Menü

Heimat in der Literatur – zwischen Besänftigungslandschaft und Kompensationsraum Das individuell Allgemeine

In Zeiten zunehmender Mobilität und Beschleunigung darf man sich über Sehnsucht nach Heimat nicht wundern. Heimweh trieb schon die Odyssee an. Und fast ein Jahrtausend später schrieb der chinesische Dichter Tao Qian in einem Gedicht, das den Titel Zurück zum Landleben trug: »Der wandernde Vogel sehnt heim sich zum Walde, dem Fisch im Teich bleibt unvergesslich sein See.« Heute schlägt das eine Brücke von der in Deutschland grassierenden »Landlust« bis zurück ins China der Östlichen Jin-Dynastie. Doch manch ein Wandervogel meint, sich nach einem fernen Walde zu sehnen, aber sehnt sich eigentlich nach einer fernen Zeit.

Die 1974 im brandenburgischen Beeskow geborene Publizistin Sabine Renne­fanz hat ihre journalistischen Erkundungen der Nachwendezeit und ihre seit März 2022 im Spiegel erscheinende Kolumne »Neue Heimatkunde« nun 2024 um den Roman Kosakenberg erweitert, der den Weg einer jungen Frau aus der ostdeutschen Provinz nach London verfolgt. Ihr Weg nach Westen folgt der Wanderungsroute der deutschen Nachkriegsliteratur, die auch eine Literatur von Heimatvertriebenen war. In Westdeutschland schrieb Günter Grass seine »Danziger Trilogie«, Siegfried Lenz seine masurischen Geschichten, Walter Kempowski seine »Deutsche Chronik«, und der »Umsiedler« Arno Schmidt fasste dort für die vaterlose Gesellschaft drei seiner Kurzromane zur Trilogie »Nobodaddy’s Kinder« zusammen.

Ortsumgehung

Stilistisch von Schmidt und Kempowski inspirierte Ansätze finden sich heute auch in den umfangreichen autofiktionalen »Schlosser«-Romanen Gerhard Henschels. Der 1967 in Bad Nauheim geborene Andreas Maier wiederum hat dem tagtäglichen Verschwinden seiner im hessischen Wetteraukreis gelegenen Heimat einen elfbändigen Romanzyklus gewidmet, dessen Arbeitstitel »Ortsumgehung« auf die Baumaßnahme verweist, die sie marginalisiert und auflöst. Im gerade erschienenen neunten Band Heimat heißt es trotzig: »Draußen bauen sie die Ortsumgehung und planieren die Gegenwart in die Vergangenheit. Du schreibst dagegen deine eigene Ortsumgehung. Der Zettel mit den elf Titeln hängt dem Schreibtisch gegenüber an der Wand. Du umgehst im Zimmer deines verstorbenen Onkels noch einmal die Orte deiner Vergangenheit, die verschwinden, und nimmst auf diese Weise Rache an den Planern und Erbauern der B3a.«

»Das, was den Namen ›Heimat‹ wirklich verdient, war und ist schon immer im Verschwinden begriffen.«

Das »Umgehen« der »Orte deiner Vergangenheit« erscheint auch als eine »Verteidigung der Kindheit«, um hier einen Romantitel Martin Walsers aus dem Jahr 1991 zu zitieren, denn der Lebenslauf als Leitfaden verbindet Vergangenheit, Heimat und Kindheit. Und wenn Vertreter der Neuen Rechten und sogenannte »Identitäre« versuchen, »Heimat« als ewiges nationales Proprium für sich zu reklamieren, zeigt die Literatur, dass das, was diesen Namen wirklich verdient, schon immer im Verschwinden begriffen war und ist.

Wenn also Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah im Vorwort des von ihnen zunächst 2019 und nunmehr neu herausgegebenen Bandes Eure Heimat ist unser Albtraum zu wissen glauben, was der Begriff Heimat »in diesem Land« schon immer allein beschrieben haben soll – nämlich die Sehnsucht nach »einer homogenen, christlichen weißen Gesellschaft, in der Männer das Sagen haben, Frauen sich vor allem ums Kinderkriegen kümmern und andere Lebensrealitäten schlicht nicht vorkommen« –, dann verschwenden sie ihren polemischen Furor an einen Popanz. Authentische Heimaterfahrung ist gerade kein männliches, christliches oder weißes Ideal, das alte und neue Reaktionäre auf ihren Schild heben könnten.

Ebenfalls in dem Band nämlich zitiert Mithu Sanyal, im Rückblick auf Versuche der Linken sich den Begriff »Heimat« wieder anzueignen, einen Aufsatz von Alena Dausacker: »In diesem Diskurs war Heimat nicht mehr Objekt konservativer Restauration, sondern ein emotionales Gestaltungsbedürfnis in Bezug auf die Umgebung«. Sanyal lokalisiert Heimat dort, »wo das kulturelle und soziale Umfeld angesiedelt« sei, wo man sich geborgen fühle. Heimat in diesem Sinne sei aber »nicht mehr primär an den Raum gebunden, sondern auch zeitlich bestimmt: in der Kindheit mit all den prägenden Erlebnissen der Ichwerdung«. In diesen prägenden Erlebnissen der Identitätsbildung fallen die räumliche und zeitliche Dimension der Heimat mit deren sozialer und kultureller zusammen.

Objekt einer lebenslangen Hassliebe

Prägend auf dieses »emotionale Gestaltungsbedürfnis« wirkt eine positiv-selektive Erinnerung, die aus einer überschaubaren Zahl individueller, glücklicher, aber zeitlich begrenzter Erlebnisse – etwa die Ferien auf dem Hof der Großeltern oder die mütterliche Fürsorge in Wolfgang Borcherts Kriegserzählung Die Küchenuhr – ein Kindheitsparadies inmitten einer gar nicht so glücklichen Kindheit und Jugend zusammensetzt. Solche Heimaterfahrung ist im Kern zutiefst mit uns selbst verknüpft, doch nach außen hin mit anderen teilbar. Die Welt, in der man sie machte, war nicht immer so zärtlich wie das Suleyken eines Siegfried Lenz, bisweilen auch rau und dreckig und Objekt einer lebenslangen Hassliebe.

»Erinnerungen an Fürsorge und liebevolle Zuwendung überstrahlen bisweilen selbst karge Lebensumstände.«

In Wolfgang Borcherts Erzählung ist eine Küchenuhr das einzige, das die Zerstörung eines Elternhauses im Bombenkrieg überstanden hat. Und dessen einziger Überlebender sieht sich dadurch an seine Mutter und deren Fürsorge erinnert: »Jede Nacht war es so. Und meistens immer um halbdrei. Das war ganz selbstverständlich, fand ich, dass sie mir nachts um halb drei in der Küche das Essen machte. Sie tat das ja immer. (…) Jetzt, jetzt weiß ich, dass es das Paradies war. Das richtige Paradies.« Erinnerungen an Fürsorge und liebevolle Zuwendung überstrahlen bisweilen selbst die kargen Lebensumstände und die profane Industriearchitektur eines Arbeiterviertels: »I met my love by the gas works wall / Dreamed a dream by the old canal / I kissed my girl by the factory wall«, heißt es in Ewan Mac Colls 1949 entstandener und von Hassliebe getragener Hymne auf seine Geburtsstadt Salford, wo ein Jahrhundert zuvor Friedrich Engels die Lage der arbeitenden Klasse in England studiert hatte.

Ähnlich ambivalent klingt auch John Steinbecks Beschreibung der Straße der stinkenden Ölsardinenfabriken im kalifornischen Monterey aus dem Jahre 1945: »Cannery Row in Monterey in California is a poem, a stink, a grating noise, a quality of light, a tone, a habit, a nostalgia, a dream.« Es war kein Zufall, dass diese literarischen Heimatromane unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen und Orte beschrieben, die vielleicht schmutzig und ärmlich aber immerhin doch über- und durchschaubar erschienen.

Elemente, mit denen man einen Eindruck von Dauerhaftigkeit, Überschaubarkeit und Wiedererkennbarkeit verbindet – Landschaften, kleine Städte, Dörfer und Häuser und Lindenbäume, aber auch Marginalien, die, wie Borcherts Küchenuhr an geliebte Menschen und ihre Fürsorge erinnern – bilden den einzigartigen Grundstock einer Erfahrung, die im Kern individuell, weil durch die persönliche Entfaltung in einer als ideal empfundenen Umgebung entstanden ist. In diesem Sinn ist Heimat ein individuelles Allgemeines, dessen äußere Rahmenbedingungen man mit anderen teilt, das aber schon die engsten Verwandten auf ihre je eigene Weise erfahren haben, etwa weil sie schlichtweg älter oder jünger sind als man selbst.

Vom Verschwinden der Heimat

Heimat verschwindet immer, wenn nicht hinter dem geografischen, dann hinter dem Zeithorizont, und gerade diesem Verschwinden verdankt dieser Begriff seine affektive Macht, die nicht zuletzt auch die politische Karriere des Umweltschutzgedankens angetrieben hat. In seinem 2010 erschienenen Buch Landschaft Heimat Wildnis beschreibt der Biologe Reinhard Piechocki wie die romantische Landschaft für die durch industrielle Revolution und Verstädterung unbehaust gewordenen Menschen im 19. Jahrhundert zu einem idealisierten »Kompensationsraum« wurde: »Heimat wurde so ein romantischer, d. h. gegenrevolutionärer Entwurf, eine Art ›Besänftigungslandschaft‹, in der scheinbar die Konflikte der Wirklichkeit aufgehoben waren.«

»Der Begriff Nachhaltigkeit verführt leicht zum Etikettenschwindel.«

In der Abfolge von Natur-, Umwelt- und Klimaschutz und der damit einherge­henden Ökologisierung des Heimatbegriffs macht heute ein zu oft und zu lax gebrauchter Begriff Karriere – die Nachhaltigkeit. Schon 2014 mokierte sich Axel Bojanowski in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte über diese »verwirrende Werbeformel« und erläuterte: »Der Begriff Nachhaltigkeit verführt leicht zum Etikettenschwindel, der in der Umweltpolitik durchaus üblich ist, meist ohne betrügerisch gemeint zu sein. Der Name ›Greenpeace‹ etwa suggeriert ›grünen Frieden‹, obwohl die Natur eher mit permanentem Krieg verglichen werden könnte. Jede Spezies trachtet danach, sich auf Kosten anderer auszubreiten. Romantiker hingegen erkennen in der Natur ›natürliche Harmonie‹ oder ›natürliches Gleichgewicht‹.«

Niemand geht zweimal durch denselben Fluss oder zweimal durch denselben Wald. Flüsse, Wälder und andere Ökosysteme entwickeln und verändern sich so wie der Hof der Großeltern oder das Elternhaus, und scheinbar stabile und schützenswerte »Naturlandschaften« wie Almweiden und Lüneburger Heide sind Produkte einer systematischen Beweidung. Zu den kundigsten Vermittlern solcher Aspekte zählte der Geobotaniker Hansjörg Küster, mit Büchern wie Geschichte der Landschaft im Mitteleuropa (1995) und Deutsche Landschaften (2017).

Noch kurz vor seinem Tod in diesem Frühjahr hat Küster mit Das Watt sein letztes Werk vollendet, in dessen Untertitel »Wiege des Lebens« man die Wiege auch durch die Heimat ersetzen könnte. Für ihn selbst war das Watt auch eine Wiege seiner Karriere als Wissenschaftler. Deshalb hat er hier ausführliche Passagen seinem frühen Forscherglück als Sammler und Präparator gewidmet, und am Ende steht die Empfehlung für eine Rundreise durch eine der biologisch aktivsten und faszinierendsten Regionen der Welt, die in einigen Jahrzehnten vielleicht schon unwiederbringlich unter einem ansteigenden Meeresspiegel begraben sein wird. Das ist gar nicht traurig, sondern natürlich.

Gerade die hohe Produktivität des Wattlebens führe immer wieder ganze Bereiche davon »unweigerlich in die Katastrophe«, schreibt Küster: »Wenn der Flachwasserbereich immer weiter verlandet, steht immer weniger Lebensraum zur Verfügung. Schließlich gibt es für die Organismen dort kein Entkommen mehr ins freie Meer. Sie sterben, weil ihr Lebensraum verloren geht, und wenn sie die einzigen Vertreter ihrer Art sind, sterben auch ganze Arten von Lebewesen aus.« Dass sich Landschaften und Zeiten verändern und vergehen und wir selbst und alles, was uns teuer ist, mit ihnen, ist nicht neu. Aber nie zuvor war der Einfluss der Menschheit auf diesen Prozess so groß wie heute und es gibt keine Insel der Seligen, die davon unberührt bliebe.

Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Neuausgabe, Ullstein Taschenbuch, Berlin 2024, 262 S., 13,99 €.

Hansjörg Küster: Das Watt. Wiege des Lebens. Beck, München 2024, 239 S., 26 €.

Andreas Maier: Die Heimat. Suhrkamp, Berlin 2023, 245 S., 22 €.

Reinhard Piechocki: Landschaft Heimat Wildnis. Schutz der Natur – aber welcher und warum? Beck’sche Reihe, München 2010, 266 S., 14,95 €.

Sabine Rennefanz: Kosakenberg. Aufbau, Berlin 2024, 222 S., 22 €.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben