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Der Kommunismus und Karl Marx Das Gespenst in Europa

So gut wie alle kritischen Gesamtdarstellungen und Interpretationen des Kommunismus als eine Weltbewegung und Sozialformation des 20. Jahrhunderts haben in den geschichtsphilosophischen, sozialtheoretischen und revolutionspraktischen Ideen von Karl Marx, und namentlich im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848, den entscheidenden Ausgangspunkt und Impuls gesehen – und sind damit den Selbstberufungen der kommunistischen Machthaber als »revolutionären Marxisten« in vielfacher Hinsicht auf den Leim gegangen.

So hat der französische Revolutionshistoriker François Furet die Essenz des modernen Kommunismus in der teils aus der Aufklärung, teils von Georg Wilhelm Friedrich Hegel stammenden und von Marx radikalisierten »Illusion« gefunden, dass die Geschichte der »Entwicklung der historischen Vernunft« folge. Dem amerikanischen Russlandhistoriker Martin Malia zufolge ist die von Marx verkündete »Botschaft der sozialistischen Utopie«, wonach »der Geschichte ein säkulares Ziel oder Telos eigen sei«, die eigentliche Quelle für das »fantastische, surreale sowjetische Abenteuer« gewesen. Stéphane Courtois, Herausgeber des Pariser Schwarzbuchs des Kommunismus, sah den Glutkern des kommunistischen Totalitarismus in der »messianischen Dimension des marxistischen Projekts, die Menschheit im und durch das Proletariat zu vereinen«, einer Idee, die »wie ein genetischer Code den Lauf der Dinge prägte« und den Weg in den Massenterror vorprogrammiert habe. Für den britischen Historiker Robert Service lagen die Ursprünge der fehlgelaufenen Geschichte des Kommunismus in dem uralten, von Marx revitalisierten »Traum der Apokalypse, dem das Paradies folgt«; und diese »marxistische DNA« habe auch den Leninismus, Stalinismus oder Maoismus geprägt und bestimmt. Man kann in dieser Aufzählung lange fortfahren.

Nun hat die bloße Vorstellung eines fast anderthalb Jahrhunderte überdauernden ideologisch-politischen Kontinuums namens »Marxismus«, das sich wie ein geschichtliches Wesen oder Unwesen in einer Serie weltweiter Revolutionen materialisiert haben soll, bevor es 1989 durch einen »Widerruf der Geschichte« (Furet) sein vorläufiges oder endgültiges Ende fand, schon etwas entschieden Esoterisches. Die ganze Verlegenheit konzentriert sich in solch naturalistischen, tatsächlich anti-aufklärerischen Metaphern wie der einer »marxistischen DNA«, die wie ein »genetischer Code« die Sprache, das Denken und das Handeln der Kommunisten aller Länder und Kulturen durch alle Weltkrisen und Weltkriege des 20. Jahrhunderts hindurch gesteuert haben soll.

Gegenüber diesem allzu geläufigen Bild wäre der ganze Komplex »Marx/Marxismus/Sozialismus/Kommunismus« historisch und begrifflich noch einmal genauer aufzuschlüsseln.

So hat Marx sich aus guten Gründen den zeitgenössischen Namen des »Communismus«, der etwa 1840 in einem äußerst heterogenen Feld französischer, englischer und deutscher Revolutionäre und Schwarmgeister aufkam, nur sehr zögernd zu eigen gemacht – vor allem wegen seiner »rohen«, egalitären, antimodernen, sogar reaktionären Komponenten. Im Manifest ist das »Gespenst des Kommunismus« dann auch wenig mehr als ein ironisches Zitat der Angstvisionen der besitzenden Klassen vor einer drohenden »roten«, d. h. sozialen Revolution. Abgesehen von der vollkommen unanfechtbaren, hohe Maßstäbe setzenden Formel einer »Association, worin die freie Entwicklung eines Jeden die Bedingung für die freie Entwicklung Aller ist«, verzichtete Marx, hier wie auch sonst, auf jede weitere Präzisierung dieser Zielvorstellung, die vor allem einen geschichtlichen Horizont jenseits der gegebenen Klassengesellschaften markierte. Nach 1850 ließ er den Begriff »Kommunismus« als programmatische Selbstbezeichnung stillschweigend fallen. Mehr noch: In seinem späteren geschichtsphilosophischen und sozialtheoretischen System hatte der »Kommunismus« keine systematische oder programmatische Bedeutung.

Zudem ist die Entstehung des »Marxismus« von Marx’ Figur und Werk nicht zu trennen, aber doch zu unterscheiden. Zu Lebzeiten blieb sein publizistischer Radius sehr beschränkt; und dasselbe gilt für seine titanischen Theorieanstrengungen, die seinen eigenen Ansprüchen nach Stückwerk blieben. Als ein Besucher ihn 1878 nach seinen wichtigsten Werken fragte, soll er gesagt haben: »Was für Werke?« Umso mehr fällt der Blick auf Friedrich Engels, ohne den es vielleicht keinen »Marx« (mit allem, was man mit diesem Namen verbindet) gegeben hätte. Abgesehen von seinen eigenen Texten, die Engels als theoretischen Kopf und Essayisten eigenen Rangs ausweisen, war es seine genuine Leistung, in einer Reihe lesbarer Schriften, vor allem seiner in fast alle europäischen Sprachen übertragenen Broschüre Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft von 1880, die ersten Umrisse eines für ein größeres Publikum kommensurablen »Marxismus« oder »wissenschaftlichen Sozialismus« erst kreiert zu haben. Und Engels war es auch, der nach dem Tod von Marx 1883 in einer forcierten Anstrengung, assistiert von Karl Kautsky und Eduard Bernstein, die chaotische Hinterlassenschaft seines Freundes geordnet, übertragen (d. h. wie ein Palimpsest lesbar gemacht) und in ersten, wichtigen Teilen mit eigenen Ergänzungen, Korrekturen und Anmerkungen ediert hat, so vor allem die beiden Folgebände des Kapital. Nur er konnte das tun.

Ohne einen Karl Kautsky und einige andere theoretische Köpfe seines Kalibers wie Eduard Bernstein oder Franz Mehring, Georgi Plechanow oder Antonio Labriola, und ohne charismatische Redner, Politiker und Popularisatoren wie August Bebel, Victor Adler, Jean Jaurès oder Emil Vandervelde, hätte es einen nach vielen Seiten anschlussfähigen »Marxismus« aber auch nicht gegeben. So war die deutsche Sozialdemokratie mit ihrem strikt marxistischen Erfurter Programm von 1891 und ihrer (in sich völlig schlüssigen) Politik eines »revolutionären Attentismus«, der ganz auf ihren scheinbar unaufhaltsamen sozialen und demokratischen Aufstieg setzte, zwar der eifersüchtig beargwöhnte, letztlich jedoch unbestrittene Kern des europäischen Sozialismus. Aber die Sozialistische Internationale als Ganze blieb eine pluralistische Vereinigung, so wie es jede ihrer Mitgliedsparteien auch war; und sie bot Platz für erklärte Reformisten wie für Radikale ganz verschiedener Couleur. Dazu gehörten diverse, vom Syndikalismus beeinflusste Ausleger in Südeuropa, die später teilweise zu »Faschisten« mutierten, oder eben eine östliche Sonderformation wie der »bolschewistische« Flügel der russländischen Sozialdemokratie.

Dessen Gründer und Anführer Wladimir Iljitsch Lenin hatte in einer Serie freier doktrinärer Adaptionen das Schlagwort einer »proletarischen Diktatur«, das Marx im Fieber der niedergeschlagenen 1848er Revolution laut Engels dann in seinem Requiem auf die im Blut erstickte Pariser Kommune von 1871 als eine erste »Regierung der Arbeiterklasse« gemeint hatte, mit halb blanquistischen, aus dem russischen Intelligenzija-Radikalismus stammende Avantgarde-Vorstellungen fusioniert. Lenin erklärte diese eher ominöse »Diktatur des Proletariats« zum eigentlichen Kern eines »revolutionären Marxismus« und gab ihm eine Ausdeutung, die letztlich darauf hinauslief, dass es eine Arbeiterklasse im politischen Sinne ohne eine Partei von Berufsrevolutionären gar nicht gebe – und damit auch keinen Widerspruch zwischen einer Klassen- und Parteidiktatur.

Der Beginn des Weltkriegs 1914, der die Internationale zerriss und all ihre Friedensresolutionen zur Makulatur machte, gab Lenins extremer, unbeirrbar auf die Erringung der ungeteilten Macht gerichteten Politik eine Realitätsbasis, die sie in den virulenten sozialen und politischen Konflikten des Russländischen Reiches nicht hätte finden können. Seine Losung der Verwandlung des Weltkriegs in einen universellen Bürgerkrieg, die die »Sozialpazifisten« (in Russland die Menschewiki, in Deutschland die Unabhängigen Sozialdemokraten) zu noch schlimmeren Verrätern erklärte als die »Sozialchauvinisten« (die Mehrheitssozialdemokraten), trieb ihn bis an den Vorabend der russischen Februarrevolution in eine nahezu totale Isolation. Aber nach seiner Rückkehr im April 1917 brachte ihn gerade diese zielstrebige Intransigenz, angesichts des chaotischen Kollapses des Imperiums, in die Position eines vermeintlich konsequenten Kriegsgegners und Stifters einer neuen, eisernen Sozialordnung – die er im Feuer eines verheerenden, mit den Mitteln eines bedingungslosen Terrors geführten Bürgerkriegs auch tatsächlich errichten konnte.

Ein integraler Teil dieser Usurpation der Macht war die Umbenennung seiner Partei in Kommunistische Partei Russlands im März 1918, 70 Jahre nach dem Manifest von 1848 – obwohl auch Lenin bis dahin den Namen und Begriff des »Kommunismus« kaum je verwendet hatte. Jetzt erklärte er, dies sei »die einzig richtige wissenschaftliche Bezeichnung« seiner Partei und ihrer Ziele. Gleichzeitig entstand auf Basis der leninistischen Organisationsprinzipien und improvisierten Sozialdoktrinen eine neue Kommunistische Internationale, die als eine demokratisch-zentralistisch verfasste, bolschewistische Weltpartei firmierte – in schärfster Abgrenzung zur internationalen Sozialdemokratie.

So einzigartig, aber auch erfolglos dieses Unternehmen im Ganzen war, bildete es doch den Nährboden, auf dem sich die Führerfiguren der Kommunistischen Parteien ausbildeten, die am Ende des Zweiten Weltkriegs dann zu den Gründern eines neuen »sozialistischen Weltlagers« wurden. Viele von ihnen, wie der fast 30-jährige Mao Zedong zum Beispiel, als er 1921 an der von Moskauer Emissären initiierten Gründung einer Kommunistischen Partei Chinas teilnahm, wussten vom Marxismus wie vom Leninismus so gut wie nichts – zu einem Zeitpunkt, an dem es in Russland immerhin seit 40 Jahren eine konsolidierte Tradition des Sozialismus und Marxismus gab. Und als Mao, schon unbestrittener Führer seiner Partei und der Roten Arbeiter- und Bauernarmee, im Feldlager in Jenan 1937/38 daran ging, sich ein eigenes theoretisches Fundament zu zimmern, stand ihm immer noch nur eine ganz rudimentäre »marxistisch-leninistische«, sprich stalinistische Literatur zur Verfügung. Dafür kannte er sich als ehemaliger romantischer Monarchist und Nationalist in der klassischen Literatur seines Landes gut aus, aus der er auch als kommunistischer Parteiführer später dann ausgiebig schöpfte.

In diesen jeweiligen Amalgamen und Synthesen – wie namentlich dem von Stalin kreierten »Marxismus-Leninismus« oder den »Mao-Zedong-Ideen« – flossen aber nicht nur vergangene oder aktuelle Lektüren, sondern vor allem eine Masse jeweiliger, zeitgebundener oder generationell geprägter, sozialer oder nationaler Ambitionen, Interessen und Motivationen mit ein. So haben sich im Programm der bis heute an der Macht befindlichen KP Chinas Reste eines nominellen Staatssozialismus auch ganz explizit mit älteren, nationalen Gesellschaftsvorstellungen vermischt, etwa der »Da Tong«, der »Großen Gemeinschaft« als Kernstück einer konfuzianischen Staatsfamilien-Ideologie. Angesichts der nachgerade hyperkapitalistischen Ausrichtung der heutigen chinesischen Staatsmonopole auf die Weltmärkte und Devisenerlöse sind diese Programmerklärungen genauso ideell bedeutungslos und geistig steril geworden, wie der doktrinäre Konfuzianismus es für den Despotismus der chinesischen Kaiser gewesen ist. So weit in den obligatorischen Ideologieschulungen auch heute noch die Katechismen und Formeln des Marxismus heruntergebetet werden müssen, werden sie da als reine geistige Disziplinierungs- und Konditionierungsinstrumente eingesetzt. Um eine Emanzipation der arbeitenden Menschen geht es dabei am allerwenigsten, mehr um die Größe und den eisernen Zusammenhalt der Nation. Ob das je anders war, darf allerdings bezweifelt werden.

Ganz jenseits all dieser politisch-ideologischen Adaptionen und Mutationen liegt die epochale geistige Wirkung des marxschen Denkmodus, der sich über viele Etappen und Verzweigungen hinweg in den intellektuellen Debatten im Westen eher als den staatlichen Marxismus-Leninismus-Instituten des Ostens entfaltet hat. »Wie Monsieur Jourdain, der Protagonist von Molières Komödie Der Bürger als Edelmann, zu seiner namenlosen Verwunderung entdeckt, dass er seit über vierzig Jahren Prosa spricht, ohne es zu wissen, so haben weite Teile des westlichen Bürgertums marxsches Gedankengut in ihren Ideenhaushalt aufgenommen, ohne es je bemerkt zu haben« (Francis Wheen).

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