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Spezielle Herausforderungen für Kulturarbeit in ländlichen Räumen Das Ehrenamt entscheidet

Was passiert, wenn man Autorinnen und Autoren aus dem urbanen eine Zeit lang in den ländlichen Raum setzt und dort arbeiten lässt? Liefern sie Naturbe­trachtungen ab? Landschaftsbeschreibungen? Die Reproduktion des städtischen Vorurteils von der rückwärtsgewandten, engstirnigen, kulturlosen Dorfbevölkerung?

Literaturresidenzen haben im brandenburgischen Landkreis Oder-Spree Tradition. Seit 1993 wird die Burg in der Kreisstadt Beeskow einmal im Jahr für fünf Monate zum Wohn- und Arbeitsort eines Burgschreibers oder einer Burgschreiberin. In die alte Blabberschäferei (der Name bezieht sich lautmalend auf das Geräusch der früher hier arbeitenden, inzwischen abgetragenen plappernden Mühle) im Wald bei Görsdorf wiederum, in der sich in den 60er Jahren der Schriftsteller Günter de Bruyn (1927–2020) niederließ, zog 2023 für zweieinhalb Monate erstmals ein Literatur­-Kunst-Tandem ein. Diese von einer Jury ausgewählten und mit einem Stipendium ausgestatteten Literaten durften und dürfen in ihrer Zeit in der Region schreiben, was immer sie mögen. Ein aktiver Austausch mit den dort lebenden Menschen ist ausdrücklich erwünscht – Rei­bungen inklusive.

»Wie spiegeln sich die aktuellen Krisen, die die Gesellschaft im Ganzen treffen auf dem Land wider?«

Das Projekt »Campus Kultur – Burg Beeskow & KulTuS e.V.«, das von 2022 bis 2024 im Rahmen des brandenburgischen Landesprogramms »Regionale Kulturelle Ankerpunkte im ländlichen Raum« gefördert wird, ging unlängst noch einen Schritt weiter. Die sechs Autorinnen und Autoren, die im Herbst 2023 für den »Campus SCHREIB Kultur« hinaus in den Landkreis geschickt wurden, bekamen einen ganz konkreten Schreibauftrag: Wie spiegeln sich die aktuellen Krisen, die die Gesellschaft im Ganzen treffen – von Corona über den Klimawandel bis zum Fachkräftemangel –, auf dem Land wider? Verändern sie das Miteinander im Ort? Und wie geht man damit um? Was sind die relevanten Probleme, die die Menschen beschäftigen? Und wie intakt ist die Dorfgemeinschaft? Wird noch gemeinsam gearbeitet, gewohnt, gelebt?

In Orten, von denen viele in den vergangenen drei Jahrzehnten einen ökonomischen und politischen Bedeutungsverlust erlebt haben, Orte, die mit Einwohnerzahlen zwischen 180 und 3.000 weit hinter denen der Kreisstadt Beeskow (ca. 8.000) zurückbleiben. Und wo liegen die Gründe dafür, dass die AfD in den ländlichen Räumen in Oder-Spree dominiert, sich SPD-Kandidat Frank Steffen in der Stichwahl um den Posten des Landrates im Mai 2023 nur um Haaresbreite gegen seinen AfD-Herausforderer durchsetzen konnte?

Kein dünnes Recherchebrett für nur 14 Tage. Vorab gewonnene Ortspatinnen und Ortspaten gaben darum Hilfestellung, öffneten Türen, vermittelten Kontakte. Für einige der Literaten wurde schon die Anreise beziehungsweise das Vor-Ort-Sein an sich zum ersten Realitätscheck. Probleme, von denen man gehört oder gelesen, über die man vielleicht sogar gelächelt hat, fühlen sich eben ganz anders an, wenn man selbst mit ihnen konfrontiert wird.

»Sehr weit weg von zu Hause komme ich mir (…) vor, als ich zum ersten Mal einen Blick auf den Busfahrplan in Niewisch werfe«, notiert so die Berliner Poetry-Slammerin Lucia Lucia am Freitag, ihrem Ankunftstag. »Um 17.32 Uhr (…) fährt der letzte Bus nach Beeskow. Der letzte Bus bis Montag (…) Die Vorstellung, an einem Ort zu bleiben, von dem ich aus eigenen Stücken nicht wieder wegkomme, widerstrebt mir so sehr, dass ich 29 lange Minuten über wie angegossen am Küchentisch meiner Ferienwohnung sitze und aktiv gegen den Drang ankämpfen muss, aufzuspringen, meinen Koffer zu greifen und direkt wieder abzuhauen.« Wenigstens habe sie vor ihrer Abfahrt in Friedland, wo sie mit Jugendlichen in der Schule arbeitet, noch ein paar Lebensmittel eingekauft. »Wie sehr mich überrascht hat, dass ein Dorf Teil eines Ortes, der sich Stadt nennt, sein und dennoch keinen Supermarkt haben kann, kommt mir jetzt, wo ich hier bin, naiv vor.«

»Alle kennen die Geschichten von der letzten Sparkasse, dem letzten Supermarkt, der schließt. Und obwohl sich alle einig sind, passiert nichts.«

Der Journalist Christian Bangel, der in Ziltendorf recherchierte, war lieber gleich mit einem Car-Sharing-Auto angereist, dann aber beständig in Sorge, in das über eine App gesteuerte Fahrzeug nicht hinein zu kommen, weil die Netzabdeckung an der Oder so gering ist. Auch dass man sein Schnitzel im »Oderstübchen« nicht mit Karte zahlen kann und der nächste Geldautomat erst im 15 Kilometer entfernten Eisenhüttenstadt zu finden ist, stieß ihm auf. Er schreibt: »Mit wem auch immer man in Berlin spricht, von der Linken bis zur AfD: Alle kennen die Geschichten von der letzten Sparkasse, dem letzten Supermarkt, der schließt. Man könnte alle nachts um drei wecken und sie würden sagen, dass die Infrastruktur im ländlichen Raum verbessert werden muss, auch weil das eine Frage ist, an der sich vielleicht die Zukunft unserer Demokratie entscheidet. Und obwohl sich alle einig sind, passiert noch immer nichts. Ich verstehe das nicht. Und ich verstehe den Ärger darüber.«

Verständnis. Das also passiert, wenn man schreibende Städter in ländliche Räume steckt. Wenn’s gut läuft jedenfalls. Und zwar in beide Richtungen: Am Ende müssen alle Autorinnen und Autoren ihre Texte vor Ort lesen, ohne den Schutz des Abstandes, den eine Veröffentlichung in der Zeitung, eine Lesung in der Stadt bietet. Da schreibt man anders. Und wenn es um Geschichten geht, die einen ganz direkt angehen, erzählt von Menschen, die man bereits im Alltag erlebt hat, hört man auch anders zu. Sich austauschen, ins Reden kommen ­– das klingt so einfach und ist doch immer noch die beste Methode, um den Blick zu öffnen für die Sicht des anderen.

»Kultur hat das Potenzial, die Kommunikation zwischen Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen, religiösen Hintergründen und politischen Meinungen zu befördern.« So heißt es in den vom Landkreis im Jahr 2000 verabschiedeten »Leitlinien zur Entwicklung der Kulturlandschaft Oder-Spree«. »Kulturelles Handeln«, ist in dem vom Kulturbeirat erarbeiteten Papier zu lesen, »ist sowohl Ausdruck von übergeordneter politischer Willensbildung als auch von kooperativ organisierter Gestaltung von Lebensräumen vor Ort. Auf der Basis von Respekt, Toleranz und Akzeptanz sind kulturelle und künstlerische Projekte geeignete ›Transportmittel‹ für Selbstverortung, Zusammenarbeit und Veränderung. Die Auseinandersetzung mit Potenzialen wie Defiziten, die gemeinsame konstruktive Suche nach Lösungen sowie die Teilnahme an deren Umsetzung stärkt die Identifikation und ist ein kultureller Prozess an sich.«

»Kultur nicht als Versorgung, sondern als gesellschaftliche Aktivität denken.«

Der Landkreis Oder-Spree ist ein Flächenlandkreis; die bevölkerungsreichste Stadt ist Fürstenwalde/Spree mit gut 32.000 Einwohnern. Etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung lebt in Städten und Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern – und damit gewissermaßen in der Provinz. Dass deren kritisches Potenzial vor allem darin liegt, Kultur nicht als Versorgung, sondern als gesellschaftliche Aktivität zu denken, ist längst allgemeiner Konsens: Anders als in der Stadt kann man sich hier nicht darauf verlassen, dass der Staat Kultur organisiert. Ein Großteil des kulturellen Angebotes hängt vom Ehrenamt ab; das Spektrum der kulturellen Akteure mit ihrem Engagement und räumlichen Möglichkeiten reicht von den Schulen über Kirchen, Gemeinden, Vereine bis zur Freiwilligen Feuerwehr. Und: Kultur beinhaltet auch die Pflege des kulturellen Erbes. Im Süden des Landkreises wird so nach wie vor die aus dem Sorbischen kommende Tradition des Zamperns gepflegt. Bei dem Fest vor der Fastnachtszeit sollen mit Masken und Verkleidungen, mit Lärmen, Musiszieren und dem Schlagen mit Ruten böse Geister und der Winter vertrieben werden.

Aufsuchende Kulturförderung

Allein durch die finanzielle Förderbrille betrachten lässt sich das alles nicht. Statt einzig um die Sicherung der materiellen und finanziellen Bedürfnisse kultureller Einrichtungen und Projekte muss es ebenso um die Förderung kultu­reller Prozesse gehen, um die Vernetzung von Kultur, Demokratiebildung, Jugend- und Seniorenarbeit, Ehrenamt und Freizeit. Die Kulturförderung in ländlichen Räumen selbst kann sich nicht in die Bearbeitung und im besten Fall Bewilligung eingereichter Projektförderanträge zurückziehen. Sie muss sich aufsuchend gestalten, potenzielle Träger und Trägerinnen vor Ort identifizieren, um sie dann hinsichtlich ihrer Ideen, Vorhaben und deren materiellen und finanziellen Rahmenbedingungen anzusprechen und zu unterstützen.

Der Landkreis Oder-Spree ist nicht historisch gewachsen, sondern Ergebnis einer Verwaltungsreform. Was ihn prägt, sind zum Teil schroffe Gegensätze – zwischen bevölkerungsarmen Randlagen wie im Südosten und berlinnahen Speckgürtelgemeinden zum Beispiel. Menschen, die über viele Generationen in den Dörfern und Städten der Region verortet sind, haben dabei andere Bezüge zur Heimat als Zugezogene oder Rückkehrer. So gesehen muss man wohl von vielen Heimaten sprechen, die über Kultur miteinander in Kontakt kommen können: Sie ermöglicht es, sich permanent mit lokalen und regionalen Fragen zu Arbeit, Handel und Verkehr, mit Fragen zur Daseinsvorsorge und Ökologie, zu stetiger Veränderung und Weiterentwicklung, mit Fragen zu Globalisierung und Digitalisierung sowie zum alltäglichen Miteinander von Familie und Nachbarschaft auseinanderzusetzen.

Ein Ort, der solche Auseinandersetzung ermöglicht, ist das 2021 neu eröffnete museum oder-spree auf der Burg Beeskow: Regelmäßig versucht es mit dem »kursbuch oder-spree« und der darauf aufbauenden Jahresausstellung zu Themen wie »abreißen und aufbauen«, »kommen und gehen« oder auch »essen und trinken« die große Geschichte in der kleinen, unmittelbar erlebten sichtbar zu machen – und befragt dazu die Bewohnerinnen und Bewohner des Landkreises. Dass diese Form der Wertschätzung, die immer auch Einladung zum Dialog ist, an- und positiv wahrgenommen wird, zeigen nicht zuletzt die stets gut besuchten Lese- und Gesprächsrunden in der gesamten Region, aus denen heraus sich immer wieder neue Kontakte für die weitere Arbeit ergeben. So wird aufsuchende Kultur- am Ende zur Demokratiearbeit – und Kultur selbst zu einem Teil dessen, warum man sich an einem bestimmten Ort zu Hause fühlt, warum ein Ort eine Heimat sein kann.

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