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Solidaritätssuche mit Pferdefuß Das neue Wir

Kein Gespenst, sondern ein Personalpronomen geht um in Deutschland: Wir sind das Klima! verkündet die Titelseite von Jonathan Safran Foers neuestem Buch, dessen Untertitel uns das Rezept verheißt, »Wie wir unseren Planeten schon beim Frühstück retten können«. Wolf-Dieter Storls Wir sind Geschöpfe des Waldes will der Frage nachgehen, »Warum wir untrennbar mit den Bäumen verbunden sind«. Jan Plampers Das neue Wir will zeigen, »Warum Migration dazugehört«, während das »Extinction-Rebellion-Handbuch« des S. Fischer Verlags verheißt, dass unsere Stunde gekommen ist: Wann wenn nicht wir*, lautet der Titel. Ist das »Wir« möglicherweise gar die Neue Mitte, nachdem Die Zeit in einem Beitrag von Bernd Ulrich vom 1. Dezember 2019 das Scheitern der alten konstatiert hat? Freilich hat dieses kleine Wort neben einer enormen Bindungsmacht auch einen riesigen Pferdefuß.

Auf den ersten Blick ist das »Wir« eine feine Sache. Von einem heimeligen Wirgefühl begleitet verheißt es Gemeinschaft, Eintracht, Solidarität und Identität. Seit Entdeckung der Spiegelneuronen weiß man, dass dies früh und tief in unseren Hirnstrukturen verankert ist, und mit Joachim Bauer erklärt nun ein Vorreiter auf diesem Gebiet Wie wir werden, wer wir sind: Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. Der menschliche Säugling, so lässt sich dessen Abhandlung skizzieren, hat bei seiner Geburt noch kein Selbst. Wie die Sprache entwickelt sich dieses erst durch An- und Zusprache: »Die Anfänge der Selbst-Werdung vollziehen sich in den ersten etwa vierundzwanzig Lebensmonaten und beruhen auf Resonanzen, die der Säugling in seinen Bezugspersonen auslöst und die zu ihm zurückkehren«, schreibt Bauer: »Seine Bezugspersonen dienen dem Säugling als eine Art externes Selbst.« Körperliche Nähe ist eine der Voraussetzungen solcher Resonanz, doch heute darf man auch ganz unironisch hinzufügen: So beständig nahe wie die Mutter in unserer frühen Kindheit war, ist uns heute allenfalls noch das Smartphone. Zunächst aber gilt festzuhalten, was der Autor mit einem Zitat von Martin Buber unterstreicht: »Der Mensch wird am Du zum Ich.«

Und aus »Du« und »Ich« wurde das »Wir«, was man an einer der wenigen Sprachen ablesen kann, die in historisch überlieferten Zeiten entstanden ist. Das sogenannte Pidginenglisch (tok pisin) ist ein schönes Beispiel dafür, dass dieselben Gesellschaften, die Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus betrieben, auch Kommunikationsstrategien zur Überwindung zumindest sprachlicher Andersartigkeit (Otherness) befördert haben. Das Wir wird darin aus der Kombination von »you and me« zu »yumi« gebildet, aber auch hier zeigte sich rasch der erwähnte Pferdefuß, denn neben dem inklusiven Wir, das den Angesprochenen einschließt, gibt es auch ein exklusives Wir, welches ein Du oder ein Ihr ausschließt.

»Wir sind weiß, aber ihr seid schwarz«, ist ein Beispiel für ein exklusives Wir, das zunächst einmal nur einen visuellen Eindruck wiedergibt und durch den Zusatz »aber wir alle sind Menschen« in ein inklusives verwandelbar wäre. Freilich geraten wir dabei aufs Terrain des Gutgemeinten, denn nicht alle Menschen sind einer Meinung. So betitelte die Süddeutsche Zeitung unlängst ein Interview mit dem Zoologen Martin Fischer und dem Paläogenetiker Johannes Krause mit dem durch Anführungszeichen als Zitat ausgewiesenen Satz »Wir waren alle mal schwarz«. Kritische Leser, die daraufhin ihre eigenen Kinderfotos unter die Lupe genommen haben, werden dies bestreiten, weil die meisten von ihnen nie im Leben und auch nicht »mal« schwarz gewesen sind. Tatsächlich aber heißt es im Interview: »Die helle Hautfarbe der Europäer hat sich erst vor wenigen Tausend Jahren ausgebildet«, weil »der Mensch erst vor Kurzem aus Afrika heraus in die Welt expandiert« sei: »Davor waren alle schwarz.« Aber vielleicht auch nicht: »Die San in Südafrika zum Beispiel haben eine hellere Hautfarbe als viele Menschen in Andalusien.« Der gut gemeinte Versuch, den Rassebegriff durch die Konstruktion eines »Wir alle« zu »dekonstruieren« enthüllt hier die Tücken der Sprache, die da, wo sie differenziert eben auch auf Differenzen hinweist, wie auf die San, die eine hellere Haut als andere Afrikaner, und die Andalusier, die eine oft dunklere Hautfarbe als »wir, die Nicht-Afrikaner«, hätten.

Statt signifikante Differenzen wegzuleugnen, um sich ein inklusives Wir zu konstruieren, sollte man sie einfach akzeptieren: »Ebony and Ivory live together in perfect harmony / Side by side on my piano keyboard oh lord why don’t we?«, sangen einst der Afroamerikaner Stevie Wonder und der Brite Paul McCartney. Das »We« ist hier inklusiv, doch verleugnet es nicht, dass wir der Kunst noch hinterherhinken.

Vielfalt und Homogenität

Denn egal, ob inklusiv oder exklusiv, das Wir hat ein enormes Provokationspotenzial. Wie das Du ist es ein Mittel, anderen sprachlich nahe zu treten, und das ist nicht immer erwünscht. Kann das exklusive Wir ausschließen, beleidigen und demütigen, so ist das inklusive Wir fast noch schlimmer, wenn es eine Gemeinsamkeit voraussetzt, die es nicht gibt. So war Angela Merkels auf die Flüchtlingskrise gemünztes »Wir schaffen das« als eine Art Stein der Weisen gedacht gewesen und wurde stattdessen zum Stein des Anstoßes für all diejenigen, die keine Flüchtlinge bei sich im Lande haben wollten. Und das ursprünglich an die Betonköpfe der SED adressierte »Wir sind das Volk« wurde zum ambivalenten Kampfruf, der sowohl gegen das erodierende demokratische Establishment als auch gegen dessen Wähler gerichtet ist.

Nun gibt es in Zeiten der Globalisierung vor allem zwei Strategien, darauf zu reagieren. Man kann auf Vielfalt und Buntheit setzen und hoffen, dass bei so vielen Unterschieden einzelne keinen mehr machen. Oder man setzt auf identitäre Homogenität und Ausschluss. Für einen dritten Weg liefert Wolf-Dieter Storl Wir sind Geschöpfe des Waldes das passende Wirgefühl, führt aber auf einen Holzweg. Auf dem Titel kommt uns der Autor in lodengrünem Wams, mit wehendem Bart und spitzem Filzhut entgegen und klärt dann übers Waldbaden und Seelendüfte, »unsere Vorfahren. Herrentiere der Urzeitwälder« wie über Hypothesen zum Beitrag des Waldes zur menschlichen Evolution, Schamanismus sowie die »Waldvölker« der Germanen und Slawen auf. Leider liegt der Wald, in den uns der Autor lockt, in mythischer Vergangenheit und in Regionen des magischen Denkens. Wie es in den Forsten zugeht, die Westeuropas Wälder seit langem verdrängt haben, erfährt man in Publikationen der Firma Grube, die Forstbedarf vertreibt. Nicht Lodengrün, sondern Signalfarben dominieren im Katalog »Der Motorsäger«, der Kunden in Hinblick auf Herbst und Winter als »Sehr geehrte Brennholzfreunde« anspricht. Ähnlich dem Unterschied zwischen Waldgeschöpfen und Waldarbeitern verhält es sich auch mit den aktuellen Differenzen zwischen radikalen Tier- und Umweltschützern und Bauern. Den einen ist jede Biene heilig, die anderen müssen zusehen, wie sie mit Äckern und Tieren Lebensmittel erzeugen, von denen andere Menschen leben können, und Einkünfte erzielen, von denen sie selber leben können.

So wenig man die Rechnung ohne den Landwirt machen kann, so wenig sollte man auch von sich auf andere schließen. Der Historiker Jan Plamper etwa liefert mit Das neue Wir eine lesenswerte »andere Geschichte der Deutschen«, in der »Migration dazugehört«. Seine Kurzvita (»lebte viele Jahre in den USA und Russland und pendelt heute zwischen Berlin und London, wo er als Professor für Geschichte am Goldsmith College lehrt«) weist ihn jedoch als Vertreter jener Akademikerriege aus, die der im Oktober 2019 viel zu früh verstorbene Carlo Strenger in seinem letzten Buch ironisch als Diese verdammten liberalen Eliten vorgestellt hat. Plamper zählt also zu den Migrationsgewinnern, was für viele andere Menschen mit Migrations- oder »Seßhaftigkeitshintergrund« (Max Goldt) eher nicht gilt. Zwar wird das »Wir« auf dem Titel in roten Großbuchstaben geschrieben, doch der Zugang mutet eher exklusiv an. Wer die Integration von Migranten gar nicht schaffen will, wird auch das neue Wir nicht haben wollen.

Vor der Apokalypse?

Zum Glück aber gibt es ja die neue Gretchenfrage, die nun nicht mehr auf die Religion, sondern auf das Verhältnis zum Klimaschutz zielt. Leider ist auch daraus wieder eine Art Glaubensfrage geworden, und da es dabei um Sein oder Nichtsein geht, hat sie inzwischen apokalyptische Ausmaße angenommen. Jonathan Safran Foer reflektiert in Wir sind das Klima! intelligenter als der Titel und der Untertitel »Wie wir unseren Planeten schon beim Frühstück retten können« vermuten lassen. Vordergründig geht es ihm um den verheerenden Einfluss einer fleischreichen Ernährungsweise auf das Weltklima. Im Grund jedoch geht es um die Frage, wie wir Klimasünder darauf gemeinsam, nämlich »schon beim Frühstück«, reagieren können. Diesem Wir fehlt der exkludierende und anklagende Zeigefinger, der sich gegen andere richtet. Dagegen hat Roger Hallam, Mitgründer von Extinction Rebellion, die Schuldigen längst im Visier: »Die Reichen und Mächtigen verdienen mit unserem gegenwärtigen selbstmörderischen Kurs zu viel Geld.« Dass man Hallam nach einem Interview der Zeit dann vorwarf, er relativiere den Holocaust, war etwas verwunderlich, denn was erschiene angesichts eines Untergangs der Menschheit nicht als relativ? Das eigentlich Fragwürdige an der Bewegung ist ihr apokalyptischer Tonfall, der sich schon im Titel des Handbuchs widerspiegelt. Wann wenn nicht wir verbindet das apokalyptische »die Zeit ist nah« und die Drohung mit dem Weltende zu einer Formel der Selbstermächtigung. Zwar predigt Hallam den gewaltfreien Widerstand, aber was ist, wenn der nicht ausreicht? Und was, wenn »die Reichen und Mächtigen« aus der Welt geschafft worden sind, und diese noch immer nicht besser geworden ist?

Je größer das drohende Unglück ist, auf das wir uns berufen, je größer die Einigkeit, die ein Wir beschwört, je stärker also sein inkludierendes Momentum wird, desto radikaler wird im Ernstfall auch sein exkludierendes. Harmonie aber erwächst nicht aus totaler Vereinheitlichung, sondern aus komplementären Differenzen. Dass unterschiedliche Interessen und Begabungen einander ergänzen, war der Anfang einer arbeitsteiligen Gesellschaft und von Handel und Wandel. Wären wir hingegen nur wir, dann wäre jeder sich selbst genug.

Jonathan Safran Foer: Wir sind das Klima! Wie wir unseren Planeten schon beim Frühstück retten können. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 336 S., 22 €. – Wolf-Dieter Storl: Wir sind Geschöpfe des Waldes. Warum wir untrennbar mit den Bäumen verbunden sind. Gräfe und Unzer, München 2019, 368 S., 24,99 €. – Sina Kamala Kaufmann/Michael Timmermann/Annemarie Botzki (Hg.): Wann wenn nicht wir*: Ein Extinction Rebellion Handbuch. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2019, 256 S., 12 €. – Jan Plamper: Das neue Wir: Warum Migration dazugehört: Eine andere Geschichte der Deutschen. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2019, 400 S., 20 €. – Joachim Bauer: Wie wir werden, wer wir sind: Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. Blessing, München 2019, 256 S., 22 €.

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