Neulich erzählte eine Freundin, dass ihre Kinder sie zur Rede gestellt hätten: »Mama, wie kannst Du noch Mitglied in diesem sexistischen, homophoben Verein sein!« Gemeint war die katholische Kirche. Diese Mutter ist so religiös wie liberal. So schimpft sie über die Vorstellung ihrer Kirche, dass Frauen kultunfähig seien, Sex nur in der Ehe stattzufinden habe, gelebte Homosexualität »objektiv ungeordnet« sei. Ein Kirchenaustritt aber war für sie trotzdem nicht infrage gekommen, irgendwie hoffte sie doch auf Veränderungen, sah sie auch das Gute im Gemeindeleben.
Für ihre Kinder aber zählte das nicht mehr. Sie empfanden die katholische Uneindeutigkeit, die ihre Mutter lebte, als geradezu skandalös. Das Doppelleben der Kirchenreformerinnen und -reformer aus Leiden an der Institution bei gleichzeitiger Lebensverbundenheit mit ihr ist für sie nicht mehr hinnehmbar. Tatsächlich ist die Mutter inzwischen aus der katholischen Kirche ausgetreten. Sie ist eine von fast 360.000 Menschen, die 2021 die katholische Kirche verließen. Der Zorn über den weiter und immer weitergehenden Skandal der sexualisierten Gewalt treibt sie fort; nicht mehr das Gehen erscheint begründungspflichtig, sondern das Bleiben. Das Ansehen der Kirche ist dahin, mit unabsehbaren Folgen auch für das Verhältnis von Kirche und Staat, Religion und Politik.
Entsprechend hoch ist nun der Reformdruck auf die katholische Kirche und in der katholischen Kirche. Vor drei Jahren machten sich die katholischen Bischöfe und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken auf den »Synodalen Weg«. Die Missbrauchsstudie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Mannheim, Heidelberg und Gießen, kurz MHG-Studie genannt, hatte 2018 die Frage aufgeworfen, ob nicht der Umgang der hierarchisch aufgebauten Kirche mit Macht, die Tabuisierung von Sexualität und insbesondere von Homosexualität sowie die zölibatäre Lebensform der Priester dazu beigetragen haben, dass sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche geschehen und vertuscht werden konnte.
Unter der Wucht der öffentlichen Empörung bat die Bischofskonferenz das Zentralkomitee als Vertretung der katholischen Verbände und Diözesanräte, einen gemeinsamen Reformprozess zu starten. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) ließ sich darauf ein, obwohl die Bischofskonferenz darauf bestand, dass Beschlüsse nur mit der Zustimmung von zwei Dritteln der Bischöfe gefasst werden können. Eine Minderheit von nicht einmal 17 Prozent kann also eine 83-Prozent-Mehrheit blockieren.
Trotzdem ist erstaunlich, was in den Beschlussvorlagen steht, über die im März die Delegierten endgültig abstimmen sollen: Der Synodale Weg fordert Weiheämter für Frauen, mehr Mitsprache bei Bischofsernennungen, Segensfeiern für homosexuelle Paare, die Zulassung erfahrener, verheirateter Männer zum Priesteramt, dass Sexualität nicht mehr nur dann eine gute Gabe Gottes ist, wenn sie innerhalb der kirchlich geschlossenen Ehe und ohne künstliche Verhütungsmittel geschieht.
Vielleicht werden in den letzten Beratungen im März noch Formulierungen abgeschwächt, werden aus Forderungen Bitten und Wünsche nach Diskussion auf Weltkirchenebene. Schließlich hat Papst Franziskus deutlich gemacht, dass er nicht akzeptieren wird, dass die Kirche in Deutschland beschließt, was aus seiner Sicht die gesamte Weltkirche beschließen muss – die Weihe von Frauen zum Beispiel.
Insgesamt aber hat sich die katholische Kirche in Deutschland in den vergangenen fünf Jahren modernisiert wie seit der Würzburger Synode von 1971–1975 nicht mehr (beziehungsweise der Meißner Synode 1969–1971 in der DDR). Wie damals geht es um die Öffnung einer als starr empfundenen Institution, um Mitbestimmung und Mitgestaltung des Kirchenvolkes, um »ein Bekenntnis zum Glauben in dieser Zeit«, wie es damals der Theologe Johann Baptist Metz formulierte.
Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass vor 50 Jahren die Würzburger Synode von der Öffentlichkeit wie einer Mehrheit der Gläubigen als vielbeachteter Aufbruch und als Hoffnungszeichen angesehen wurde. Der Synodale Weg erscheint dagegen heute als zu späte und ungenügende Reaktion auf den moralischen Bankrott des Missbrauchsskandals, auf 30 Jahre Starre, während die Gesellschaft sich weiterentwickelt hat.
Wie sehr sich die Welten fremd geworden sind, zeigen die unterschiedlichen Reaktionen auf die Aktion »out in church«: Ende Januar 2022 outeten sich 500 queere Katholik*innen in einem spektakulären ARD-Film, darunter viele Kirchenangestellte. Die katholischen Bistümer änderten daraufhin ihr Arbeitsrecht: Beziehungsleben und Intimsphäre sind nun einer arbeitsrechtlichen Bewertung entzogen. Für die katholische Kirche in Deutschland ist dies ein großer Schritt – für viele Menschen außerhalb der Kirche hingegen war es ein Skandal, dass es so etwas überhaupt noch gab.
Das ist das Modernisierungsparadox, in dem die katholische Kirche besonders in Deutschland, aber auch in den pluralen westlichen Gesellschaften und letztlich weltweit steckt. Über Jahrzehnte haben sich Theologinnen und Theologen sowie Gläubige in den Verbänden und Kirchengemeinden dafür eingesetzt, dass die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) fortgeführt werden – vergebens. Sie haben sich abgearbeitet und aufgerieben, sind abgestraft und ihrer Berufslaufbahnen beraubt worden. Jetzt, wo die Fragen der innerkirchlichen Machtverteilung und der religiösen Autonomie der Gläubigen auf die Tagesordnung einer diesmal in ihrer Existenz und Identität angefragten Institution zurückgekehrt sind, erleben sie, wie auf einmal Bischöfe den Pflichtzölibat infrage stellen, Scham angesichts der jahrhundertelangen kirchlichen Diskriminierung Homosexueller äußern, nichts gegen die Weihe von Frauen hätten.
Als 1995 – angetrieben durch den Missbrauchsskandal um den Wiener Kardinal Groer – die Kirchenvolksbewegung »Wir sind Kirche« den Abbau klerikaler Macht, ein Ende des Zölibats, die Weihe von Frauen forderte und dafür 1,8 Millionen Unterschriften sammelte, da befand der damalige Mainzer Bischof und Bischofskonferenzvorsitzende Karl Lehmann, solche Aktionen stifteten »viel Verwirrung unter den Menschen« – bis vor wenigen Jahren waren die Kirchenvolksbewegung und ihr tief frommer Sprecher Christian Weisner für den etablierten Katholizismus nur nervende Querulanten.
So gesehen sind die Debatten und die Mehrheitsverhältnisse auf dem Synodalen Weg ein großer Erfolg für »Wir sind Kirche« und die anderen Reformgruppen. Nur dass viele Engagierte mit der Zeit alt geworden sind, resigniert haben, tief verletzt gegangen sind; auch diese Form der Hoffnungsvernichtung wäre einmal ein offizielles Schuldbekenntnis der katholischen Kirche wert. Nur dass eine sich rasant säkularisierende Gesellschaft mittlerweile nur noch mäßig interessiert die Schultern hebt: Es ist zu wenig, es kommt zu spät. Und dass es immer noch eine gut organisierte und mächtige Minderheit in der katholischen Kirche in Deutschland gibt, die sich durch die Veränderungen in ihrer Identität bedroht sieht.
Der Schwung ist dahin
In dieser multiplen Glaubwürdigkeits-, Sinn- und Identitätskrise der katholischen Kirche zeigt sich aber auch die Krise vieler Gruppen und Initiativen, die eine grundlegende Veränderung der Institution und die Weiterentwicklung ihrer Lehre und Theologie fordern. Die Älteren unter ihnen haben ihre Wurzeln in einer katholischen 68er-Bewegung: Der Essener Katholikentag 1968 war geprägt von jungen Menschen, die ihrem Zorn über das gerade von Papst Paul VI. verhängte Verbot künstlicher Verhütungsmittel Luft machten, die sich für die gerade entstehende Befreiungstheologie begeisterten, die von ihrer Kirche eine »Option für die Armen« forderten.
Zehn Jahre später, nach dem Freiburger Katholikentag, schloss sich ein so buntes wie breites Bündnis von Gruppen zusammen, das sich von den Bischöfen und vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken ausgegrenzt sah, um für das nächste Katholikentreffen in Berlin 1980 einen »Katholikentag von unten« zu organisieren. Die »Initiative Kirche von unten« (IKvu), die sich so konsolidierte, einte Feministinnen wie verheiratete Priester, Schwule und Lesben, Friedens-, Umwelt- und Eine-Welt-Gruppen, Ökumene-Kreise und die »Christen für den Sozialismus«.
Ihre große Zeit hatte die IKvu in den 80er und frühen 90er Jahren: Zu den Katholikentagen »von unten« strömten Zehntausende, um für den Frieden zu demonstrieren oder um Theologinnen und Theologen wie Dorothee Sölle, Hans Küng, Leonardo Boff oder Eugen Drewermann zu hören, die auf den offiziellen Treffen nicht eingeladen waren. Die Bürgerrechtler, die nach der friedlichen Revolution in der DDR zur IKvu stießen, brachten noch einmal neuen Schwung, der aber Ende der 90er Jahre schon wieder dahin war.
Das lange von CDU und CSU dominierte ZdK öffnete sich unter dem ostdeutschen Präsidenten Hans Maier den Grünen, den Reform-, Friedens- und Umweltgruppen. Die eigenen Veranstaltungen schwächelten und strahlten nicht mehr über die Blase der ohnehin Überzeugten hinaus. Heute zählt die IKvu noch 22 Gruppen und Gemeinden, die öffentlich praktisch nicht mehr in Erscheinung treten.
Das immerhin gelingt »Wir sind Kirche« noch: Christian Weisner, der Sprecher der Initiative, ist zuverlässig präsent, wenn es irgendeinen Anlass gibt. Die Erben des Kirchenvolksbegehrens sehen sich vor allem als innerkirchliche Pressure- und Lobbygruppe, auch wenn sie betonen, dass sie deshalb nicht unpolitisch seien. Doch auch die Unterstützerinnen und Unterstützer von »Wir sind Kirche« sind alt geworden und der inhaltliche Erfolg zum organisatorischen Problem: Wenn nun auch die katholischen Verbände nicht anders klingen als »Wir sind Kirche«, wozu braucht es die dann noch?
Auch das gehört zu den Modernisierungsparadoxien der katholischen Kirche: Die Modernisierer von einst erscheinen zunehmend als alt und strukturkonservativ; manchmal inszenieren sich theologisch konservative Gruppen deutlich moderner. Teils übernehmen große Verbände wie der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) oder die katholischen Frauenverbände kfd und KDFB ihre Rolle, vor allem bei den Debatten des Synodalen Weges.
Auch sind neue Initiativen aufgetaucht: Die Vertreterinnen und Vertreter der Betroffenen von sexualisierter Gewalt haben sich in Vereinen wie dem »Eckigen Tisch«, »Missbit« und anderen Initiativen organisiert; ihr Ziel ist nicht die Kirchenreform, sondern die Vertretung von Menschen, an denen ein Verbrechen geschah – und dennoch verändert ihre Arbeit die katholische Kirche spürbar.
Auch die 2019 aus einem Lesekreis in einer Pfarrei in Münster entstandenen Kirchenstreikbewegung »Maria 2.0« fordert eine konsequente Aufarbeitung des Missbrauchsskandals sowie den Zugang aller Menschen zu den Kirchenämtern. Die Initiatorinnen Elisabeth Kötter und Andrea Voß-Frick sind mittlerweile aus der katholischen Kirche ausgetreten, weil sie deren hierarchische Struktur nicht mehr mit ihrer Kirchensteuer unterstützen wollen. Freundschaftliche Verbindungen zu »Wir sind Kirche«, dem BDKJ und den Frauenverbänden bestehen weiterhin – alle trafen sich im September zu einer gemeinsamen »Kirchenvolkskonferenz«.
Trotzdem: Auch die Reformgruppen trifft die Krise der Institution. Sie müssen sich den Vorwurf anhören, mit ihrer konstruktiven Kritik an der Stabilisierung eines Systems mitzuarbeiten, das sie doch eigentlich verändern wollen. Auch an den Reformgruppen nagen die Säkularisierungsprozesse: Eine zunehmend kirchenferne Öffentlichkeit versteht ihre Anliegen nicht mehr, hält die katholische Uneindeutigkeit für skandalös. Und auch sie trifft die Singularisierung der Gesellschaft: Die Frauen, die auf Instagram das »feministische Andachtskollektiv« gegründet haben, gehen ihre eigenen Wege wie die christlichen Aktivistinnen und Aktivisten, die dagegen gekämpft haben, dass das Dorf Lützerath dem Braunkohle-Tagebau zum Opfer fällt.
Was ja nicht heißt, dass nichts geschieht, im Gegenteil: Viele Gemeinden, Initiativen, Gruppen arbeiten sich nicht mehr an der Hierarchie ab, sondern machen einfach, wovon sie überzeugt sind: Frauen stehen am Altar, queere Menschen sind willkommen. Das Gottesvolk geht eigene Wege.
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