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© Photo by Edwin Hooper on Unsplash

Das Gebot der Stunde

Die Corona-Pandemie ist (vielleicht noch lange) nicht vorüber, da sprudeln auf allen medialen Kanälen schon die Bilanzen hervor, die Schlussfolgerungen und die Lehren, was die so unverhoffte Katastrophe denn nun offenbart habe und was sie für unsere Zukunft bedeute. Natürlich darf, ja soll die öffentliche Debatte darüber jederzeit geführt werden, schon um zu erkunden, was wir künftig tun können und müssen, damit wir nicht ein zweites Mal bei einer vergleichbaren Bedrohung monatelang überfordert sind und Tausende Menschen leiden und sterben, denen wirksam hätte geholfen werden können. Das nächste Mal könnte gar nicht so weit entfernt sein – das ist die erste Lektion, die wir jetzt lernen sollten. Vielleicht können wir nach der überstandenen Bedrohung sogar hoffen, dass unser Leben und Zusammenleben eine ganz neue soziale Qualität gewinnt. In dieser Hinsicht sprießen die Spekulationen der Berufs- und Laienphilosophen in allen Medien recht munter. Die Wahrnehmungen und Dispositionen der Menschen selbst könnten sich durch die Erfahrungen der großen gemeinsamen Gefahr, der verbundenen Schicksale, der erlebten Solidarität und der langen Isolation zum Besseren verändern, weg von der Übermacht des Ökonomischen, Hektischen und Individualistischen, hin zu Gemeinsinn und Rücksicht. Nicht ganz unbekannt aus der langen Geschichte der Gattung war freilich schon, dass in Extremsituationen die allgegenwärtige menschliche Widersprüchlichkeit, in jedem Einzelnen und im Ganzen, stets besonders deutlich zutage tritt: beispielgebende Solidarität und aufopfernder Dienst an anderen Menschen (zumal in den Krankenhäusern) auf der einen Seite, brutaler Egoismus beim Kampf um kleine Vorteile auf der anderen; vorbildliche Disziplin bei der Einhaltung belastender Regeln neben sozialfeindlicher Borniertheit und sogar kriminellem Missbrauch der neuen Verletzlichkeit. Es wäre natürlich höchst erfreulich, wenn sich die Hoffnungen auf einen neuen Schub für die positive Seite, für Solidarität und soziale Sensibilität erfüllen würden. Bauen können wir darauf vorerst aber nicht und wir können auch wenig dafür tun.

Sofort beginnen sollten wir hingegen damit, die dringendsten praktischen Konsequenzen aus der Corona-Erfahrung zu ziehen, die schon heute auf der Hand liegen. Dazu gehören einige eigentlich naheliegende politische Projekte, über die wir seit längerem ergebnislos debattieren, deren Realisierung nun aber unausweichlich geworden ist, eben weil wir jetzt wissen, dass Pandemien der erlebten Art jederzeit ohne Vorwarnung wiederkehren können.

Die erste Konsequenz muss eine komplette Abkehr vom Wahn der Ökonomisierung und Privatisierung des Gesundheitssektors sein. Wir müssen ihn als eines der wichtigsten öffentlichen Güter rekonstruieren und modernisieren, über das die Gesellschaft verfügt – mit ausreichenden Reserven, dezentralen Einrichtungen und angemessener Vergütung der Beschäftigten. Die Ökonomisierung erweist sich auch in diesem Fall als die in Wahrheit teuerste Option, nicht nur für Gesundheit und Leben, das wäre schon mehr als genug, sondern zudem auch finanziell.

Zweitens ist die Globalisierung zwar durch die schnelle Verbreitung des Virus rund um die Welt nicht widerlegt, wohl aber ihre profitwirtschaftliche Logik mit ihrer sozial blinden Ausnutzung der jeweils kostengünstigsten Produktionsorte für alles und jedes, sogar auch den gesamten Gesundheits- und Notfallbedarf. Das gilt auch für ihre unflexiblen Lieferketten, die Lagerkosten vermeiden, aber Stillstand erzeugen, sobald der Rhythmus irgendwo hakt. Auch der globale Markt braucht, so schnell wie möglich, eine soziale Begrenzung und Steuerung.

Drittens verlangt, ins Allgemeine gewendet, die Schieflage zwischen den weltweiten Abhängigkeiten aller voneinander, beim Weltklima, bei der gemeinsamen Sicherheit, dem Handel und der Gesundheit (negative Globalisierung) als Gegengewicht dringend den Aufbau einer wirkungsvollen positiven Globalisierung durch verlässliche Institutionen der weltweiten Kooperation und Regulierung. Der Preis, den alle entrichten müssen, wenn das nicht gelingt, wächst uns ansonsten bald über den Kopf.

Und nun zeigt sich in dieser Krise auch noch unsere große Hoffnung auf transnationale Gemeinsamkeit im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Handeln, die Europäische Union, als krank an Leib und Seele. Sollte sie doch als beispielgebende Institution der solidarischen Kooperation, als entscheidender Baustein einer positiven Globalisierung ihre Bürgerinnen und Bürger vor den Folgen der ungeregelten Globalisierung schützen und der Welt ein Beispiel geben. Stattdessen haben der Virus und das Ausbleiben einer wirklich gemeinschaftlichen Antwort auf ihn die Keile noch tiefer in die Risse ihres brüchig gewordenen Gefüges getrieben. Jetzt ist vielleicht wirklich die letzte Gelegenheit für die reichen Länder des Nordens, Deutschland voran, durch demonstrative Großzügigkeit bei der gemeinsamen Bewältigung der Krise zu beweisen, dass die EU nicht nur ein kalter Markt ist, sondern ein Wesen mit Seele – und einem Herz, das noch schlägt. Es ist sonst zu erwarten, dass keine der fiskalischen Vorteilsrechnungen aufgeht, die in manch nördlichen Hauptstädten gerade erstellt werden.

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