Menü

Neue Bücher zum Thema Gesundheit Das Krankheitssystem

Wer schon einmal einen Angehörigen in die Notaufnahme eines deutschen Krankenhauses gebracht und damit auf eine Odyssee durch unser Gesundheitssystem geschickt hat, der weiß, dass dieses System nicht mehr gesund ist. Schmerzpatienten müssen Stunden bis zur Erstbegutachtung durch einen Facharzt auf harten Stühlen ausharren, werden daraufhin ein paar Tage lang durch die Mühlen einer hochgerüsteten Apparatemedizin gejagt, um dann baldmöglichst, manchmal aus laufenden Therapien heraus, vor die Tür gesetzt oder in die nächste Einrichtung weiter verschoben zu werden. Dem Schock von Krankheit oder Unfall folgt so ein weiterer. Am Ende steht kein geheilter, sondern ein pflegebedürftiger, verstörter und manchmal auch schon resignierender Mensch, den ein Arztbrief zur weiteren Betreuung dem Hausarzt anvertraut. Der soll dann ambulant vollbringen, was das Krankenhaus aus Kostengründen nicht mehr leisten will – den Kostenfaktor Patient zu heilen. Das heißt in vielen Fällen erst einmal zu kurieren, was die in Kliniken gern und überreichlich zum Einsatz gebrachten Medikamentencocktails angerichtet haben. Für ältere Patienten ist dies dann eine Art Vorhölle, deren Ausgang nicht in ein freies Leben, sondern in ein Pflegeheim führt. Am Ende der totalen Mobilmachung menschlicher Ressourcen in der Postmoderne, mit Arbeitsmigration, sozialem Aufstieg und luxuriösen Fernreisen, droht der stationäre Aufenthalt.

Schlaglichtartig beleuchten die Untertitel einiger aktueller Bücher, was einen auf diesem Weg erwartet. Der Journalist Raimund Schmid prangert in seinem Buch Wehe, Du bist alt und wirst krank die »Missstände in der Altersmedizin« an. Der Arzt Karl H. Beine und die Publizistin Jeanne Turczynski zeigen in Tatort Krankenhaus sogar, »wie ein kaputtes System Misshandlungen und Morde an Kranken fördert«. Der Narkose- und Palliativarzt Matthias Thöns behandelt das »Geschäft mit dem Lebensende« unter dem Titel Patient ohne Verfügung. Der Heimleiter Armin Rieger »entlarvt unser krankes System« unter dem Titel Der Pflege-Aufstand. Und der Wiener Facharzt Gernot Rainer skizziert in Kampf der Klassenmedizin »Warum wir ein gerechtes Gesundheitssystem brauchen«.

Die Falle des Kurzzeitdenkens

Angesichts verstörender eigener Erfahrungen und von Büchern, deren Vorwürfe gegen unser Gesundheitssystem bis zu dem der Beihilfe zum Serienmord durch psychopathische Pfleger und Ärzte reichen, erscheint zunächst eine neutrale Diagnose hilfreich: Zum Positiven zählt, dass die Medizin sich rasant entwickelt. Aber mit den Möglichkeiten wachsen auch die Kosten. Mit der Lebenserwartung steigt auch die Zahl alter Menschen sowie altersbedingter Erkrankungen und Beschwerden. Hier nun tut sich eine Wegscheide zwischen Heil- und Pflegebehandlung auf, der die Politik bereits vor Jahren mit der Ergänzung der Kranken- durch eine Pflegeversicherung Rechnung getragen hat. Aber reicht das aus? Man sieht sich mit einer Grauzone konfrontiert, die traditionelle Familienstrukturen infrage stellt, wenn sich etwa Rentner nicht um ihre Eltern, sondern um eine 100-jährige Großmutter kümmern müssen, während ihr Sohn mit 40 Jahren an Alzheimer erkrankt ist.

Der reinen Lehre nach dient Privatisierung der Effizienzsteigerung, tatsächlich jedoch der Profitmaximierung. In einem Gesundheitssystem aber darf nicht die betriebswirtschaftliche Expertise über diejenige von Ärzten, Pflegern, Patienten und Angehörigen dominieren. Es darf keinen Kostendruck geben, der Mediziner und Pflegekräfte in »Opfer und Mittäter« zugleich verwandelt, wie Armin Rieger es anprangert. Nur lässt sich das Ideal eines inhabergeführten Pflegeheims mit qualifiziertem und engagiertem Personal, eigener Küche und Gartenzugang, wie es der Heimleiter Rieger am eigenen Beispiel vorführt, nicht per Gesetz verordnen.

In Stadtlagen schlagen nicht nur Immobilien-, sondern auch Personal- und Logistikkosten überproportional zu Buche. In ländlichen Gebieten kann die ärztliche Versorgung von Heimbewohnern zum Problem werden. Hier böten sich lokale Schwerpunkte als Kombination von Heimen und Ärztehäusern an, die zugleich Arbeitsplätze im allgemeinen Versorgungsbereich nach sich ziehen könnten. Als staatliche oder kommunale Einrichtungen wären solche Projekte aber nicht nur auf hohe Startinvestitionen, sondern auch dauerhaft auf Subventionen angewiesen. Es sei denn, man wertete freiwilliges Engagement im Rahmen eines neuen und besser honorierten Zivildienstes auf und unterstützte dabei zugleich strukturschwache und von Abwanderung bedrohte Regionen.

Wie beim Atomstrom sind Staat und Gesellschaft auch bei der Privatisierung des Gesundheitswesens in die Falle des Kurzzeitdenkens geraten und haben einen schwer zu bändigenden Kostenfaktor in ein Notstandsgebiet verwandelt, weil man die demografische Entwicklung hin zu einer Altersgesellschaft ignoriert hat. Ignoriert hat man dabei aber auch die Folgen und Folgekosten. Wie bei der Energieversorgung und dem Klimawandel ist deshalb auch im Gesundheits- und Pflegesystem eine fundamentale Wende notwendig – hin zu Solidarität und Selbstverantwortung, hin zu lokalen Lösungen und sozialer Kontrolle.

Patientenvollmacht und -verfügung

Man hat den Tod, den finalen Lebenshorizont lange so erfolgreich ausgeblendet, dass unbegrenztes Leben, unbegrenztes Wachstum möglich schien, aber man kann nicht mehr konsumieren, als da ist und nachwächst, und wird dies am Ende auch am eigenen Leibe erfahren. Weltlicher Reichtum erweist sich dann als eitel. Auch die beste private Vorsorge bewahrt einen nicht sicher davor, auf Andere angewiesen zu sein. Diese Anderen aber sind zunächst meist die eigenen, engsten Verwandten, die pflegebedürftige Angehörige oft über Jahre und bis zum eigenen Zusammenbruch pflegen – und das nicht zuletzt, weil die Kosten für eine ambulante oder stationäre Pflege ihren Etat überschreiten oder aufs Unzumutbare minimieren. Hier kann der Staat eingreifen, indem er Eintrittsschwellen für finanzielle Förderungen senkt und den tatsächlichen Pflegeaufwand realistisch ansetzt. Vor allem aber ist hier die Gesellschaft gefordert und damit wiederum auch die staatliche Anerkennung familiärer und nachbarschaftlicher Hilfe, die bei der Bemessung von Renten- und Krankenkassenleistungen und Beiträgen der klassischen Erwerbsarbeit gleichgestellt werden muss, um zu verhindern, dass Hilfsbereitschaft zur Altersarmut führt.

Jedem muss zudem verständlich gemacht werden, dass zum freien und selbstbestimmten Leben auch die Vorsorge zählt. Vielen Menschen ist noch immer nicht klar, dass nicht sie über das Schicksal ihrer engsten Verwandten zu bestimmen haben, wenn diesen selbst das nicht mehr möglich ist, sondern ein vom Amtsgericht bestellter Betreuer. Erst eine notarielle Vorsorge- bzw. Betreuungsvollmacht ermächtigt Ehepartner, Kinder, Neffen oder Enkel zu entscheiden, was mit einem dementen Verwandten und mit dessen Vermögen geschehen soll. Und erst eine belastbare und regelmäßig aktualisierte Patientenverfügung garantiert, wie Matthias Thöns ausführt, dass das Lebensende nicht zum immer wieder gewaltsam verlängerten Geschäft mit dem Sterben wird.

Raimund Schmid zeigt in Wehe, du bist alt und wirst krank, wie viele »Missstände in der Altersmedizin« sich schon im Vorfeld von Klinik- oder Heimaufenthalten kurieren ließen. Hausärzte und deren Hausbesuche, aber auch die Fortbildung von Praxispersonal im diagnostischen und therapeutischen Bereich, zählen dazu, ebenso die gute alte »Gemeindeschwester vor Ort«. Zu den schlimmsten Ängsten und Erfahrungen des Alters nämlich zählt die, sein häusliches Umfeld und damit auch den Kontakt zu seinem gewohnten Leben zu verlieren. Noch schlimmer als krank zu sein erscheint es ihnen, als krank behandelt zu werden. So wird Fachärzten manches verschwiegen, was einem vertrauten Hausarzt oder einer Gemeindeschwester in den eigenen vier Wänden gestanden würde.

Nun hat man unser medizinisches System gespalten in das klassische Gesundheitssystem einerseits, das auf Heilung hin ausgerichtet ist, und ein Pflegesystem andererseits, das zunehmend der Verwahrung Demenzkranker dient. Während die Werbung uns allenthalben »junge Alte«, »Best Agers« und »Golden Agers« präsentiert, die – angegraut, aber fit – all jene Sportarten nachholen, die sie während ihres Berufsleben versäumt haben, dämmern in »Seniorenheimen« Millionen von Menschen dahin, deren Diagnose »unheilbar alt« lautet.

Aus ihrem bisherigen Leben herausgefallen, haben diese Menschen jede Gerechtigkeitsdebatte hinter sich. Sie haben einen Status, den es früher nicht gab, weil Alter, Pflegebedürftigkeit und Tod zum Familienleben gehörten. Wir aber leben nicht mehr auf Bauernhöfen, wo immer noch eine Kammer für »tüddelige« Alte da war – und fast immer jemand, der Fluchtversuche rechtzeitig unterband. Zum heutigen Leben auch in der Familie gehört eine technische Kompetenz, die das Fassungsvermögen vieler Demenzpatienten übersteigt. Und wer auch nur gelegentlich auf Hilfe angewiesen ist, aber kein Telefon bedienen kann, kann nicht mehr allein leben oder allein gelassen werden.

Eine Kommerzialisierung der Pflege und Aktiengesellschaften, die Zehntausende von Patienten in Hunderten von Heimen betreuen lassen, bietet da keinen würdigen Ausweg, aber auch Gerechtigkeitsdebatten treffen nicht den Kern des Problems. Gegen die Ungerechtigkeit des Lebens gibt es bislang kein Mittel; gegen Alzheimer mit Mitte 40 schützt selbst das größte Aktienportfolio nicht. Und das Wissen darum, dass einem Privatversicherten die Windeln öfter gewechselt werden als einem Kassenpatienten, ist für bettlägerige, doch geistig wache Menschen kein echter Trost.

Statt ein »krankes«, »kaputtes« und ungerechtes Gesundheitssystem mit den Mitteln einer instrumentellen Vernunft reformieren zu wollen, sollte man vom Irrglauben abrücken, es könnte überhaupt ein externalisierbares »System« geben, dem sich die Kranken, Pflege- und Betreuungsbedürftigen unbesorgt anvertrauen ließen, um später entweder als geheilt entlassen zu werden oder ganz darin zu verschwinden. Krankheit, Alter und Tod fragen nicht nach dem Spar- oder Parteibuch und stellen sowohl die Gesellschaft als auch jede und jeden Einzelnen vor Herausforderungen, die so individuell wie allgemein, so national wie lokal sind. Caritas und Solidarität darf man hier getrost synonym verwenden und als ethische wie soziale Verpflichtung verstehen. Die Politik kann viel Vertrauen zurückgewinnen, wenn sie sich dabei überparteilich zeigt.

Karl H. Beine/Jeanne Turczynski: Tatort Krankenhaus. Wie ein kaputtes System Misshandlungen und Morde an Kranken fördert. Droemer Knaur, München 2017, 256 S., 19,99 €. – Gernot Rainer: Kampf der Klassenmedizin. Warum wir ein gerechtes Gesundheitssystem brauchen. Brandstätter, Wiesbaden 2017, 192 S., 22,90 €. – Armin Rieger: Der Pflege-Aufstand. Ein Heimleiter entlarvt unser krankes System – Würdige Altenpflege ist machbar. Ludwig, München 2017, 240 S., 16,99 €. – Raimund Schmid: Wehe, du bist alt und wirst krank. Missstände in der Altersmedizin und was wir dagegen tun können. Beltz, Weinheim 2017, 263 S., 19,95 €. – Matthias Thöns: Patient ohne Verfügung. Das Geschäft mit dem Lebensende. Piper, 2. Aufl., München 2016, 312 S., 22 €.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben