»1968 war das erste Jahr einer neuen Welt«, schreibt die französische Schriftstellerin Annie Ernaux 2008 in ihrer Autobiografie Les années, die im letzten Jahr auf Deutsch erschien. 1940 geboren, erzählt sie ihr eigenes Leben als exemplarisch für das Leben einer Frau ihrer Generation. Mit soziologisch geschultem Blick dokumentiert sie Alltagsbegebenheiten und setzt diese in den Kontext gesellschaftlicher Prozesse und historisch-politischer Ereignisse. Kein einziges Mal schreibt sie »ich«, sondern verortet ihre Biografie im unpersönlichen »man« und im kollektiven »wir«: Aufgewachsen in einfachen Arbeiterverhältnissen, wurde sie als junges Mädchen zur Nutznießerin des ökonomischen Aufschwungs und der Bildungsoffensive des französischen Staates: Sie machte als Erste in der Familie Abitur und begann zu studieren. Der soziale Aufstieg war ihr sicher. Doch die Verhältnisse für eine junge Frau waren beengend, die überkommene Moral rigide. Bücher, Musik, Kinofilme, ja auch die Werbung im Fernsehen weckten die Sehnsucht nach einem anderen, freieren Leben.
So begann sie, die eigene Wirklichkeit zu hinterfragen: Was will ich? Wie kann ich als Frau leben? Ist die Rolle einer Intellektuellen mit der Rolle als Mutter und Hausfrau vereinbar? Dann begannen die 60er Jahre: Die Antibabypille wurde per Gesetz erlaubt und »man ahnte, dass die Pille das Leben auf den Kopf stellen würde, man wäre frei, beängstigend frei, so frei wie ein Mann«. So schnell entkam man den alten Lebensmustern dann aber doch nicht. Sie hielten sich hartnäckig, auch in ihrer Generation: Während die weltweiten Proteste gegen den Vietnamkrieg viele der Jüngeren auf die Straße trieben, heiratete Annie, bekam zwei Kinder, arbeitete als Lehrerin, managte den Haushalt. Dass die Studierenden an den Universitäten gegen autoritäre Strukturen und für mehr Mitbestimmung revoltierten, sah sie erst einmal nur im Fernsehen.
Mit dabei war sie nicht. Die Lebensumstände ließen es nicht zu. Doch dann wurde die Universität Sorbonne geschlossen, die Revolte verlagerte sich auf die Straße und brachte im Schulterschluss mit den streikenden Fabrikarbeitern die staatliche Ordnung in eine tiefe Krise. »Da wurde einem bewusst, dass gerade etwas Außergewöhnliches passierte, und man wollte nicht einfach so weitermachen, wie bisher. (…) Die Zustimmung für die heißen Nächte von Paris kam aus unserem Inneren, aus unterdrückten Bedürfnissen und langen, kräftezehrenden Jahren der Unterdrückung«. Auch wenn das Machtwort des damaligen französischen Präsidenten Charles de Gaulle die Unruhen nach kurzer Zeit beendete, hieß das Wort der kommenden Jahre doch »Befreiung«. »Nichts von dem, was man für normal gehalten hatte, war mehr selbstverständlich. Die gesamte Wirklichkeit kam auf den Prüfstand.«
68 war (fast) überall
Mit einer »historischen Reportage« über den Mai 1968 in Paris beginnt auch Norbert Freis Studie 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, die jetzt mit einer aktualisierten Literaturliste und einem Postskriptum neu aufgelegt wurde. Es ist Freis Verdienst zu zeigen, dass die Studentenrevolte in Deutschland kein isoliertes Ereignis war, sondern im Zusammenhang einer weltweit bereits erstaunlich gut vernetzten Jugendbewegung stand, die ab Mitte der 60er Jahre die modernen Industriegesellschaften mit ihren veralteten Strukturen und überholten Werten durchrüttelte: »68 war (fast) überall.«
Die Gemeinsamkeiten lagen im Kampf gegen verkrustete, autoritäre Universitätsstrukturen, im Protest gegen den Vietnamkrieg und in den neuen Formen des zivilen Widerstands wie Sit- und Teach-ins, die bereits in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 50er Jahre und von den Studierenden in Berkeley erprobt wurden. Die Unterschiede lagen in den jeweiligen nationalen Besonderheiten, die der Historiker Frei für die USA, Deutschland, Japan, Italien und Großbritannien, aber auch für die Tschechoslowakei oder Polen präzise nachzeichnet.
Für die deutschen Verhältnisse stellt er dezidiert die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit in den Familien und in der Öffentlichkeit und das unhinterfragte Weiterwirken ehemaliger NS-Eliten in den Institutionen der Bonner Republik in den Mittelpunkt. Zu Beginn der 60er Jahre wurde dieser Konflikt zwischen den Generationen sichtbar und entwickelte sich schnell zum Kampf gegen den Faschismus. Frei zieht hier eine Linie zur Protestbewegung gegen die atomare Bewaffnung Ende der 50er Jahre im Kontext des Kalten Krieges und der Neuen Linken, die sich im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) organisierte. Im engen Kontext zu den Auseinandersetzungen mit Nationalsozialismus und Faschismus sieht er auch den heftigen Protest gegen die geplante Notstandsgesetzgebung und das tief sitzende Misstrauen gegenüber der Großen Koalition von 1966, die ohne eine nennenswerte parlamentarische Opposition regieren konnte.
Im Postskriptum zeigt sich Frei nicht sonderlich verwundert, dass in Zeiten der Globalisierung in der Forschung zu 68 seine transnationale Betrachtungsweise auf immer größeres Interesse stößt. Zu dieser Ausrichtung gehört auch die »stärkere Einbeziehung der Geschichte des Kalten Kriegs« und – denkt man an die Bedeutung der Popkultur für die 68er – auch die Frage nach der Rolle der antikommunistischen US-Kulturpolitik in der rasanten Ausbreitung der Popmusik.
Trotz seines provokanten Buchtitels Gab es 1968? Eine Spurensuche ist für Armin Nassehi klar: »Was wir mit der Chiffre ›1968‹ verbinden, steht für eine Liberalisierung der Kultur und Pluralisierung sozialmoralischer Orientierungen, für eine stärkere Beteiligung marginalisierter Gruppen und sozialen Aufstieg, für Demokratisierungserfahrungen und optimistische Entwürfe der Gestaltbarkeit der Gesellschaft, für Individualisierung und Befreiung aus allzu starken Bindungen, für Inklusionsoptimismus.« Dieses Unstrittige hat aber weniger mit dem Höhepunkt der Studentenbewegung zwischen Frühjahr 1967 und Herbst 1969 zu tun, sondern vielmehr mit der »Generationslage, die ihren Namen von diesen Ereignissen bekam und bis heute andauert«. Damit ist der Soziologe Nassehi bei seinem eigentlichen Interesse angelangt, nämlich: »Was können wir mit dem Blick durch die Erinnerung auf das, was mit dem schönen Erinnerungsmarker ›1968‹ belegt wird, über die heutige Gesellschaft erfahren?«
Dieser Frage geht er im Jargon seiner Zunft auf den Grund und findet heraus: Es waren vor allem die Bildungs- und Inklusionsschübe seit Ende der 50er Jahre – mitausgelöst durch die ökonomischen und technologischen Fortschritte – die die starre deutsche Gesellschaft öffneten, durchlässig, demokratischer und somit politischer machten. Erst diese Klimaveränderung ermöglichte die Protagonisten von 68. Nassehi nennt es das »implizit Linke« und schreibt ihm eine immense Wirkkraft zu. Was dagegen von Leuten wie Rudi Dutschke als linke, sozialistische Revolte propagiert, und von einer kleinen Minderheit mitgetragen, aber von den Vielen – einschließlich der Springer-Presse – als Inkarnation des Bösen abgelehnt wurde, nennt Nassehi das »explizit Linke«. Er urteilt: »Allenfalls eine Fußnote der bundesdeutschen Geschichte« und beschäftigt sich lieber mit dem »implizit Linken«, das der Gesellschaft folgendes Erbe hinterlassen habe: Erstens die Dauerreflexion als ständiges Hinterfragen, Kritisieren und Begründen von allem und jedem. Zweitens die Dauermoralisierung als »Etablierung geradezu unbedingter Standpunkte«. Drittens die Dauerberieselung, die für die große »Entlastungsfunktion der Popmusik« steht und einfach Gegenkultur sein darf, ohne nachdenken, argumentieren und moralisieren zu müssen.
Identitäre Posen
Und mit der Popmusik kommt die Pose ins Spiel. »Das Posing ist eine einfache Form der Identitätsbewirtschaftung, die am Ende die Erbschaft von ›1968‹ mit dem stärksten kulturellen impact ist – und doch zugleich das ganz Andere von ›1968‹«, schreibt Nassehi, um nun endlich in der heutigen Gesellschaft anzukommen. Es gehe jetzt nicht mehr um Inklusion, Pluralismus und Partizipation, sondern um Identität und »Anerkennungsgerechtigkeit«. Darin sieht Nassehi nun nichts mehr »implizit Linkes«, sondern etwas »implizit Rechtes« – und spricht von »identitären Posen«. Identität definiert sich etwa in der Konsumgesellschaft durch ästhetische Stile, in der Regenbogenszene durch sexuelle Orientierungen und bei den »Neuen Rechten« durch Herkunft. Folgt man Nassehi, hat man es heute mit einer »Neuen Rechten« zu tun, die sich eine »implizit linke« Bundesrepublik wieder zurückholen will, und das mit »explizit linken« Protestformen, wie Provokation und Demonstration. Und mit »Alten 68er Linken«, die sich gegen das »explizit Rechte« von Exklusion durch eine »implizit rechte« Einteilung der Welt in anzuerkennende »Humankategorien« wehren will.
Heftige Ohrfeigen
Nach diesen vielen Seiten der soziologischen Durchdringung der »1968er Linken« und der »2018er Rechten« mit ihren sich gegenseitig durchkreuzenden impliziten und expliziten Anliegen und Wirkungsweisen hofft man nun, mit Wolfgang Kraushaars 1968. 100 Seiten in prägnanter Form, unterstützt durch Aufzählungen und Listen und visualisiert durch Grafiken und Fotos, einfach und knapp über die Ereignisse um 1968 informiert zu werden. Doch ganz so schlicht wird es dann natürlich doch nicht. Nachdem Kraushaar zu Beginn seine besondere »Erzählerrolle« zum Thema im Spannungsfeld zwischen den persönlichen Erfahrungen als involvierter Zeitzeuge und den Erkenntnissen als distanzierter Historiker und Politikwissenschaftler transparent gemacht hat, eröffnet er das Thema mit heftigen Ohrfeigen auf die erhitzten Wangen unverbesserlicher 68er-Revolutionsträumer: Unter der noch unverfänglich daherkommenden Überschrift »Was seitdem alles geschehen ist: ein halbes Jahrhundert im Zeitraffer« zählt Kraushaar nicht nur die frühen Warnungen des Club of Rome vor einem ungebremsten Wirtschaftswachstum auf Kosten der Umwelt, den religiösen Fundamentalismus, den Zerfall der sozialistischen Staatsregimes in Osteuropa und der Auflösung der Sowjetunion auf, sondern er spricht auch von der ungebremsten Ausbreitung des Neoliberalismus, von kaum mehr kontrollierbaren, globalisierten Finanzmärkten, von digitaler Revolution und vom erstarkenden Nationalismus nicht nur im Osten Europas. Fazit: Die Welt von heute ist eine so komplett andere und komplexere geworden, dass nicht einmal mehr dieselben Fragen wie vor 50 Jahren gestellt werden können. Umso unverständlicher erscheinen die Kampfansagen, aus den Reihen der AfD, gelegentlich aus denen der CSU, die nichts sehnlicher wünschen, als das Rad einer vermeintlichen 68er-Infiltrierung zurückzudrehen. Sie klingen in ihrer Vehemenz und Häufigkeit geradezu traumatisiert.
Kraushaar gelingt es, die relevanten historischen und inhaltlichen Aspekte um das komplexe Thema 68 umfassend darzustellen. Empathisch und unaufgeregt verwehrt er sich gegen Überschwänglichkeit, differenziert und lotet aus. Die internationalen Zusammenhänge werden ebenso angesprochen wie die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die gesellschaftsverändernden Erfolge werden ebenso aufgezählt wie das Scheitern der politischen Ziele. Kraushaar entdeckt kleine Details: so die auffällige Häufigkeit von Migrationsbiografien unter den Wortführern der internationalen Studentenbewegung und stellt diese Beobachtung in Bezug zu Hannah Arendts Figur des »Paria«. Und ihm fällt auf, dass das Schicksal des religiösen Rudi Dutschkes an den christlichen Feiertagen besiegelt wurde: Am Gründonnerstag 1968 wurde er Opfer eines Attentats, an Heiligabend 1979 erlag er den Spätfolgen der Verletzungen. Findet Kraushaar am Schluss deutliche Worte gegen einen zähen Kern ehemaliger Kombattanten, die sich, so Silvia Bovenschen, als »Ereignisverweser« gerieren, zeigt er sich doch berührt von den vielen, oft tragischen Todesfällen im 68er-Umfeld.
Und um es nicht zu vergessen: Auch »die Revolte der Frauen« wird kurz angerissen. Der Weiberrat, das Tomaten-Attentat auf die Chef-Genossen des SDS. Aber mehr braucht es ja nicht, denn es gibt ja noch Annie Ernaux, die vom Mai 68 schreibt und von den entscheidenden Veränderungen für das Lebensgefühl und die Lebensweisen ihrer Generation – vor allem für die Frauen ihrer Generation: »1968 war das erste Jahr einer neuen Welt.«
Annie Ernaux: Die Jahre. Suhrkamp, Berlin 2017, 255 S., 18 €. – Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. Aktualisierte und mit einem Postskriptum erweiterte Neuauflage. dtv, München 2008/2017, 304 S. 10,90 €. – Armin Nassehi: Gab es 1968? Eine Spurensuche. kursbuch edition, Hamburg 2018, 232 S., 20 €. – Wolfgang Kraushaar: 1968. 100 Seiten. Reclam, Ditzingen 2018, 100 S., 10 €.
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