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Eine erste armutspolitische Bilanz der Ampel Das Bürgergeld ist da – aber reicht das aus?

Die erste Ampelkoalition auf Bundesebene startete im Dezember 2021 ihre Regierungsarbeit mit einer Fortschrittserzählung: längst überfällige gesellschaftliche Liberalisierungsschritte, mehr Tempo beim Klimaschutz und dem Ausbau der Erneuerbaren Energien, eine grundlegende Reform des Systems der Mindestsicherung bei Arbeitslosigkeit und so weiter. Die Koalition wollte unter anderem Hartz IV überwinden, ein Bürgergeld einführen und so die Lebensbedingungen derjenigen Menschen verbessern, die in besonderem Maße armutsbetroffen sind. Dieses ohnehin ambitionierte Ziel soll nun erreicht werden unter sich ständig weiter zuspitzenden Rahmenbedingungen.

Die Koalition begann mit einem demonstrativen Reformimpetus, stand jedoch von Anfang an vor großen sozial- wie wirtschaftspolitischen Herausforderungen. Neben den direkten Coronafolgen zeigt sich das ganze Ausmaß des Reformstaus in Deutschland: etwa die über Jahre versäumten Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, in Bildung, Forschung und Entwicklung.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine wirkt nun als sozioökonomischer Brandbeschleuniger, insbesondere mit Blick auf die Energiepreisentwicklung. Und er führt zu einer grundlegenden Neuordnung der politischen Prioritäten, einer »Zeitenwende« (Olaf Scholz). Einmalig sollen 100 Milliarden Euro für Investitionen in die militärischen Fähigkeiten Deutschlands bereitgestellt, zudem Jahr für Jahr zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für den Verteidigungshaushalt ausgegeben werden. Die Energieversorgung muss in kurzer Zeit umgestellt und die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen aus Russland auf ein möglichst niedriges Niveau reduziert werden.

Als Reaktion auf die Folgen der Pandemie sowie die Entwicklungen nach dem russischen Angriffskrieg legte die Bundesregierung im Februar, März sowie September 2022 drei Entlastungspakete vor. Dabei sind die folgenden Maßnahmen für besonders armutsgefährdete Gruppen relevant: Menschen im ALG-II-Bezug erhalten Einmalzahlungen von insgesamt 200 Euro sowie einen Sofortzuschlag von 20 Euro für jedes Kind im Haushalt. Rentnerinnen und Rentner werden 300 Euro Energiepreispauschale überwiesen, Studierenden 200 Euro. Zudem bekommen Wohngeldempfängerinnen und -empfänger einen einmaligen Heizkostenzuschuss in Höhe von insgesamt 685 Euro pro Person, BAföG-Empfängerinnen und -empfänger in Höhe von 250 Euro.

Weitere Maßnahmen der Bundesregierung haben und hatten ebenfalls entlastende Wirkungen für einkommensschwache Haushalte: Unter anderem der Familienzuschuss in Höhe von 100 Euro pro Kind, die Anhebung des Kindergeldes um 18 Euro zum 1. Januar 2023 sowie des Kinderzuschlags auf 250 Euro, die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro, die Abschaffung der EEG-Umlage und die zeitlich begrenzte Absenkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe sowie das dreimonatige Neun-Euro-Ticket.

Zudem ist eine Minderung der Umsatzsteuer auf Gas, die Einführung einer Strompreisbremse sowie der Verzicht auf weitere Mehrbelastungen wie die eigentlich geplante Anhebung des CO2-Preises in Aussicht gestellt. Und es kommen wichtige Gesetzesänderungen hinzu: Für die ärmsten Haushalte ist besonders relevant, dass die Kündigungsschutzregeln überprüft werden sollen, damit säumigen Mieterinnen und Mietern nicht der Miet- oder Energieliefervertrag gekündigt werden kann. Zudem wird es eine Wohngeldreform geben mit den Zielen, den Kreis der berechtigten Haushalte zu erweitern und die Heizkostenpauschale dauerhaft zu integrieren.

Ob all die beschlossenen und angekündigten Entlastungen die drastischen Folgen der explodierenden Lebenshaltungskosten auffangen und einen deutlichen Anstieg der Armut in Deutschland verhindern können, muss abgewartet werden. Einerseits wird an den Entlastungspaketen ihre »verteilungspolitische Schlagseite« zugunsten von Erwerbstätigenhaushalten (Christoph Butterwegge) sowie das »Prinzip Gießkanne« (Ulrich Schneider) kritisiert. Andererseits zog das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung für die ersten beiden Entlastungspakete das Fazit einer »umfassenden und weitgehend sozial ausgewogenen Entlastung«, gerade für Haushalte mit geringem und mittlerem Einkommen.

Das DIW stellt fest, dass die Maßnahmen »spürbare Erleichterungen vor allem durch die Einmalzahlungen bei den Sozialleistungen oder die Energiepreispauschale« bringen. Auch wenn die Bewertungen der Entlastungspakete auseinander gehen; viele sozialwissenschaftliche Kommentatorinnen und Kommentatoren sind sich einig in der Forderung, die Politik müsse die in Armut lebenden oder von Armut bedrohten Gruppen noch wesentlich stärker in den Blick nehmen und die weiter anwachsende soziale Ungleichheit deutlich konsequenter bekämpfen.

Mehr Fortschritt durch mehr Teilhabe

Dass dringender Handlungsbedarf besteht, hat die Ampelkoalition bereits vor der Energiekostenkrise erkannt. Die von der Koalition avisierte sozialpolitische Reform soll mehr Teilhabe und bessere Lebensbedingungen erreichen. Die koalitionären Reforminhalte gehen in einem hohen Maß auf die programmatische Arbeit der Sozialdemokratie zurück.

Das Konzept »eines empathischen, unterstützenden und bürgernahen Sozialstaates«, so steht es im SPD-Bundestagswahlprogramm 2021, soll »den Einzelnen und sein Schicksal respektieren« und »die Würde des Einzelnen achten«. Die SPD will »Solidarität« und »Menschlichkeit« für Bedürftige, sie betont dabei auch, dass Sozialleistungen »soziale Rechte« sind, die den Hilfebedürftigen »zustehen«. Das neue Sozialstaatskonzept der SPD vollzieht den Wandel weg vom »aktivierenden Staat« der Schröder-Agenda und hin zu einer Politik, die der Schutzfunktion des Staates gegenüber dem Einzelnen ein hohes Gewicht einräumt, bei der Rechtsansprüche und die Würde der Bürgerinnen und Bürger wichtige Grundwerte sind, bei der einerseits die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt weiterhin priorisiert, aber dabei andererseits stärker auf das Fördern und weniger auf das Fordern gesetzt wird. Um dies zu erreichen, will die Partei ein Bürgergeld einführen und so Hartz IV überwinden.

Zentrale Aspekte der SPD-Programmatik finden sich auch im Koalitionsvertrag und im Gesetzesentwurf zum neuen Bürgergeld wieder. Am 1. Januar 2023 soll es nach dem Willen der Bundesregierung in Kraft treten. Leitideen wie Würde, Teilhabe und Bürgerfreundlichkeit werden mit entsprechenden Maßnahmen unterfüttert.

Erstens: In den ersten beiden Jahren des Bürgergeldbezuges soll auf eine Vermögensanrechnung sowie die Prüfung der Angemessenheit der Wohnung verzichtet werden. Die Ampelkoalition will grundsätzlich das Schonvermögen erhöhen, um angesparte Vermögenswerte besser zu schützen.

Zweitens: Die bisherigen Eingliederungsvereinbarungen sollen durch sogenannte Kooperationspläne ersetzt werden, bei denen die Angebote und Maßnahmen mit den Bürgergeldbeziehenden gemeinsam vereinbart werden. Dabei gilt eine sechsmonatige Vertrauenszeit, in der keine Mitwirkungspflichten existieren. Grundsätzlich soll es weiterhin verbindliche Mitwirkungspflichten geben, über die Mechanismen zur Durchsetzung gibt es jedoch noch Unklarheiten. Was die Sanktionen insgesamt angeht, so sollen die vom Bundesverfassungsgericht geforderten Neuregelungen zum Schutz der Kosten der Unterkunft vor Sanktionen sowie der Ungleichbehandlung von Unter-25-Jährigen umgesetzt werden.

Drittens: Die Weiterbildung und Qualifizierung soll gestärkt werden, der Vermittlungsvorrang in den Arbeitsmarkt wird abgeschafft. So würde ermöglicht werden, dass Menschen eine Berufsausbildung machen können, anstatt direkt einen Job annehmen zu müssen.

Viertens: Die Zuverdienstmöglichkeiten sollen so reformiert werden, dass Anreize für sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit erhöht werden. In diesem Zusammenhang sollen die weder für die Betroffenen noch für die Öffentlichkeit nachvollziehbaren Regelungen zur Anrechnung von Schülerinnen- bzw. Schüler- und Studierendenjobs von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Hartz-IV-System sowie von Pflege- oder Heimkindern reformiert und der Freibetrag auf 520 Euro festgesetzt werden. Auch die Bagatellgrenze für Rückforderungen seitens der Ämter wird auf 50 Euro angehoben. So wird verhindert, dass Leistungsempfängerinnen und -empfänger beim Erhalt von kleineren Geldgeschenken diese Beträge gleich wieder beim Amt abliefern müssen.

Ein neues Sozialstaatsmodell kann entstehen

Wie sind diese Reformvorstellungen und Maßnahmen zu bewerten? Ist das schon eine Abkehr von Hartz IV oder nur alter Wein in neuen Schläuchen? Vorstöße für eine Grundsicherung sind wahrlich nichts Neues. Bereits im Bundestagswahlprogramm 1987 wollte die SPD mittelfristig für die Felder Arbeit, Invalidität und Rente eine aus Steuermitteln finanzierte »soziale Grundsicherung«. Auch in die Bundestagswahlkämpfe von 1990 und 1994 zog die SPD mit der Forderung nach einer Grundsicherung bei Arbeitslosigkeit sowie einer eigenständigen Grundsicherung im Alter. 2009 hatte die Partei erstmals eine Kindergrundsicherung im Programm.

Übrigens ist die Bezeichnung »Bürgergeld« semantisch einem FDP-Vorschlag aus dem Jahr 1994 entliehen. Die Liberalen bauten damals mit ihrem Konzept das von Milton Friedman bekannt gemachte Konzept der »Negativen Einkommensteuer« weiter aus, welches Ende der 70er Jahre im FDP-Programm auftauchte. Die Liberalen verbanden jedoch ganz andere politische Ziele und Werte mit ihren Konzepten als die SPD und auch die Grünen mit der Grundsicherung verfolgten. Denn auch die Grünen forderten erstmals 1987 eine »Einkommensgrundsicherung«, ab 2002 dann eine Kindergrundsicherung. Während SPD und Grüne mit der Einführung der Grundsicherung eine Leistungsausweitung verbanden, sah die FDP diese Maßnahme als Einstieg in das aus Großbritannien und den USA bekannte Sozialstaatsmodell der reinen Basisabsicherung.

Auch wenn die Idee einer Grundsicherung in Form eines Bürgergeldes nichts Neues ist: Die drei Parteien auf Bundesebene gehen mit der aktuellen Reform zentrale Konflikte der bisherigen Armutspolitik an: Wer in ALG II rutscht, soll nicht direkt und drastisch den bisherigen Lebensstandard verlieren. Arbeitslose Menschen sollen nicht mehr dem Druck der Sozialbürokratie ausgesetzt sein, jeden angebotenen Job annehmen zu müssen. Sie sollen viel stärker die Möglichkeiten erhalten, Schulabschlüsse oder Weiterbildungen zu erwerben, um dann auch am Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein.

Bürgergeldbezieherinnen und -bezieher müssten auch nicht mehr mit dem Damoklesschwert von weitreichenden Sanktionierungen leben, unter anderem bis hin zum völligen Verlust von Bargeldleistungen. Die Zuverdienstregelungen werden so angepasst, dass die gröbsten Ungerechtigkeiten und Fehlanreize beseitigt werden. Geldgeschenke oder Verdienste in Neben- oder Ferienjobs sollen nicht mehr wie bisher auf die Sozialleistung angerechnet werden, sondern dürfen bis zu einem gewissen Betrag behalten werden.

Würden all diese Veränderungen kommen, für den mindestsicherungsabhängigen Teil der deutschen Bevölkerung würde es in ihrem schwierigen Alltag zumindest ein paar Sorgen weniger geben. Und für den Rest wäre die Angst vor dem sozialen Absturz wohl etwas geringer. Es wäre in einer Zeit tiefgreifender Krisen und vielfältiger Transformationsprozesse ein wichtiges politisches Signal. Dass nun aus den üblichen politischen Lagern die allzu bekannte Rhetorik von der fehlenden Leistungsgerechtigkeit erklingt, sollte niemanden mehr politisch aufschrecken. Ein Ende des sozialbürokratischen Drucks und womöglich sogar der gesellschaftlichen Stigmatisierung – beides Hauptmerkmale von Hartz IV – entspricht eben einem Sozialstaat auf der Höhe der Zeit im 21. Jahrhundert.

Jedoch gibt es auch eine entscheidende Leerstelle der Reform: Das Bürgergeld soll zum 1. Januar 2023 eine Höhe von 500 Euro betragen. Das sind rund 50 Euro mehr als der Hartz-IV-Regelsatz für Alleinstehende. Es werden zukünftig zwar Preisentwicklungen zeitnaher berücksichtigt, aber ein entscheidender Punkt fehlt: Die bisherige Berechnungspraxis des Regelsatzes und damit auch die Definition des soziokulturellen Existenzminimums wurde gegenüber der Hartz-IV-Regelung nicht geändert. Für eine wirklich armutsbekämpfende Reform ist jedoch ein soziokulturelles Existenzminimum unerlässlich, dessen Höhe nachvollziehbar ist, die Teilhabe umfassend ermöglicht und nicht zum Spielball der Haushaltspolitik oder sozialstatistischer Tricks werden kann. An diesem zentralen Punkt sind weitere Reformanstrengungen unerlässlich. Mit dem Bürgergeld entsteht ein fortschrittliches und modernes Sozialstaatsmodell. Es sollte nun auch konsequent mit Leben gefüllt werden.

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