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Das neue Programm der Grünen und die Aufgaben der Sozialdemokratie

Die wandelbaren Grünen scheinen sich in ihrem neuen, dem vierten Grundsatzprogramm ihrer Geschichte abermals neu erfinden zu wollen. Kaum überraschend steht dort zwar der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen weiterhin über allem. Das ökologische Markenzeichen macht den Grünen niemand streitig, auch wenn die ökologische Idee angesichts der drohenden Klimakatastrophe, des voranschreitenden Artensterbens, ja des Zusammenbruchs ganzer Ökosysteme immer deutlicher Einzug in Programm und Selbstverständnis auch der anderen demokratischen Parteien gehalten hat. Im Berliner Grundsatzprogramm der SPD von 1989 zum Beispiel ist sie neben dem Sozialen und der Demokratisierung die dritte, gleichrangige Leitidee für sämtliche Politikbereiche. Dort ist der »Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen« der menschlichen Zivilisation sogar den Grundwerten der sozialen Demokratie vorgeordnet.

Die Grünen wurden von der Sozialdemokratie bislang auch nie wegen Ihrer Betonung der Ökologie kritisiert, sondern wegen ihrer defensiven nur-ökologischen Fixierung ohne Einbeziehung der sozialen Dimension und der Arbeitswelt. Kritisiert wurden auch pauschale Technikfeindlichkeit, eine zu generelle Fortschrittsskepsis und das Setzen auf Verbote statt auf konstruktive Lenkungsinstrumente für ein alternatives Wachstum. Das neue Programm der Grünen versucht nun demonstrativ, diese Schlagseite zu korrigieren. Es versteht jetzt die Ökologisierung als ein Projekt des technischen Fortschritts, vorausschauender Industriepolitik, der Innovation und Digitalisierung. Ihre »sozial-ökologische Marktwirtschaft«, schon lange ein Programmbegriff der SPD, hat mit Ökodiktatur und Verzichtsethik nichts mehr zu tun und die Ökologiefrage wird systematisch mit Gerechtigkeits- und Solidaritätsthemen verschränkt: »Daher muss ökologische Politik soziale Interessen immer miteinbeziehen«. Die soziale Spaltung der Gesellschaft erscheint nicht länger als eine Nebenfrage. Das sieht einem sozialdemokratischen Projekt zum Verwechseln ähnlich.

Die Grünen müssten nun eindeutig für ein Reformbündnis mit SPD und der Linkspartei optieren und dürften sich nicht mehr mit der Formel der in alle Richtungen offenen »Bündnispartei« als Mehrheitsbeschafferin der Union andienen. Aber das dürfte auch ihre aktuelle Versuchung beflügeln, quantitativ und qualitativ die politische Führung links der Mitte anzustreben, für die jüngere Umfragen mit über 20 % als Sprungbrett locken. Man könnte sogar auf den Gedanken kommen, es ginge den zuletzt so erfolgsverwöhnten grünen Strategen darum, die schwächelnde SPD durch Übernahme wesentlicher Teile von sozialdemokratischem Weltbild und Anhängerschaft ganz an den Rand zu drängen. Die Überwindung der sozial-ökonomischen Spaltung des Kapitalismus ist nicht mehr das Alleinstellungsmerkmal der SPD (abgesehen von der politisch uneindeutigen Linkspartei), auch wenn das ihre besondere historische Mission bleibt. Auf die neue, von der unregulierten Globalisierung bewirkte sozial-kulturelle Spaltung der Gesellschaft, die nicht weniger erbitterte Konflikte hervortreibt als die alte, fehlt den Grünen allerdings nicht zufällig die Antwort, sie ist in ihren postmaterialistischen Genen nicht angelegt. Es geht ja jetzt um den neuen Grundkonflikt zwischen den Klassen und Milieus, die Globalisierung und Digitalisierung als Beraubung, und jenen, die sie als Bereicherung erfahren. Auf der einen Seite die kulturell und wirtschaftlich Unterlegenen mit den alten Berufen und Lebensmodellen, die nun Schutz bei einem starken und souveränen Nationalstaat suchen. Sie wollen, schon mangels beruflicher Mobilität, heimatverbunden bleiben mit einer am Gewohnten orientierten sozialen Kultur und einem skeptischen Blick auf unbegrenzte Migration. Ihnen stehen mit demonstrativer Verachtung jene Klassen und Milieus gegenüber, die beruflich und lebensweltlich von Globalisierung und Digitalisierung profitieren, internationale Kontakte intensiv pflegen, sich als tolerant und weltoffen sehen und kulturelle Vielfalt, Migration sowie offene Grenzen wollen. Sie halten sich für die »fortschrittlichen« Weltbürger der globalen Ära, die für den »traurigen Rest« die Maßstäbe setzen.

Die Grünen sind sozusagen von Haus aus der politische Arm dieser Klasse. Mit ihrem post-materialistischen Ursprungsimpuls und ihrem weltanschaulich überhöhten »Kosmopolitismus« repräsentieren sie den Kern der von Andreas Reckwitz erforschten »neuen Mittelklasse der Wissens- und Kulturökonomie mit ihrem Selbstbewusstsein eines avancierten, zeitgenössischen Lebensstils«. Sie setzen ihre politischen Akzente in den entscheidenden Fragen demonstrativ einseitig: Sie wollen laut Programmen eine »würdevolle Migration« und sehen in ihr generell »etwas zutiefst Menschliches«, das ausschließlich Vorteile für alle mit sich bringt (Entwicklung, globale Zusammenarbeit, Innovation), erwähnen aber mit keiner Silbe die potenziell negativen Folgen für die Herkunftsländer und die Risiken der Überforderung, die Integrationsprobleme und die sozial-kulturellen Spannungen durch unregulierte Massenmigration in den Aufnahmeländern. Man fragt sich, wie die »kontrollierten EU-Außengrenzen« zu dieser rosigen Sicht passen. Sie wollen in diesen Fragen nicht Volkspartei sein, sondern eben die politische Vertretung der »kosmopolitischen« Neuen Mittelklasse.

Die Grünen übersehen dabei, dass wir es heute mit einer doppelten Spaltung der Gesellschaft zu tun haben. Einerseits wächst ja die klassische sozial-ökonomische Spaltung des Kapitalismus wieder beträchtlich an: Die oberen 10 % besitzen mittlerweile gut zwei Drittel des Nettovermögens und allein das reichste Prozent der Bevölkerung verfügt jetzt über 35 % des Gesamtvermögens, während auch die Armut wieder zunimmt. Andererseits entfaltet sich zugleich ungebremst der neue sozial-kulturelle Konflikt, mit dem sozialen Konflikt vielfach verwoben. Die Konfliktlinie geht seit Kurzem durch die Wählerschaft mitte-links mitten hindurch und ist in gewichtigen sozialwissenschaftlichen Studien umfassend erforscht worden, beginnend mit den von Hanspeter Kriesi geleiteten Teams der EU-Uni in Florenz, über Andreas Reckwitz’ gründliche Studie, David Goodharts politischen Analysen in Großbritannien und der bedeutenden aktuellen Fünfländer-Studie des Wissenschaftszentrums Berlin von Michael Zürn, Wolfgang Merkel und Ruud Koopmans.

Von diesen Forschungsergebnissen der Sozialwissenschaften muss die Sozialdemokratie ausgehen, wenn sie heute, wie Willy Brandt unvergessen gemahnt hat, »auf der Höhe der Zeit« bleiben will. Dem wird die aktuelle Fokusgruppen-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung »Auf der Suche nach dem verlorenen Dialog« (2020) weitgehend gerecht, denn sie bestätigt nicht nur den Umfang und die Tiefe der neuen Spaltung, sie untersucht empirisch die innere Differenzierung der großen Einstellungsgruppen, die den neuen Widerspruch repräsentieren – und vor allem: Sie weist einen erfolgversprechenden Weg des politischen produktiven Umgangs mit ihm. Daraus ergibt sich eine große, geradezu historische Chance für eine neue Erzählung der Sozialdemokratie, in der sie die sozio-ökonomische und die sozio-kulturelle Konfliktlinie zusammenführt. Sie allein könnte mit ihrem gesellschaftlichen Rückhalt den notwendigen politischen Brückenbau leisten und damit die Initiativkraft in einem neuen Bündnis mitte-links zurückgewinnen. Aus der politischen Verengung der Grünen, die in dieser Frage von der Linkspartei geteilt wird, ergeben sich Herausforderungen und Chancen für die Sozialdemokratie. Gerade weil auch sie eine Partei der erwiesenen Weltoffenheit, der internationalen Solidarität und des kulturellen Fortschritts ist, kann sie aufgrund ihrer Geschichte, ihrer Zielgruppen und ihres Selbstverständnisses glaubhaft mit den verständigungsbereiten Teilen beider Seiten ins Gespräch kommen; eine zeitgemäße Ergänzung des von Willy Brandt der Sozialdemokratie ans Herz gelegten »Bündnisses zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse«. Eben mit den moderat »National Orientierten«, die in der grünen Variante des Kosmopolitismus ihre eigene Erfahrungswelt, ihre Lebenswirklichkeit und ihre Interessen nicht wiedererkennen. Dafür muss sie deutlicher machen, dass sie nicht blind ist für die Risiken, Probleme und offenen Fragen von Globalisierung und Migration. Sie muss die Defizite des weltanschaulichen Kosmopolitismus durch den sozialdemokratischen Realismus ihrer Tradition zugunsten eines republikanischen Kosmopolitismus überwinden, in dem die Nationalstaaten und die Themen soziale Gerechtigkeit und Sicherheit ihren Platz haben. Dazu gehört, dass sie auch die auf Globalisierung und Massenmigration bezogenen Veränderungsängste der »kleinen Leute« aus der neuen Arbeiterklasse und der Traditionalisten aus der alten Mittelklasse (viele Facharbeiter und Gewerkschafter) ernst nimmt und den gerissenen Gesprächsfaden mit ihnen wieder aufnimmt. Sie darf dem modischen Missverständnis nicht aufsitzen, dass der »Rechtsextremismus« schon beginnt, wo offene Grenzen infrage gestellt, Begriffe wie Nation und Heimat noch benutzt werden und die Frage nach den Regeln von Zuwanderung und dem Gelingen von Integration gestellt wird.

Es ist wahr, es gibt, wie die Zahlen der FES-Studien zeigen, an den extremen Rändern beider Einstellungsgruppen fundamentalistische Verhärtungen, die sie zu »verfeindeten Stämmen« (jeweils ca. 5–7 %) werden und für Gespräche oder Kompromisse zunächst untauglich erscheinen lassen. Aber der größte Teil besteht aus Gemäßigten (jeweils ca. 20 %) und den Menschen in der »Beweglichen Mitte« (50 %), die für sich eine nüchterne Synthese aus den Elementen der verschiedenen Sichtweisen vollziehen. Ein großer Schritt nach vorn ist es, dass die FES-Studie den »verlorenen Dialog« zwischen diesen Milieus, darunter viele potenzielle SPD-Wähler, in gut ausgewählten und fair moderierten Fokusgruppen schon praktisch geprobt hat. Unter anderem drei Themenkomplexe stießen bei allen auf Interesse: die Integration von Migranten, soziale Gerechtigkeit und Bildung. Die Gespräche führten erwartungsgemäß nicht zur sofortigen Übereinstimmung, aber immerhin zu der Erfahrung, dass es sinnvoll ist, diese Debatten zu führen, weil sie zumindest Verständnis für die Sichtweise der anderen schafft. Schon das ist ein großer Gewinn für die politische Kultur der Demokratie.

Dass für einen tragfähigen Kompromiss nötige Maß der Annäherung braucht mehr Zeit und Vertrauen. Hier liegt die historische Chance (und die Pflicht) der Sozialdemokratie, denn es geht ja der politischen Handhabung dieses Konflikts nicht um Harmonie und Übereinstimmung, sondern um das Verständnis unterschiedlicher Interessen und die Bereitschaft der Beteiligten zu einem tragfähigen Kompromiss. Nicht ganz unähnlich der Beziehung zwischen den Sozialkontrahenten des sozial-ökonomischen Konflikts, der sich durch den sozialdemokratischen Kompromiss vom Klassenkampf zur Säule der sozialen Demokratien entwickelt hat.

Ein solcher Kompromiss wird naturgemäß die fundamentalistischen Pole auf beiden Seiten nicht einschließen, aber er schwächt ihre Position und reduziert ihre Reichweite. Die große Mehrheit im Lande macht sich nämlich wachsende Sorgen, dass wichtige gesellschaftliche Gruppen immer weiter auseinanderdriften, bis der Faden womöglich reißt. Die USA mit ihrem »kalten Bürgerkrieg« (Torben Lütjen) lassen grüßen. Die kulturelle und die politische Polarisierung nehmen zu, die Demokratie verliert an Respekt, wenn sich zu viele in ihr nicht mehr repräsentiert fühlen. Der Bau tragfähiger Brücken ist jetzt gefragt, nicht der umfassende Konsens. In einem neuen Bündnis mitte-links muss über die grundlegende Übereinstimmung hinaus jede der Parteien ein unterscheidendes Programmelement einbringen, den Zugang zu ihrem tragenden Sozialmilieu und das zugehörige Segment der Wähler, so dass sie gemeinsam nicht nur eine Wählermehrheit sondern eine gesellschaftliche Koalition repräsentieren. Dazu gehören neben den republikanischen Kosmopoliten des Neuen Bürgertums der gemäßigte Teil derer, die in der FES-Studie »National Orientierte« genannt werden und die gesamte »Bewegliche Mitte«. Bei letzterer handelt es sich ja nicht um Menschen, die gern ihre Meinung ändern, sondern um jene, die schon selbst pragmatisch die vernünftigen Elemente der unterschiedlichen Einstellungen miteinander verbinden. Sie wollen soziale Gerechtigkeit und Zuwanderung, nach begründbaren Regeln begrenzt, sie wollen Integration nach gemeinsamen sozialen und politisch-kulturellen Maßstäben, sie wollen die demokratische und soziale Integration Europas, sie wollen eine faire Globalpolitik. Sie sind daher ein Pfeiler des sozialdemokratischen Brückenbaus.

Kaum praktikabel erscheint allerdings der Vorschlag der FES-Studie, die politischen Erfolgschancen des mit ihr überzeugend begonnenen Dialogs dadurch zu verbessern, dass mithilfe von Moderatoren durch eine bundesweite Initiative Diskursfähigkeit überhaupt erst einmal eingeübt wird. Erfolg verspricht nur der ernsthafte Beginn eines solchen Dialogs mit dem üblichen Vertrauensvorschuss und dem Vorsatz, ihn zum Erfolg zu führen. Eine SPD, die diesen Weg entschlossen verfolgt, könnte große Teile des gemäßigten Spektrums zwischen den Polen (vor allem auch Facharbeiter und Gewerkschafter) überzeugen, damit den rechten Populismus schwächen und zugleich ihre Leitfunktion im linken Spektrum zurückgewinnen. Das können die Grünen nicht. Für die SPD ist das der Weg zur 20-%-plus-Partei.

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