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Das Potenzial der Mitgliederbeteiligung

Sigmar Gabriels Voraussage aus dem Jahr 2013, als er den SPD-Mitgliederentscheid zum Koalitionsvertrag medienwirksam verteidigte, sollte eintreffen: Die Befragung der eigenen Basis über den Eintritt in eine Regierungskoalition werde nicht die Ausnahme bleiben und sich bei umstrittenen Bündnissen als gängige innerparteiliche Praxis etablieren. Auch wenn die sich gegenwärtig anbahnende Zusammenarbeit mit den Unionsparteien CDU/CSU nun in einem Koalitions- oder Kooperationsvertrag festgehalten wird, werden am Ende vermutlich abermals die Parteimitglieder über das Vertragswerk abstimmen und somit endgültig über das neue Regierungsbündnis entscheiden. Damit rücken zugleich Fragen über den demokratischen (Mehr-)Wert von solchen direktdemokratischen innerparteilichen Verfahren wieder in den Mittelpunkt der Debatte. Will die SPD diese Fragen adressieren und neben der Legitimierung, der im Rahmen der Koalitionsverhandlung getroffenen Vereinbarungen mit einer stärkeren basisdemokratischen Ausrichtung, auch den zwingend notwendigen Konsolidierungsprozess vorantreiben, muss die Partei dringend eine angemessene Vorstellung innerparteilicher Demokratie entwickeln. Innerparteiliche Plebiszite müssen in diesem Zusammenhang als demokratisches Reformmodell und nicht als reines Machtmittel im politischen Konkurrenzkampf verstanden werden.

Theorie der innerparteilichen Demokratie

Trotz einer langen politikwissenschaftlichen Tradition stellt innerparteiliche Demokratie ein stark vernachlässigtes Gebiet der Parteienforschung dar. Fragen nach Reformpotenzialen innerparteilicher Beteiligungsverfahren standen bisher nur selten im Mittelpunkt wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Versuche, gar eine geschlossene Theorie der innerparteilichen Demokratie zu entwickeln, wurden kaum unternommen. Dennoch lassen sich in unterschiedlichen demokratietheoretischen Denktraditionen verschiedene Vorstellungen bezüglich Art und Ausmaß innerparteilicher Demokratie identifizieren. Doch welchen Beitrag kann die demokratietheoretische Parteienforschung einerseits zur Debatte um die Bedeutung innerparteilicher Plebiszite, andererseits zum Reformdiskurs im Rahmen des innerparteilichen Konsolidierungskurses leisten?

In der realistischen Denktradition spielt innerparteiliche Demokratie seit jeher eine untergeordnete Rolle und wird zumeist als dysfunktional angesehen. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter gilt als Urvater dieser konkurrenzdemokratischen Modelle, die – zumeist mit Bezug auf Robert Michels »Ehernes Gesetz der Oligarchie« (»Wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oligarchie«) – Demokratie nur als zwischenparteilichen Konkurrenzkampf verstehen. Der Fokus der Parteien dürfe daher nicht auf der Demokratisierung ihrer innerparteilichen Machtverteilung oder Entscheidungsfindung, sondern lediglich auf der Maximierung von Effizienz und Schlagkraft liegen. Dass es sich hierbei keineswegs um antiquierte Vorstellungen handelt, zeigt eine zunehmende Attraktivität führungszentrierter Repräsentationstheorien. Die »leader democracy« des Ungarn András Köröséniy verhalf Schumpeters Parteienverständnis zu einer Renaissance und beschreibt zugleich die wachsende Bedeutung mehr oder minder autonomer Parteiführungen, die nur noch marginal an den innerparteilichen Input sowie die programmatische Ausrichtung gebunden seien. Reformmodelle, die auf eine Demokratisierung der Binnenstruktur abzielen, können nicht mit der realistischen Theorietradition begründet werden. Ein repräsentatives Beispiel für ein solches Parteiverständnis lässt sich mit Blick nach Österreich finden, wo nicht die ÖVP, sondern eine »Liste Sebastian Kurz« auf den Stimmzetteln der Nationalratswahl geführt wurde.

Die ablehnende Haltung gegenüber innerparteilicher Demokratie wird kontrastiert durch die hohen normativen Erwartungen partizipatorischer Theorieansätze. Parteien nehmen hierin die Rolle eines Bindegliedes zwischen Bürgern und politischer Führung ein, deren Aufgabe zuvorderst in der Transmission der bürgerlichen Interessen liegt. Als »Surrogat der direkten Demokratie«, wie es der Rechtswissenschaftler und Bundesrichter Gerhard Leibholz bezeichnet, spielen sie eine bedeutsame Rolle, wenn es darum geht, dem Volk die Anteilnahme am politischen Leben außerhalb von Wahlen zu ermöglichen. Durch eine lebendige innerparteiliche Demokratie sollen Parteien ein Gegengewicht gegenüber der mittelbar-demokratischen Struktur des Staates herstellen. Die Wirkmächtigkeit der Leibholz’schen Parteienstaatslehre darf gegenwärtig allerdings angezweifelt werden. Weil die Identität von Volk und Parteien eine zentrale Ausgangsbedingung von Leibholz’ Thesen darstellt, haben grassierende Mitgliederverluste bei den Volksparteien seine Theorie fast schon obsolet werden lassen.

Das Spannungsfeld zwischen demokratischer Norm und innerparteilicher Wirklichkeit vermag somit weder realistisch-konkurrenzdemokratische noch normativ-identitärdemokratische Theorien befriedigend aufzulösen. Beide Traditionslinien vermitteln allenfalls ein defizitäres Bild von innerparteilicher Demokratie und können zur Debatte um den demokratischen (Mehr-)Wert bzw. die Reformpotenziale direkter innerparteilicher Demokratie nur wenig beitragen.

Auch Jürgen Habermas, der zu den gemäßigten Partizipationisten gezählt werden darf, gelingt es nicht, dieses Dilemma befriedigend aufzulösen. Dessen deliberative Theorie teilt grundsätzlich die Vorstellungen normativer Theorien zur immensen Bedeutung innerparteilicher Demokratie, stellt an deren Umsetzung allerdings vollkommen andere Forderungen. Da eine Steigerung der innerparteilichen Demokratie durch substanziellere und rationalere Deliberationsprozesse ermöglicht werden müsse, zeichnet sich die deliberative Perspektive durch eine ablehnende Haltung gegenüber direktdemokratischen Strukturen in Parteien aus, würde dies doch eine zu starke Determinierung der Entscheidungen durch die Parteibasis bedeuten. Damit beruht diese Ablehnung auf einem stark verengten Leitbild innerparteilicher Demokratie, weshalb eine Argumentation mit Habermas bei der Suche nach angemessenen Reformoptionen nur wenig zielführend ist. Indem er Einbezug statt Partizipation zum Kernelement seiner Demokratievorstellung macht, setzt sich seine Theorie der Elitismuskritik aus. Angesichts einer jetzt schon kaum zu leugnenden partizipativen Schieflage in den Parteien und der zunehmenden Kritik an einem abgehobenen Partei-Establishment, dürfen Reformen keineswegs den Gleichheitsgrundsatz der Demokratie untergraben oder zu einer Verfestigung der innerparteilichen Ungleichheit beitragen. Zu einem angemessenen Verständnis von innerparteilicher Demokratie kann Habermas somit allenfalls Teilaspekte wie Öffentlichkeit und Transparenz beitragen.

Integrationsfunktion als Kernelement

Ein besseres Bild innerparteilicher Demokratie vermitteln neopluralistische Theorien. Deren Hauptvertreter Ernst Fraenkel betont die integrative Wirkung innerparteilicher Demokratie, die auf das Mitgestaltungsrecht der Bürger durch Parteien und Verbände abziele. Trotz ähnlicher Rhetorik wie bei Leibholz geht es Fraenkel nicht darum, jegliche Entscheidung durch die Basis treffen zu lassen oder ein imperatives Mandat zu installieren, sondern um eine verbesserte Rückkopplung zwischen Wählern, Parteibasis und Parlamentariern sowie um das stete Offenhalten des demokratischen Prozesses. Auch direktdemokratische Beteiligungsformen innerhalb von Parteien seien daher wünschenswert, weil sie das notwenige Korrektiv zur repräsentativen Struktur auf staatlicher Ebene darstellen. Zugleich dienen sie als Prävention gegen die Forderung nach Einführung von grobschlächtigen plebiszitären Elementen auf Bundesebene, die zwar häufig von Populisten gefordert werden, gegen die sich allerdings zahlreiche demokratietheoretische Einwände formulieren lassen. Eine in dieser Weise verstandene innerparteiliche Demokratie offenbart aufgrund der starken Betonung der parteipolitischen Integrationsfunktion, mit Hinblick auf die gegenwärtigen Entwicklungen in der Bundesrepublik, demokratische Revitalisierungspotenziale. Wachsende Entfremdungstendenzen und Politikverdrossenheit sind Konsequenzen einer mangelhaften Integrationsleistung, wovor Fraenkel explizit warnt. Innerparteiliche Demokratie sei ein wichtiges Element einer funktionierenden repräsentativen Demokratie, da hierdurch das »Gefühl der passiven Hilflosigkeit« überwunden werden könne, das sich mit der Reduzierung der Anteilnahme auf den Wahlakt zwangsläufig einstelle. Ermöglichen Parteien keine zufriedenstellende Teilnahme mehr am öffentlichen Leben, suchen sich die Bürger andere Ventile, um dem eigenen Willen Ausdruck zu verleihen. Pegida und der souveräne Einzug der rechtspopulistischen AfD in den Bundestag bestätigen diese Annahme.

Die Ausweitung plebiszitärer Elemente in politischen Parteien ist Voraussetzung dafür, dass damit positive Demokratisierungseffekte einhergehen und so das Fraenkel’sche Ideal innerparteilicher Demokratie verwirklicht werden kann. Die schlichte Einführung neuer Beteiligungskanäle allein reicht nicht aus. Davor müssen erst die nötigen innerparteilichen Strukturen geschaffen werden. Hierbei sind vor allem drei Punkte von zentraler Bedeutung.

Erstens: Plebiszitäre Verfahren dürfen nicht mehr zuvorderst als reine Machtmittel der parteipolitischen Elite verstanden werden, mit denen Druck auf die Basis ausgeübt werden kann, um diese zu präferierten Haltungen zu bewegen. So sind retrospektiv am SPD-Mitgliederentscheid 2013 weniger verfassungsrechtliche Einzelheiten zu kritisieren, sondern vielmehr sein Charakter als Druckmittel gegenüber der Basis bzw. den potenziellen Koalitionspartnern. Zwar sind mit internen Abstimmungen einhergehende Machtmotive nicht grundsätzlich undemokratisch, sie müssen jedoch transparent gehandhabt und in einen lebendigen innerparteilichen Wettkampf unterschiedlicher Positionen eingebettet werden.

Zweitens: Innerparteiliche Abstimmungen müssen außerdem mehr sein als reine Personenplebiszite, weil sonst der politische Inhalt zunehmend verloren geht. Gegenwärtige Diskussionen um die Einführung von Vorwahlen gehen daher mit ihrem Demokratisierungsbestreben nicht weit genug, weil es nicht ausreicht, die Basis lediglich über Gesichter und nicht über Inhalte abstimmen zu lassen. Um die eigene Mitgliederbasis tatsächlich umfassend miteinzubeziehen und ihnen gleichzeitig über direktdemokratische Verfahren tatsächliche Mitbestimmungsmöglichkeiten einzuräumen, ist es notwendig, ihnen auch unterschiedliche inhaltliche Alternativen anzubieten, die von verschiedenen Parteiflügeln repräsentiert werden können. Abstimmungen über Personen müssen folglich auch immer mit Richtungsgruppen und Inhalten verknüpft werden, die verschiedene Optionen offenbaren.

Drittens: Dieses Aufzeigen von Alternativen in einem transparenten Wettkampf setzt allerdings einen innerparteilichen Mentalitätswandel voraus. Überholte parteipolitische Geschlossenheitsriten, die selbst hochprozentige Zustimmungsraten mitunter als Niederlagen interpretieren, müssen zugunsten einer größeren Konfliktoffenheit überwunden werden. Der tatsächliche Wert dieses gegenwärtigen »100 %-Kults« zeigt sich indes an der Diskussion um Martin Schulz nach dessen Wahlniederlage. Die zunehmende Aufgeschlossenheit gegenüber innerparteilichen Auseinandersetzungen kann darüber hinaus sowohl zu einer Stärkung der Abgeordnetenfreiheit sowie der Streitkultur des Parlaments beitragen. Innerparteiliche Demokratie und freies Mandat schließen sich nicht aus. An dieser Stelle kann die SPD die im Endspurt des Wahlkampfes geäußerte Kritik am Regierungsstil Angela Merkels, der zu einer Entwurzelung des Parlamentarismus führe, abermals untermauern und zugleich durch die Etablierung einer gesunden Konfliktkultur beitragen.

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