichen Lager das Schwergewicht von den Linksliberalen der Deutschen Demokratischen Partei zu den Rechtsliberalen und den antirepublikanischen Konservativen zu verschieben. Im Lauf des Jahres 1919 war also eine allgemeine politisch-soziale Polarisierung zu verzeichnen, die den in der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 niedergelegten Basiskompromiss zwischen der reformerischen Arbeiterbewegung und den republikanischen oder der Republik gegenüber aufgeschlossenen Fraktionen des Bürgertums bald schon wieder infrage stellte.

Die Weimarer Verfassung enthielt in Artikel 165 Restelemente des Rätegedankens. Vorgesehen war die Bildung von Arbeiter- und Angestelltenvertretungen, die »gleichberechtigt« an der Regelung der »Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesammelten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte« beteiligt werden sollten. Die Betriebsarbeitsräte sollten auf regionaler und diese dann auf nationaler Ebene zusammengefasst werden und »Kontroll- und Verwaltungsbefugnisse« erhalten. De facto blieb der Reichsarbeiterrat fast bedeutungslos, ebenso wie die von der Regierung angekündigte (Teil-)Sozialisierung der Industrie.

Der Bund der freien Gewerkschaften (Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund, ADGB) beschäftigte sich mit der Stellung der wirtschaftlichen Arbeiterräte auf ihrem ersten Nachkriegskongress Ende Juni/Anfang Juli 1919 in Nürnberg und bekräftigte dabei mit Zweidrittelmehrheit die zwei Monate zuvor auf einer Vorständekonferenz der Einzelverbände beschlossenen Richtlinien. Damit wiesen sie die umfassende Rätekonzeption der linken innergewerkschaftlichen Opposition zurück und ebneten dem künftigen Betriebsrätegesetz den Weg, das am 18. Januar 1920 von der Nationalversammlung beschlossen werden würde. Dem ging vor dem Reichstag eine linke Massendemonstration von Hunderttausenden gegen die Gesetzesvorlage voraus, in der große Teile der Arbeiterschaft mit der USPD und der noch relativ kleinen KPD eine kümmerliche Schrumpfform der in der Revolution entstandenen betrieblichen Räte sahen. Aus ungeklärten Gründen eröffnete die preußische Sicherheitspolizei das Feuer auf die Demonstranten; 42 Tote blieben zurück.

Arbeiterausschüsse als Vertretungsorgane der Beschäftigten waren vereinzelt seit dem mittleren 19. Jahrhundert eingerichtet worden und Anfang des 20. Jahrhunderts für den Bergbau in Preußen und Bayern gesetzlich vorgeschrieben, ab Ende 1916 mit dem Kriegshilfsdienstgesetz dann für alle Branchen. Das Betriebsrätegesetz von 1920 sah für Betriebe ab 20 Beschäftigten die Wahl eines aus mehreren Personen bestehenden Betriebsrats, für Betriebe ab fünf Personen die Wahl einer Vertrauensperson vor. Diese Interessenvertretung der Arbeitnehmer mit gegenüber früheren Regelungen deutlich erweiterten Mitspracherechten (einschließlich der Einsicht in die Rechnungsbücher) war indessen zugleich auf die »Unterstützung des Arbeitgebers in der Erfüllung der Betriebszwecke« verpflichtet, somit auf eine Doppelloyalität festgelegt.

Es ist offensichtlich, dass das neue Gesetz gegenüber dem bis Herbst 1918 bestehenden Zustand eine Verbesserung darstellte, je nach Industriezweig, Region und Einzelunternehmen aber unter Umständen eine Reduzierung von faktischen Kontroll- und Mitbestimmungsbefugnissen gegenüber den Revolutionsmonaten bedeutete. Das Betriebsrätegesetz fügte sich ein in die mit den ersten Verordnungen des Rats der Volksbeauftragten vom November 1918 eingeleitete sozialpolitische Neujustierung, wozu auch die Einführung des Achtstundentags (in einer Sechstagewoche) gehörte, insgesamt gewissermaßen in die Konstitutionalisierung des Wirtschaftslebens. Es begann nun auch die Epoche des kollektiven Arbeitsrechts in Deutschland.

Konzept Wirtschaftsdemokratie

Als die freien Gewerkschaften in der zweiten Hälfte der 20er Jahre, nach der Konsolidierung der Republik, weitergehen wollten und 1928 ein Programm zur Verwirklichung einer »Wirtschaftsdemokratie« verabschiedeten, spielten die Betriebsräte und die betriebliche Mitbestimmung darin keine wesentliche Rolle, anders als die überbetriebliche Mitbestimmung in der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik, als deren Protagonisten die Gewerkschaften agieren würden. (Diese Geringschätzung der einzelbetrieblichen Ebene sollte erst nach 1945 revidiert werden.) Gleichzeitig hatten die Parteitheoretiker der SPD wie Rudolf Hilferding den existierenden Kapitalismus als einen »organisierten«, eine bereits vom demokratischen Staat und der Arbeiterbewegung mitbeeinflusste und mitgestaltete Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung analysiert, die auf legalem Weg schrittweise in den Sozialismus transformiert werden könnte.

Diese optimistischen Annahmen zerstörte die tiefe Weltwirtschaftskrise im Herbst 1929, die in Deutschland zu einer existenziellen Staats- und Gesellschaftskrise und über mehrere, zunehmend außerparlamentarische Präsidialregierungen schließlich zur Machtübernahme der NSDAP führte. Die wachsende Bereitschaft der konservativen Eliten und der sozial herrschenden Klasse, ein Bündnis mit der NS-faschistischen Bewegung einzugehen, mündete – ohne Automatismus – in der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler.

Eine der fundamentalen Gemeinsamkeiten der Bündnispartner war die Ausschaltung der bei Wahlen, namentlich Betriebsratswahlen, in der Summe stabilen Arbeiterbewegung; neben der Zerschlagung der KPD sollte auch der Einfluss der SPD und der freien Gewerkschaften radikal ausgeschaltet werden. An die Stelle der Betriebsräte traten im Januar 1934 »Vertrauensräte« mit wesentlich eingeschränkteren Befugnissen operierend unter den Bedingungen des nun auch betrieblichen Führerprinzips. Nach dem für die Nationalsozialisten bereits unbefriedigenden Ausgang der Vertrauensrätewahlen 1934 und 1935 wurden die 1936er Wahlen abgebrochen und bis 1945 nicht mehr durchgeführt. Große Sektoren des Unternehmerlagers hatten sich nie ganz mit der Institution der Betriebsräte abgefunden, deren Existenz wie die der Gewerkschaften in der Wirtschaftskrise den Reallohnabbau unter Druck der Massenarbeitslosigkeit bremste.

Vielfach sofort nach dem Einmarsch der vorrückenden Kriegsalliierten bildeten 1945 frühere Gewerkschafter unterschiedlicher politischer Ausrichtung provisorische Betriebsausschüsse, die sich ab dem Spätsommer ersten regulären Wahlen zu stellen hatten. Im April 1946 erließ der Alliierte Kontrollrat ein Betriebsrätegesetz, das überwiegend den Zustand von vor 1933 wiederherstellte. Diese Betriebsausschüsse bzw. Betriebsräte spielten eine wichtige Rolle bei der Wiederingangsetzung der Produktion und konnten in der Praxis vorübergehend nicht selten Kompetenzen erlangen, die noch über die 1947 für die nordrhein-westfälischen Montanindustrien eingeführten und 1951 von der Regierung Adenauer unter massivem Druck der Beschäftigten akzeptierten vollen paritätischen Mitbestimmung hinausgingen.

Mit der Einrichtung des von den Arbeitnehmervertretern benannten Arbeitsdirektors stellen sie bis heute den Restposten der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Neuordnungsvorstellungen der frühen Nachkriegszeit dar. Die im 1972 und 2001 novellierten Betriebsverfassungsgesetz von 1952 verankerte Position der Betriebsräte gehört zu dem Ensemble von Institutionen und eingespielten Mechanismen, die es nahelegen, die bundesdeutsche Wirtschaftsordnung trotz der inzwischen jahrzehntelangen Einwirkungen der marktentgrenzenden neoliberalen Globalisierung weiterhin als »koordinierte Marktwirtschaft« und spezifische Kapitalismusvariante zu charakterisieren.

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