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Das neue Kapitel der transatlantischen Beziehungen

Am Morgen des 9. Novembers 2016 ging ich schockiert von meinem Bundestagsbüro im Otto-Wels-Haus zum ZDF-Hauptstadtstudio. Ich war zur US-Wahlnacht des Senders eingeladen worden, um als außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion den sich abzeichnenden Wahlsieg Donald Trumps einzuordnen. Nach dem Brexit-Referendum war in diesem Jahr damit zum zweiten Mal eine demokratische Entscheidung von historischer Bedeutung anders ausgegangen als erhofft. Erneut hatten sich die Demoskopen geirrt, indem sie einen Wahlsieg der demokratischen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton vorausgesagt hatten. Der Spiegel titelte daraufhin in Anlehnung an einen Song der amerikanischen Band REM »It's the End of the World (as we know it)« und sprach damit der Stimmung aus Ungewissheit und Besorgnis im politischen Berlin aus der Seele. Würde der Quereinsteiger im Weißen Haus seine Ankündigungen aus dem Wahlkampf wahrmachen, oder würde er vom Apparat eingehegt werden?

Die transatlantischen Beziehungen waren auch in den Jahrzehnten zuvor nie wirklich frei von Meinungsverschiedenheiten. Mehrfach gab es Situationen von vehementem Dissens – etwa als Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Beteiligung am Irakkrieg kategorisch ausschloss. Doch haben diese Meinungsverschiedenheiten niemals den Kern und hohen Wert der deutsch-amerikanischen Beziehungen infrage gestellt.

In der Rückschau muss man feststellen, dass die transatlantischen Beziehungen unter der Präsidentschaft von Donald Trump einer beispiellosen Belastungsprobe unterzogen wurden.

»America First« und seine Folgen

Mit dem Amtsantritt des 45. US-Präsidenten wurde die regelbasierte Weltordnung, die vor über einem halben Jahrhundert maßgeblich von den USA selbst geschaffen wurde, infrage gestellt. »The World America made«, wie Robert Kagan es einmal formulierte, geriet in Gefahr, durch Trumps nationalistischen und protektionistischen America-First-Kurs unterminiert zu werden. Der diesem Kurs zugrunde liegende transaktionale und unilaterale Ansatz nahm wissentlich die Schädigung der Interessen von Verbündeten und multilateralen Abkommen in Kauf. Der Ausstieg aus dem historischen Pariser Klimaabkommen und die unilaterale Entscheidung, das Iran-Abkommen zu verlassen, sind dabei nur zwei Beispiele. Die NATO geriet ebenso in das Visier der Trump-Administration wie die EU. Die traditionell transatlantisch ausgerichteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im State Department, Pentagon und National Security Council wurden zu Zuschauern degradiert, die häufig erst über einen Tweet des Präsidenten über die neue Politik informiert wurden.

Vor dem Hintergrund dieser sich in rasantem Wandel befindlichen internationalen Ordnung galt es für Deutschland und Europa umso mehr, eine eigene, mutige und entschlossene Antwort auf »America First« zu entwickeln. Ein zentrales Element dieser Antwort war die von Außenminister Heiko Maas unter dem Begriff »Europe United« angestoßene Debatte. Dabei ging es vor allem um eine strategische Stärkung der europäischen Souveränität, insbesondere auch im Bereich der Verteidigung. Ausdruck dieser Bemühungen sind die Fortschritte im Bereich der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ/PESCO), aber auch der unter der deutschen Ratspräsidentschaft weiterentwickelten zivilen Komponente der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Auch über die Grenzen der EU hinaus hat sich Deutschland gemeinsam mit seinen Partnern bemüht, die regelbasierte Ordnung und internationale Zusammenarbeit zu stärken. Beispielsweise im Rahmen unserer nicht-ständigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen von 2019 bis 2020 sowie durch die Initiierung der »Allianz für Multilateralismus«.

Gemeinsame Herausforderungen wieder gemeinsam angehen

Mit der neuen US-Administration von Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris haben Deutschland und Europa nach vier Jahren des enthemmten Nationalismus wieder einen Partner in Washington, D.C., der sich eindeutig zur transatlantischen Partnerschaft und zur Kraft der Diplomatie bekennt. Der neue US-Präsident hat seinen Worten – wie zuletzt im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz – bereits in den ersten Tagen seiner Amtszeit konkrete Taten folgen lassen: Der Wiedereintritt in die Weltgesundheitsorganisation sowie die Rückkehr der USA zum Pariser Klimaabkommen sind, ebenso wie die Verlängerung des New-Start-Vertrags, wichtige und wertvolle Schritte hin zu mehr multilateraler Kooperation. Zusammen mit der Aufgabe der Stärkung unserer Demokratien stehen diese zugleich für vier Bereiche, in denen sich die transatlantische Partnerschaft in den kommenden Jahren bewähren muss:

Erstens bedarf es einer engen transatlantischen Abstimmung bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie sowie der Bewältigung ihrer vielfältigen und schwerwiegenden Auswirkungen. Die Krise zeigt wie unter einem Brennglas, wie wichtig die Zusammenarbeit von Staaten ist. Das Virus lässt sich weder totschweigen noch wegreden und auch nicht im nationalen Alleingang besiegen. Daher sind der Wiedereintritt der USA in die Weltgesundheitsorganisation sowie die Beteiligung an der globalen Impfkampagne COVAX wichtige Botschaften. Eine gemeinsame Kraftanstrengung für eine faire und globale Verteilung von Impfstoffen und Medikamenten gegen COVID­-19 würde die Glaubwürdigkeit des transatlantischen Bündnisses unterstreichen.

Dies gilt auch für den zweiten Bereich, die Bekämpfung des weltweiten Klimawandels. Mit der Rückkehr zum Pariser Klimaabkommen und der Ernennung des ehemaligen US-Außenministers John Kerry zum Sondergesandten des Präsidenten hat Joe Biden die Voraussetzung für eine transatlantische Kooperation bereits in den ersten Amtstagen geschaffen. Auf dieser Grundlage ist es nun möglich und notwendig, die internationale Klimapolitik gemeinsam voranzutreiben. Auch China hat sich öffentlich auf ambitionierte Ziele festgelegt. Dieses Momentum müssen wir nutzen.

Drittens gilt es, die internationale Sicherheitsarchitektur wieder zu stärken. Das Ende des INF-Vertrags (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) zwischen Russland und den USA aufgrund der russischen Vertragsbrüche, aber auch der bereits erwähnte Austritt der USA aus dem Joint Comprehensive Plan of Action (JCPoA, der Wiener-Nuklearvereinbarung mit dem Iran) sind nur zwei Beispiele für massive Rückschritte in den vergangenen Jahren. Dieser Trend muss nun endlich wieder umgekehrt werden. Die bereits erwähnte Verlängerung des New-Start-Vertrags um weitere fünf Jahre ist angesichts dessen ein wichtiger stabilisierender Beitrag. Auch die erklärte Bereitschaft seitens der USA, das JCPoA wieder in Gang zu setzen, ist ein positives Zeichen.

Viertens müssen sich Deutschland und die USA gemeinsam für die Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen. Weltweit stehen demokratische Grundsätze unter Druck. Auch in den USA und in Europa sehen wir uns antidemokratischen und autoritären Kräften gegenüber, die gezielt versuchen, unsere demokratischen und pluralistischen Gesellschaften zu destabilisieren. Die Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist ein zentrales gemeinsames Anliegen. Deswegen sollten wir den Vorschlag Joe Bidens aufgreifen, einen »Gipfel für die Demokratie« einzuberufen, um dort unsere Ideen einzubringen.

Über diese drängenden Herausforderungen hinaus stehen wir als transatlantische Partner insbesondere vor der großen Aufgabe, eine gemeinsame Strategie im Umgang mit China zu entwickeln. Die Debatte über das umfassende Investitionsabkommen der EU mit China (EU-China Comprehensive Agreement on Investment, CAI) hat bereits gezeigt, dass dies nicht spannungsfrei ablaufen wird. Gleichwohl bieten sowohl die neue transatlantische Tonalität als auch die von der Biden-Administration signalisierte Bereitschaft für eine engere Abstimmung und Kooperation eine gute Voraussetzung, um in dieser Frage gemeinsam voranzukommen.

Wir brauchen einen breiten und differenzierten Ansatz gegenüber China. Die neuen Indo-Pazifik-Leitlinien der Bundesregierung bieten hierbei einen wichtigen Rahmen. Deshalb hat sich Deutschland während seiner EU-Ratspräsidentschaft im vergangenen Jahr dafür eingesetzt, die Kohärenz der europäischen China-Politik zu stärken. Dieser Ansatz betrachtet China als Partner, Wettbewerber und systemischen Rivalen und bietet somit viele Anknüpfungspunkte für einen wiederbelebten transatlantischen Dialog über China. Natürlich wissen wir, dass in den USA parteiübergreifend ein harter Kurs gegenüber China gefordert wird. Auch wenn wir viele Sorgen und Kritikpunkte in Bezug auf die chinesische Politik teilen, kann eine neue Polarisierung und ein Decoupling nicht in unserem Interesse sein.

Nach den Trump-Jahren, in denen das Fundament der transatlantischen Partnerschaft erschüttert wurde, ist es wichtig und richtig, die europäische Souveränität zu stärken, insbesondere im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Diese Bemühungen stehen aber nicht im Widerspruch zu einer Stärkung der transatlantischen Bindung. Ganz im Gegenteil. Schon die ersten Wochen der Biden-Administration haben eine positive Dynamik in den Beziehungen entfacht. In allen wichtigen Fragen hat Washington das Gespräch mit seinen Verbündeten gesucht, und zum ersten Mal seit vier Jahren gibt es auf der internationalen Bühne wieder eine zwischen uns abgestimmte Politik. Diese Chance müssen wir nutzen.

(Diesen Artikel hat der Autor in seiner Funktion als Abgeordneter des Deutschen Bundestages verfasst und nicht in seiner Rolle im Auswärtigen Amt.)

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