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Ansichten eines komplexen Kontinents Das Grundproblem liegt an der Basis

Im Prolog seines epischen Reportagewerks Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums zählt der niederländische Journalist und Schriftsteller Geert Mak die Europäische Union neben den Vereinigten Staaten von Amerika zu den großen historischen Projekten, »deren Ursprünge in den Idealen der Aufklärung liegen, in der Idee der Menschenrechte, der Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – auch internationaler Brüderlichkeit«.

Man kann Maks Werk, welches soeben mit dem Preis Das Politische Buch 2022 der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnet wurde und das die Vielfalt europäischer Ansichten und Lebenswelten ebenso erfasst wie deren Widersprüche und Antagonismen, einem politisch interessierten und engagierten Publikum zweifellos ans Herz legen. Doch man sollte sich von der Emphase des Titels Große Erwartungen nicht täuschen lassen. Denn zugleich malt der Autor sich aus, wie die Geschichte der EU dereinst im Aufsatz einer klugen Geschichtsstudentin des Jahres 2069 vielleicht aussehen würde. »Eine besonders erfreuliche Lektüre« werde dieser Rückblick nicht sein, schreibt Mak. Und er stellt sich die pessimistische Frage: »Wie ist der Niedergang von so etwas Schönem zu erklären?«

Ein Althistoriker würde antworten, dass Europa vielleicht große Erwartungen hervorgebracht habe, die freilich mit diesem Kontinent wenig zu tun gehabt hätten: »Von Europa weiß keiner der Menschen etwas, (…) weder woher es diesen Namen erhalten hat, noch, wer ihn ihm gegeben hat, ist klar, wenn wir nicht sagen wollen, das Land habe den Namen von der Europa aus Tyros erhalten«, so zitiert der Historiker Bernhard Braun den von Herodot überlieferten Mythos von der Entführung einer kleinasiatischen Königstochter namens Europa.

Konsequent verweist Braun im ersten Kapitel seines Buches Die Herkunft Europas darauf, dass die Kultur unseres Kontinents einen »Migrationshintergrund« habe – ungeachtet unseres seit dem Mittelalter und zum Teil bis heute gepredigten Selbstverständnisses als »christliches Abendland«. So liege der Fluchtpunkt seiner »Reise zum Ursprung unserer Kultur« fernab des Schengenraums »in einem großen, sowohl geografisch wie politisch schwer überschaubaren Gebiet, das die Wissenschaft als Alten Orient bezeichnet«. Dazu liefert Braun einen Grundriss, der viele Regionen umfasst, mit deren Konflikten das heutige Europa zu kämpfen hat. Sie reichen vom Mittelmeer bis in den Iran und vom Kaukasus bis in den Jemen und nach Ägypten.

Das europäische Dilemma

Europa ist ein kleiner und vergleichsweise marginaler, doch geografisch wie klimatisch sehr komplex ausdifferenzierter Kontinent. Mit jeder neuen Kultur, jedem Land, jeder Sprache hat er auch neue Erzählungen und Versionen seiner selbst hervorgebracht. Über Mittelmeer und Ostseeraum, Schwarzes Meer und Atlantik schon früh miteinander und mit dem Rest der Welt verbunden, konkurrierten hier zahlreiche Kulturen und schufen die Grundlagen für Europas beispiellose Expansion seit der frühen Neuzeit.

Da besonders kleine Gemeinschaften und Nationen dazu neigen, ihre kulturellen Eigenschaften, Leistungen und Traditionen stark zu betonen, hat sich diese Region, die auf Weltkarten wie ein Appendix Asiens anmutet, zu einem Hort der Differenzen und Ungleichzeitigkeiten entwickelt: »Europa hat sich (…) immer schwergetan mit dem Ganzen«, schreibt Braun, »und weil ihm eine unabhängige Mitte fehlte, konnte es auch seine Provinzfürsten und -fürstinnen nie nachhaltig in die Schranken weisen. An diesem Dilemma krankt Europa bis heute.« Das beschreibt auch das Elend der Europäischen Union, deren kaum aufgenommene Nehmerländer sich manchmal umgehend in lautstarke Forderländer verwandeln, deren »Provinzfürsten« im Schutze und auf Kosten der Solidargemeinschaft ihre nationalistischen und autokratischen Süppchen kochen.

Auch Maks Landsmann René Cuperus betont, dass die EU mit ihren 500 Millionen Einwohnern ein »komplexes Pseudostaatsphänomen mit einer unglaublichen Vielfalt an Sprachen, Kulturen und politischen Traditionen« sei. Deren Konfliktträchtigkeit lasse sie eher wie »27-mal Belgien« erscheinen als ein »verzehnfachtes Deutschland«, das er gleichwohl als eine Art »Miniatureuropa« zu studieren empfiehlt. Cuperus’ Buch verspricht, 7 Mythen über Europa zu entlarven, kreist aber hauptsächlich um das Mantra, die größte Gefahr für die EU sei die »Entfremdung des europäischen Projekts von seiner Bevölkerung«. Diese Entfremdung sei paradoxerweise mit dem Aufstieg der EU verbunden, ja selbst mit dem »geopolitischen Erwachen Europas«, das Cuperus – schwerlich konnte er es bereits auf den Ukraine-Krieg zurückführen – dem »Jahrhundert von Trump und Xi« zuschreibt.

Das Dilemma Europas besteht darin, in Krisen zwar nach außen an Bedeutung zu gewinnen, dies aber nach innen mit wachsenden Konflikten zu bezahlen. Dadurch wird es für Nichtmitglieder und Bewerber attraktiver, für Mitglieder dagegen nicht selten zum Ärgernis und Zankapfel: »Die Eurokrise legte (…) offen, wie weit die europäische Integration mittlerweile fortgeschritten war«, hebt der Europahistoriker Kiran Klaus Patel in seinem kurzen Abriss über Europäische Integration an – um dann zu betonen, dass diese rigide Integration die Mitgliedstaaten spaltete: »das Regelwerk der EU produzierte Gewinner und Verlierer«, urteilt der Autor in Hinblick auf Griechenland und Deutschland. Bernhard Braun kommt zu dem Ergebnis, dass sich innere Entfremdung und Abwehrreflexe gegen eine starke Zentralgewalt in Brüssel erst dann überwinden ließen, »wenn es gelänge, dieses Europa nicht nur als ein abstraktes weltpolitisches Subjekt hochzurüsten, das im globalen Spiel ernstgenommen wird, sondern ihm eine emotionale Verwurzelung in der Bevölkerung zu geben«.

Man ersetze den Ausdruck »abstraktes weltpolitisches Subjekt« durch »Bürokratie«, und schon ist das Grundproblem der EU mit dem populären – und immer wieder populistisch missbrauchten – Begriff benannt, der immer mal wieder eine wichtige Rolle spielt. Dann wird deutlich, wie stark die emphatische Wahrnehmung Europas, die der welterfahrene Journalist Mak mit literarischen Mitteln zu beschwören weiß, und das Negativbild der EU als scheinbar über- und eigenmächtige Bürokratie auseinanderklaffen.

Europa als Schulstoff?

Dabei hat der Überfall auf die Ukraine, dessen Vorgeschichte Maks Buch schon hellsichtig behandelt, die europäischen Gründungsreflexe wiederbelebt. So beschreibt Kiran Klaus Patel in seiner kurzen Einführung die europäische Integration als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg: »Ohne ihn – ohne seine Zerstörungen, die Delegitimation übersteigerter Formen des Nationalismus, den Niedergang der europäischen Vormachtstellung in der Welt sowie die Furcht vor einer erneuten, von deutschem Boden ausgehenden Aggression – wäre europäischer Zusammenschluss nicht vom Reich des Denkbaren ins Reich des politisch Möglichen gewandert.« René Cuperus dagegen zählt eben dies zu den »Mythen über Europa« und sieht die Entstehung einer Europäischen Gemeinschaft eher als Spätfolge des Ersten Weltkriegs. Das lässt sich im Lichte jüngerer Forschungen über den Ersten Weltkrieg nachvollziehen, weniger indes vor dem Hintergrund der Stimmungslage und Sichtweise der Gründungsjahre.

Der Begriff »Mythos« wirkt heute meist etwas hoch gegriffen, doch könnte man durchaus die Ansicht vertreten, dass es der EU gerade an einem solchen Mythos, einer einfachen, »emotional verwurzelten« und gemeinsamen Erzählung mangelt. Standen für die frühen EWG-Mitglieder die Lehren aus den Weltkriegen im Vordergrund, so geht es den östlichen Neumitgliedern der EU heute, neben einer Teilhabe an westlicher Prosperität, vor allem um die Überwindung der sowjetischen Fremdbestimmung – was die Abwehr einer angeblichen westlichen Fremdbestimmung nach vollzogenem Beitritt nicht ausschließt. Der sozialliberalen Erzählung einer Überwindung des Ost-West-Konfliktes durch Aussöhnung steht besonders im katholischen Polen das alte Trauma der erlebten sowjetischen Machtausübung entgegen. Seit dem Ukraine-Krieg wird dabei leicht der Eindruck erweckt, deutsche Verständigungsbemühungen wären allein an Russland adressiert gewesen.

Die Gleichgültigkeit überwinden

Das Grundproblem Europas liegt zweifellos an der Basis. Aus Untersuchungen geht hervor, dass die Unterstützung für die EU nur oberflächlich und wenig fundiert ist. »Der durchschnittliche Europäer ist weder fanatisch für noch fanatisch gegen Europa«, schreibt Cuperus. »Er ist gleichgültig-ambivalent.« Diese Gleichgültigkeit besteht offenbar auch aufseiten der Berufseuropäer. Geert Mak zeigt anhand der Kür des friesischen Leeuwardens zur »Kulturhauptstadt Europas 2018«, wie eine »internationale Wandertruppe von Experten und Werbetextern«, begünstigt durch »großzügige Honorare«, in die eigensinnige Provinz einfiel, ohne dass mehr als ein oberflächlicher Kontakt zu den dort lebenden Europäern zustande kam.

Wenn die Kommunikation zwischen EU-Administration und staatsbürgerlicher Basis nicht funktioniert, liegt es sicher nicht am Mangel von Sachbüchern und Kulturfestivals, sondern an fehlendem Verständnis auf fundamentaler Ebene. Wenn aber so viele Menschen die EU vor allem als aufgeblähte Bürokratie ansehen und damit hadern, dann sollten Themen wie EU-Recht und Öffentliche Verwaltung mehr Platz im Schulunterricht finden, womöglich als eigenes Fach. Auch wenn wenig Aussicht besteht, dass daraus ein Lieblingsfach wird, würde es Europa transparenter, seine Bürger mündiger, deren Einsprüche substanzieller machen. Und Demagogen hätten es weniger leicht, auf diesem Feld ihr Schindluder zu treiben.

Bernhard Braun: Die Herkunft Europas – Eine Reise zum Ursprung unserer Kultur. WBG Theiss, Darmstadt 2022, 560 S., 35 €. – René Cuperus: 7 Mythen über Europa. J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2021, 200 S., 18,90 €. – Geert Mak: Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums. Siedler, München 2020, 640 S. 38 €. – Kiran Klaus Patel: Europäische Integration: Geschichte und Gegenwart. C.H.Beck Wissen, München 2022, 128 S., 9,95 €.

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