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Existenzielle Fragen an die Demokratie Das Ende alter Gewissheiten

Am 23. Mai wird das Grundgesetz, das Fundament unseres Zusammenlebens in einem freien und demokratischen Rechtsstaat, 75 Jahre alt. Es brachte dem von außen befreiten Westteil Nazideutschlands demokratische Strukturen. 1948 parteiübergreifend entstanden im Parlamentarischen Rat, befördert durch vielfältiges, auch antikommunistisch motiviertes Engagement der Westalliierten. Vor allem die mit »68« verbundene Fundamentalliberalisierung erfüllte das Grundgesetz mit demokratischem Leben. Seit den 70er Jahren und nach der Einheit 1989 gab es die Erwartung, dass das »Mehr Demokratie Wagen« unaufhaltsam voranschreite. Im Zusammenspiel zwischen demokratisierten Institutionen und einer entfalteten Bürgergesellschaft, über soziale Bewegungen, politische Bildung und aufgeklärte Medien würde das demokratische Prinzip Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr prägen. Die westdeutschen Neuen Sozialen Bewegungen und die Bürgerbewegung der DDR schienen Blaupausen für die schier unaufhaltsame Demokratisierung gemäß den Zauberworten »deliberative Politik« und »Diskursethik« von Jürgen Habermas.

Es gab die Erwartung, dass »Mehr Demokratie wagen« unaufhaltsam voranschreiten würde.

Lang ist’s her. Heute ist die Demokratie in der Defensive und Resilienz das Wort der Stunde. Weltweit gibt es wieder mehr autokratische Regime als Demokratien: 74 zu 63, so der neueste Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung. Das argumentative Abwägen und die Konsensbildung selbst werden infrage gestellt, von innen heraus sind parlamentarische Demokratie und Rechtsstaat gefährdet. Radikalisierung, Abschottung, Ressentiments, Empörung und Hass nehmen zu, gepusht durch Rechtspopulisten und die Funktionslogik der neuen digitalen Kommunikation.

Primat des Politischen

Natürlich leben Debatten fort, wie die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie verbessert werden könnte. Wie das Primat des Politischen gegen die neoliberale Ideologisierung des schlanken Staates und des Marktes zu verteidigen sei. Wie »Deutschlandtempo« und neue Formen von Bürgerbeteiligung sowie Partizipation auf kommunaler Ebene zusammengehen könnten. Dazu enthält der von Thomas Hartmann-Cwiertnia, Jochen Dahm und Frank Decker herausgegebene Sammelband Der moderne Staat inspirierende Beiträge. Eine Ringvorlesung der Friedrich-Ebert-Stiftung an der Uni Bonn thematisierte, wie ein »starker« demokratischer Staat beschaffen sein muss, damit er die multiplen Krisen bewältigen, die Ungleichheit bekämpfen und die ökologische Transformation vorantreiben kann.

Jedoch, obwohl die Ampel bekanntlich nach wie vor regiert, ist diese Suche nach vernunftorientierter Problemlösung und progressivem Regieren nur noch eine Debattenblase neben anderen. Vielerorts dominiert, weit über Verlierer des Wandels und von Wertekonflikten hinaus, der Vertrauensverlust in demokratische Politik und die Abwendung von demokratischen Institutionen. An Protestbewegungen mangelt es nicht, ob eher rechts konnotiert von Pegida bis zum Aufstand der Bauern, oder links der Mitte von Fridays for Future bis zu den Massendemos besonders im Februar gegen rechte Machtergreifung.

Jedenfalls sind die Angela-Merkel-Jahre der Anti-Politik, des politischen Desinteresses, der Wahlenthaltung und der angeblich alternativlosen »Postdemokratie« längst vorbei. Derzeit ist die politische Kultur voll gereizter Polarisierung, zwischen dem demokratischen Spektrum des »Nie wieder ist jetzt« und einer Rechten, die immer stärker (mit AfD-Umfragen in Thüringen bis zu 36 Prozent) und immer extremistischer (bis hin zu den »Remigrations«-Plänen des Potsdamer Treffens) geworden ist. Auf der einen Seite millionenfacher demokratischer Protest, nicht nur in den Metropolen, gleichzeitig gewann die AfD als einzige Partei bei der Bundestags-Wiederholungswahl in Teilen Berlins im Februar in absoluten Zahlen Wähler hinzu.

Es ist kompliziert

Zwar zeigten uns Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, die gerade den diesjährigen Preis Das politische Buch der Friedrich-Ebert-Stiftung bekommen haben, dass das Bild komplizierter ist, nicht nur ein klares Gegeneinander unterschiedlicher Sozialstrukturgruppen. Deutschland ist nicht faschistisch, es ist zugleich so liberal wie noch nie. Doch durch Ungleichbehandlungen, Normalitätsverstöße, Entgrenzungsbefürchtungen und Verhaltenszumutungen können erhitzte Pro- und Kontra-Reaktionen affektiver Polarisierung, eben sogenannte Triggerpunkte, ausgelöst werden. Diese wirken unterschiedlich besonders in vier Diskursarenen: dem Oben-Unten (Klassenkonflikt), dem Innen-Außen (Migration), dem Wir-Sie (Identitätspolitik) und dem Heute-Morgen (Klima/Ökologie). Daran knüpfen politische »Polarisierungsunternehmer« erfolgreich an, die aus ablehnenden Emotionen Verschwörungstheorien, populistische Forderungen und Ideologien der Spaltung formen.

Das Ergebnis sind Tabubrüche, Grauzonen und fließende Übergänge hin zum Rechtsextremismus: zum autoritären Nationalismus, zur Ablehnung des Rechtsstaates, zu völkischer Ideologie, zur Entgrenzung von Gewalt, zu Rassismus, Fremdenhass und Antisemitismus. Die AfD ist eben nicht mehr nur Ausdruck des Misstrauens gegenüber den etablierten Parteien, sie füllt nicht nur wie beim Thema Migration eine Repräsentationslücke, sie ist auch der parlamentarische Arm des Rechtsextremismus: über 100 Mitarbeiter der AfD-Bundestagsfraktion stuft der Verfassungsschutz als rechtsextrem ein.

Zerbrechlichkeit der Demokratie

Auch Wolfgang Merkel, der lange die Abteilung Demokratie am Wissenschaftszentrum Berlin leitete, sieht viele demokratische Prozesse mittlerweile Im Zwielicht. Er hat 15 Aufsätze der letzten Jahre überarbeitet und ist dabei skeptischer geworden, was die Zerbrechlichkeit der liberalen Demokratien, schon allein wegen der vielen externen Krisen (Klimawandel, Migration, Pandemie, Krieg, entgrenzter Kapitalismus), angeht. Seine Leitfrage ist, »welche Eigenschaften eine Demokratie besitzen muss, um äußeren Stress, Schocks und Krisen zu widerstehen, sich an neue Umwelten anzupassen und gegebenenfalls sich zu regenerieren«. Das läuft auch bei ihm auf eine demokratische »Wiederentdeckung des Staates« als zwingendes Gebot hinaus, als Alternative zu den Autokratien, als Mittel der Inklusion und zur stärkeren Einhegung der Wirtschaft.

Sind wir auf dem Weg zu einer neuen bipolaren Ost-West-Spaltung?

Merkel reflektiert zentrale Fragen der Demokratieforschung: Wieweit treffen die ubiquitären Krisen-, Abstiegs- und Endzeit-Diagnosen einer »Demokratiedämmerung« zu? Sind wir, bei allen Differenzierungen im Einzelnen, auf dem Weg zu einer neuen weltweiten bipolaren Ost-West-Spaltung? Wieweit zerstört die Renaissance geopolitisch und großmachtgetriebener Kriege Demokratie, nimmt die Verteidigung der demokratischen Welt gegen Diktaturen und Autokratien, denken wir etwa an den Ukraine-Krieg, zunehmend Raum ein?

Wer steckt eigentlich in der Krise, der exklusive Staat oder die normative Demokratie? Das bezieht sich auf Fragen, wieweit Grenzen der Nationalstaaten geschlossen oder geöffnet werden sollen, wieweit supranationale Gestaltungsräume demokratisierbar sind, wieweit die neue Konfliktlinie zwischen »Kosmopoliten« und »Kommunitaristen« westliche Gesellschaften spaltet. (Hier wiesen die internationalen Forschungen Merkels auf eine grundlegende Polarisierung hin, während es in der Studie von Mau et. al. heißt, das häufig gezeichnete Bild von einer gespaltenen Gesellschaft treffe nicht zu.)

Demokratien mit ihren deliberativen Verfahren brauchen Zeit, die in Krisenzeiten, denken wir an den Klimawandel, eigentlich nicht da ist. Wird vermeintliche Schnelligkeit und Effizienz zu einem wesentlichen Faktor der Systemkonkurrenz? Wie ist das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie, wobei es beides in der Praxis nur im Plural, in höchst unterschiedlichen Formen gibt? Die Erkenntnis, »Kapitalismus erzeugt naturnotwendig wirtschaftliche Ungleichheit, die wiederum zu politischer Ungleichheit führt« war schon immer Kernmotiv sozialdemokratischen Gestaltens.

Worin bestehen die strukturellen Ursachen des Niedergangs der Volksparteien? Was sind die Lehren der Demokratieeinschränkungen der COVID-Jahre? Wieweit ist die nationale Demokratie eigentlich für »externe« Weltprobleme verantwortlich, wieweit sind da »lernfähige Demokratien« eigentlich verpflichtet voranzugehen?

Der rationale Diskurs wird dabei von verschiedenen Seiten bedrängt: Wieweit wird die »alternativlose« Verwissenschaftlichung (Virus, Klima) zu einem Pro­blem für die Demokratie? Und wieweit ist auf der anderen Seite der »Moralismus«, die existenzielle »Wahr-und-falsch«-Polarisierung (Identitätspolitik, Ukrainekrieg) noch demokratieverträglich? Können da Volksentscheide und Bürgerräte hilfreich sein?

Wir leben in neuen Zeiten der Aktivierung, doch seien diese völlig anders als die Politisierungszyklen des 20. Jahrhunderts, so der belgische Historiker Anton Jäger. In seinem Essayband Hyperpolitik zeigt er, dass Engagement heute individualistischer, kurzfristiger, volatiler, weniger kohärent ist, politischen Enthusiasmus mit privatisierter Selbstdarstellung verbindet, oft eine Politisierung ohne politische Folgen ist. Man könne von einer Form der »niedrigen« Politik sprechen: »niedriger Aufwand, niedrige Kosten, niedrige Exit-Schranken und kurze Zeitspannen«. Und von ideologischer Verwirrung, Ressentiment-Politik, einer Atmosphäre kurzer, relativ folgenloser Hype- und Empörungszyklen: »Die QAnon-Truppen, BLM (Black Lives Matter, d. A.) – Demonstranten und Antilockdown-Kundgebungen sehen hingegen weniger wie mobilisierte Massen als vielmehr wie die angesprochenen Schwärme aus: Gruppen, die auf kurze und starke Reize reagieren, angetrieben von charismatischen Influencern und digitalen Demagogen«.

Ob das mit den Millionen, die jetzt für die Demokratie auf die Straße gingen, auch so wirkungslos endet? Jäger befürchtet, dass die Rechtsextremen diese Sackgasse der Deinstitutionalisierung der politischen Beteiligung früher erkannt hätten. Während die Mobilisierung der Hyperpolitik ziemlich folgenlos in sich zusammenbricht, infiltrieren die Rechten erfolgreich intakte Institutionen der Bürgergesellschaft und bauen eigene Parteien, Vereine und Organisations­strukturen auf. Von AfD-Kinderfesten, -Rockkonzerten, -Feuerwehren, -Landfrauen usw. wird ja nicht nur aus der ostsächsischen Provinz berichtet. Jägers Credo lautet daher, die Hyperpolitik überwinden und »zurück in intermediäre Assoziationen wie Parteien, Gewerkschaften und parteinahe Kaninchenzüchtervereine« – vielleicht gerade für die derzeit gebeutelte Sozialdemokratie eine tröstliche Perspektive.

Unser 75-jähriges Grundgesetz kennt die Wehrhaftigkeit zum Schutz vor dem Absterben der Demokratie und des Rechtsstaates. Über Verfassungsschutz-Einstufungen, Vereinsverbote, über das Verwirken von Grundrechten rechtsextremer Politiker, über die Immunisierung des Verfassungsgerichtes, ja auch über ein Parteienverbot wird zu Recht debattiert. Mancher bleibt gegenüber illiberalen Instrumenten des Staates skeptisch. Wolfgang Merkel setzt bei allen Fragezeichen unbeirrt auf Aufklärung und Effizienz der Demokratie: »Der Fragilität der Demokratie begegnet man nicht mit Verboten und geheimen Observationen, sondern mit Argumenten, effektiver Krisenbekämpfung und fairer Verteilung von Lebenschancen«.

Doch unbestritten ist, ohne Demokraten kann es keine stabile Demokratie geben. Das Wichtigste bleibt, wie verbreitet die aktivierende Haltung ist: Verteidigt die Demokratie!. So auch der Titel eines von Harald Roth herausgegebenen Sammelbandes, in dem 32 intellektuelle und kulturelle Persönlichkeiten die bedrohliche Lage analysieren und aus dem Kontext des Vereins »Gegen Vergessen. Für Demokratie« zu weiterem Engagement ermuntern. Denn »unsere Demokratie braucht uns – jetzt«.

Thomas Hartmann-Cwiertnia/Jochen Dahm/Frank Decker (Hg.): Der moderne Staat. Was er ist, was er braucht, was er kann. J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2023, 205 S., 16 €.

Anton Jäger: Hyperpolitik. Extreme Politisierung ohne politische Folgen. Suhrkamp, Berlin 2023, 136 S., 16 €.

Steffen Mau/Thomas Lux/Linus Westheuser: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Suhrkamp, Berlin 2023, 535 S., 25 €.

Wolfgang Merkel: Im Zwielicht. Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie im 21. Jahrhundert. Campus, Frankfurt/New York 2023, 381 S., 39 €.

Harald Roth (Hg.): Verteidigt die Demokratie. J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2024, 279 S., 24 €.

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