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Herausforderungen für die künftige Strategeie des globalen Westens Das geopolitische Schachbrett

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Die aufregendste Frage hinsichtlich der zukünftigen globalen Ordnung lautet zurzeit, in welche Richtung sich die USA nach den Präsidentschaftswahlen am 5. November bewegen werden, und das wird entscheidend davon abhängen, ob Donald Trump oder Kamala Harris die Wahl gewinnen wird. Allzu lange haben die Europäer darauf gesetzt, dass Joe Biden das Rennen noch einmal machen wird. Diese Rechnung ist durch seine schwachen öffentlichen Auftritte und das Attentat auf Trump durchkreuzt worden. Und jetzt ist Joe Biden von der Kandidatur zurück- und Kamala Harris an seine Stelle getreten. Ausgang offen.

»Die EU ist auf eine weitere Präsidentschaft Trumps nicht wirklich vorbereitet.«

Die Europäische Union ist auf eine weitere Präsidentschaft Trumps indes nicht wirklich vorbereitet: auf eine protektionistische Wirtschaftspolitik, auf US-amerikanischen Druck, die Handelsbeziehungen zu China in großem Stil abzubrechen, auf eine US-Sicherheitspolitik, die keiner längerfristig angelegten Strategie folgt, sondern von Deals bestimmt ist und deswegen auch darauf hinauslaufen wird, die Beziehungen zu Europa auf solche zu Einzelstaaten anstelle solcher zur EU umzustellen. Eine zweite Präsidentschaft Trumps würde nicht zwangsläufig auf das Ende der transatlantischen Beziehungen hinauslaufen, aber die Beziehungen würden andere sein als in der Vergangenheit.

Das Schachspiel als Sinnbild der Geopolitik gibt eine Reihe von Hinweisen, unter anderem den, dass man, weil man die Züge, die der andere machen wird, nicht kennt, sich auf die Züge einstellen muss, die er machen könnte, um für jeden von ihnen einen Gegenzug bereit zu haben, der in die eigene Spielstrategie passt. Es ist nicht erkennbar, dass die Europäer diesen Vorgaben gemäß nachgedacht, geschweige denn sich darauf vorbereitet haben. Das gilt im Übrigen auch für die deutsche Bundesregierung.

Die Leitdevise der letzten Jahre, wonach der Worst Case schon nicht eintreten und alles glimpflich abgehen werde, scheint weiterhin vorzuherrschen. Wer aber so spielt, wird jede Partie verlieren – gegen den Kontrahenten Putin, gegen Xi Jinping und wohl auch gegen Trump, von dem freilich anzunehmen ist, dass er kein guter Schachspieler ist, weil er sich opportunistisch durch scheinbar günstige Gelegenheiten aus dem Spielplan bringen lässt. Aber er hat nun einmal die stärkeren Spielsteine.

Rückzug der USA aus Europa

Mittelfristig ist auch bei einem Sieg der Demokraten im Rennen um die US-Präsidentschaft damit zu rechnen, dass sich die USA aus Europa zurückziehen und die Sorge um Sicherheit und Selbstbehauptung den Europäern selbst überlassen werden. Für die USA ist der indopazifische Raum die Herausforderung des 21. Jahrhunderts, der sie sich stellen müssen. Und die Europäer werden sich zu entscheiden haben, ob sie den USA in diesen Raum zur Seite stehen werden (wofür es gegenwärtig Anzeichen gibt), um im Gegenzug den nuklearen Schutzschirm der USA zu behalten, das heißt, ob sie sich als Bestandteil des »globalen Westens« begreifen – oder ob sie ihre Aktivitäten auf Europa beschränken, dann aber für dessen Sicherheit auch allein aufkommen müssen. Sie werden in den nächsten Jahren zu entscheiden haben, welchen Zug sie auf dem globalen Schachbrett machen wollen.

»Im Globalen Süden sind die Autokraten zurzeit die Attraktiveren.«

Dabei geht es freilich um mehr als nur um das Verhältnis zwischen den USA und Europa. Nach den zwei bis drei Jahrzehnten eines unipolaren Momentums der USA, als man den Eindruck hatte, die globale Ordnung könne sukzessiv nach westlichen Regeln und Werten geordnet werden, haben wir es inzwischen erneut mit einem Gegensatz zwischen autoritären und liberaldemokratischen Mächten zu tun. Dabei ist obendrein festzuhalten, dass die Autokraten im Globalen Süden zurzeit die Attraktiveren sind und dass die liberalen-demokratischen Staaten zahlenmäßig immer weniger werden. Die große Frage bei den US-Präsidentschaftswahlen lautet, ob die USA auch in Zukunft zu den liberalen Demokratien oder zum Lager der autoritären Regime gehören werden. Oder ob sie dazwischen hin- und herpendeln.

Der Begriff des »Lagers« für die Gruppe der Autoritären besagt, dass es sich um eine Ansammlung von Akteuren, aber keine handlungsfähige Allianz handelt. So ist zu unterscheiden zwischen denen, die autoritär-autokratisch, und jenen, die eher autoritär-technokratisch organisiert sind. Des Weiteren zwischen denen, die zwar Wahlen abhalten, bei denen aber klar ist, dass immer der aktuelle Machthaber daraus als Sieger hervorgeht, und jenen, wo die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheit der Presse zwar demoliert ist, aber nicht ausgeschlossen werden kann, dass der autoritäre Führer die Wahl und damit die Macht auch einmal verliert. Erdoğan und Orbán stehen für letzteres, Putin für ersteres, Xi hat sich in die erste Gruppe vorgearbeitet.

Im Lager der Autoritären haben sich also recht unterschiedliche Akteure versammelt; sie sprechen gern von Freundschaft untereinander, aber in Wahrheit beobachten sie sich voller Misstrauen. Selbst was sich am ehesten noch als ein Bündnis ausnimmt, das Verhältnis zwischen Russland und China, ist eher eine aus der Not geborene Kooperation, die durch ungeschicktes Agieren des »Westens« befördert worden ist.

Bündnisse verhindern

Russland ist von China wegen des Verkaufs von Rohstoffen und Energieträgern abhängig, und China hat im Rahmen seiner Neue-Seidenstraßen-Strategie einige zentralasiatische Länder in seine Abhängigkeit gebracht, die Russland als der eigenen Einflusszone zugehörig ansieht. Im Lager der Autoritären gibt es einige, die die Probleme anderer skrupellos ausnutzen. Das eröffnet den USA und der EU die Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass es beim Lager bleibt und daraus kein Bündnis entsteht. An diesem Imperativ muss die grand strategy des globalen Westens orientiert sein.

»Es ist angeraten, das Instrument der wirtschaftlichen Sanktionen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.«

In diesem Kontext ist es angeraten, das Instrument der wirtschaftlichen Sanktionen, das sich zuletzt großer Beliebtheit erfreut, aber nur recht begrenzte Wirkung gezeitigt hat, einer kritischen Überprüfung zu unterziehen: Aus welchen Gründen und mit welchen Zielen werden Sanktionen verhängt? Führen sie womöglich zur Kooperation von Akteuren, bei denen es besser wäre, wenn sie zueinander auf Distanz bleiben würden? Will man mit ihnen die Welt besser machen, oder geht es um geopolitische und wirtschaftspolitische Ziele, die es ratsam erscheinen lassen, zu einer Regierung belastbare Beziehungen zu haben, auch wenn das fragliche Regime nicht den eigenen Werten entspricht? Und welche Kosten entstehen, wenn man in bestimmten Räumen, etwa der Sahelzone, keinen Einfluss mehr hat?

Wenn eine Ära unipolarer Konstellationen zu Ende geht, wie das jetzt mit dem Rückzug der USA aus der globalen Verantwortung der Fall ist, und das Projekt einer regelbasierten und wertegestützten Weltordnung durch ein multipolares System abgelöst wird, dann ändern sich auch die Regeln, nach denen die Spielsteine auf dem geopolitischen Schachbrett bewegt werden. Die Reichweite normativer Imperative nimmt ab, und die mechanischen Gesetzmäßigkeiten des Kampfes um Macht und Einfluss bekommt größeres Gewicht. Das ist bedauerlich, hat sich damit doch eine Menschheitserwartung, die in greifbarer Nähe zu sein schien, in Nichts aufgelöst. Man kann dem nachtrauern, aber dann verlässt man den Platz am Schachbrett und setzt sich auf die Zuschauerbank, um in melancholischer Grundhaltung zu warten, bis sich die Spielregeln wieder ändern. Konkret würde das heißen: Die Europäer und mit ihnen die Deutschen säßen dann nicht am Spieltisch, sondern würden von den anderen herumgeschubst; bestenfalls bekämen sie einen Platz in der zweiten Reihe zugewiesen.

»Die EU muss in der Lage sein, Mitgliedstaaten, die gegen sie arbeiten, aus dem Spiel zu nehmen.«

Will man das nicht, so muss die EU in den nächsten Jahren eine Handlungsfähigkeit entwickeln, die sie zurzeit nicht hat. Die Reisen des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán, als solcher ein politischer Zwerg, der die ihm turnusmäßig zugefallene EU-Ratspräsidentschaft genutzt hat, um auf der weltpolitischen Bühne sein eigenes Spiel zu spielen, ist das jüngste Beispiel dafür, dass in der EU eigentlich unbedeutende Akteure die Spielsteine an sich nehmen und damit machen können, was sie wollen. Die EU muss, will sie ein globaler Akteur werden, eine Hierarchisierung im Innern und eine gestufte Mitgliedschaft mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten durchsetzen. Auf jeden Fall muss sie in der Lage sein, Mitgliedstaaten, die nur in der EU sind, um gegen sie zu arbeiten, aus dem Spiel zu nehmen. Horizontale Gleichheit kann man sich nur leisten, wenn jeder zum Zug Kommende sich an die Regeln und die Mehrheitspositionen hält. Wo das nicht der Fall ist, muss die Vertikale gestärkt werden, damit wenigsten ansatzweise eine gemeinsame Strategie verfolgt werden kann. Dass Deutschland dabei eine zentrale Rolle zufällt, steht außer Frage.

Die Bundesregierung muss mehr europapolitischen Ehrgeiz entwickeln als bisher: wegen der Paralyse der französischen Politik, die wohl von längerer Dauer sein wird, wegen Italien, das die EU nur noch als Lieferantin von Hilfeleistungen für seine eigenen Probleme ansieht, und angesichts der sicherheitspolitischen Optionen, die sich mit der neuen Regierung in London eröffnet haben.

Selbstblockade überwinden

Aber ist es überhaupt wichtig, dass die EU ein handlungsfähiger Akteur wird? Oder genügt es, wenn sie ein großer Markt bleibt? Und was bedeutet es, wenn sie sich zu einer Aggregation von Nationalstaaten – also einem Lager zurückentwickelt, wie es die Rechten im Europaparlament zum Ziel haben? Historisch ist es nach dem Scheitern einer die jeweilige »Welt« umfassenden unipolaren Ordnung regelmäßig zu einer Regionalisierung der politischen Ordnung gekommen, in der einige Machtpole miteinander konkurrierten: Das war so beim Zerfall des Alexanderreichs und den anschließenden Diadochenkämpfen, beim Zerfall des Römischen Reichs im Westen und der Entstehung germanischer Königreiche, beim Kollaps des habsburgischen Monarchia-universalis-Projekts und der Formierung eines europäischen Staatensystems. Und es ist auch jetzt so nach dem Ende des unipolaren Momentums der USA: Russland und China haben sich auf die Erweiterung von ihnen kontrollierter Großräume konzentriert, die Russen mit militärischer, die Chinesen vorerst mit wirtschaftlicher und finanzieller Macht. Die Einflussgebiete der USA gibt es nach wie vor. Indien wiederum sucht den Globalen Süden hinter sich zu bringen. Und die Europäer? Die sind damit beschäftigt, sich selbst zu blockieren.

»Multipolare Weltordnungen verlangen angespannte Aufmerksamkeit, Entschlusskraft und Handlungsfähigkeit.«

Das aber können sie sich nicht länger leisten: nicht wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine an ihrer Südostflanke, der Bestandteil eines großen Projekts zur Wiederherstellung imperialer Macht ist; nicht wegen des russischen Drucks auf die baltischen Staaten; nicht wegen des instabilen Balkans, wo, wenn Putin in der Ukraine mit gewaltsamer Grenzverschiebung Erfolg hat, so mancher seinem Vorbild zu folgen geneigt ist; nicht wegen des Nahen Ostens, wo ein großer Krieg um die hegemoniale Neuordnung des Raumes droht; und nicht wegen der instabilen Lage an der gegenüberliegenden Mittelmeerküste und der Rolle, die russische Söldner inzwischen in der Sahelzone spielen. Schaut man nach Osten und Süden, so ist klar: Europa kann sich eine Selbstprovinzialisierung nicht leisten, so verlockend sie für die Friedfertigen auch sein mag. Multipolare Weltordnungen verlangen angespannte Aufmerksamkeit, Entschlusskraft und Handlungsfähigkeit.

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