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Worst-Case-Szenarien helfen – wenn sie nicht überstrapaziert werden Das Potenzial des Dystopischen

Die Rehabilitation der politischen Utopie ist derzeit in vollem Gange: In einer Krisenkonstellation, in der die Sicherung des Status quo besonders attraktiv wirken mag, mehren sich die Stimmen, die die gesellschaftliche Bedeutung radikaler und visionärer Idealvorstellungen hervorheben. Gerade in einem Moment scheinbar begrenzter politischer Gestaltungsspielräume ist es demnach essenziell, sich der Imagination völlig anderer, besserer Szenarien zu widmen – und somit politische Handlungsspielräume neu zu erschließen.

Ob es sich bei politischen Utopien um eine wertvolle oder aber müßige, womöglich sogar gefährliche Form politischen Denkens handelt, war in den letzten Jahrzehnten umstritten. Utopische Politikentwürfe wurden oft eng assoziiert mit ideologisch übersättigten, insbesondere totalitären Bestrebungen des 20. Jahrhunderts – oder aber als idealistisch und realitätsfern abgetan. Nicht umsonst hätten sich, so Jürgen Habermas bereits 1985, die »utopischen Energien« erschöpft.

Dagegen argumentierten nicht allein politische Revolutionäre, sondern auch Ideenhistoriker*innen wie Richard Saage, der konstruktive »Überschuss« utopischer Idealreflexionen dürfe nicht unterschätzt werden: Jenseits politischer Pfadabhängigkeiten und realistischer Möglichkeiten zu denken, habe das Potenzial nicht nur zu politischer Motivation und Mobilisierung, sondern auch zur Erweiterung politischer Denkbarkeitsräume. Dass ein radikal – und nicht nur schrittweise erzeugter – anderer Zustand als der Status quo vielleicht nicht plan- und realisierbar, durchaus aber vorstellbar ist, könne motivierend, vor allem aber als gegenwartskritischer Orientierungspunkt wirken.

Demgegenüber haben Dystopien eine politiktheoretisch weniger glamouröse Reputation: Sie gelten als Genre der übermäßig alarmistischen Gruselunterhaltung. Obwohl seit den klassischen Dystopien des frühen 20. Jahrhunderts, allen voran Jevgenij Zamjatins Wir, die Skizzierung von Worst-Case-Szenarien als potenziell nützliches Instrument zur Warnung vor sich abzeichnenden Fehlentwicklungen der Gegenwart gilt, stehen dystopische Szenarien gleichzeitig im Verdacht, einen einseitigen Pessimismus zu befördern und auf irrationale Weise das Unwahrscheinliche zur unmittelbaren Bedrohung hochzustilisieren.

Interessant ist, dass politische Dystopien – anders als politische Utopien und ihr klassisches ideengeschichtliches Genre, der theorielastig-sperrige »utopische Staatsroman« à la Thomas Morus und Tommaso Campanella – vor allem in der Unterhaltungsliteratur und im Film anzutreffen sind: Dystopien scheinen affektiv anschlussfähiger als Utopien zu sein.

Dystopien und Worst-Case-Szenarien haben gerade deshalb den Ruf, Affekt über rationale Zukunftsüberlegung zu stellen. Die Fortschreibung schlimmstmöglicher Szenarien aus Defiziten der Gegenwart in dichter Beschreibung – zum Beispiel eskalierender Überwachungstendenzen, restloser Umweltzerstörung, fundamentalistischer Staatsaufbau oder übermächtiger künstlicher Intelligenz – wirken unterhaltsam und gleichzeitig überzeugend.

Gerade aufgrund der Konzentration dystopischer Narrative auf nicht-wissenschaftliche, tendenziell kommerzialisierte Genres aber bleibt die Frage nach dem tatsächlichen politischen Mobilisierungspotenzial von Dystopien: Orientieren sich eher anspruchsvolle near-future-Dystopien wie Margaret Atwoods The Handmaid’s Tale (1985) an einem bestimmten politischen Ideal – nämlich jenem der weiblichen Selbstbestimmung –, so ist bei Blockbustern wie den Tribute-von-Panem-Filmen oder Unterhaltungsromanen wie Dave Eggers' The Circle (2013) fraglich, ob bei den Rezipient*innen mehr als ein Gefühl diffuser Beunruhigung bleibt.

Entgegen dem Verdacht der politischen Trivialität hat der britische Ideenhistoriker Gregory Claeys in einer neueren Monografie den Versuch unternommen, das Genre der Dystopie politiktheoretisch ernstzunehmen. Claeys unterscheidet politische, ökologische und technologische Dystopien – und stellt gerade bei politischen Dystopien deren Emphase auf Warnungen vor einem Kollektivismus mit totalitären Zügen heraus.

Auch wenn diese thematische Engführung an ihre Grenzen stößt – postapokalyptische Dystopien wie der berühmte Roman The Road von Cormac McCarthy etwa erzählen vom Horror naturzustandhafter Vereinzelung und sind keineswegs nur ökologisch, sondern eminent politisch. So diagnostiziert Claeys zurecht die enge Verwandtschaft zwischen Utopie und Dystopie: Der idealisierte Wunschzustand trage aufgrund seiner Radikalität das Umschlagen in den Worst-Case-Zustand bereits in sich. Können also Utopien, je nach normativem Blickwinkel auf sie, auch Dystopien sein?

Claeys' liberaler Impuls, der hinter utopischen Gesellschaftsentwürfen kollektivistische Gefahren vermutet, weist also auf eine größere strukturelle Gemeinsamkeit hin: Utopien und Dystopien bieten konsistente, radikal von der Gegenwart differierende, aber durch Abgrenzung stets eng an ihr orientierte Szenarien. Die umgekehrte Frage – ob die Dystopie auch eine Utopie in sich trägt – ist aber nicht minder interessant oder relevant: Was nämlich ist der konstruktive politische Gehalt von Dystopien neben der genannten Fähigkeit, vor Missständen zu warnen? Haben sie selbst auch utopischen Gehalt und falls ja, worin besteht er?

Der potenziell visionäre Gehalt dystopischen Warnens leitet sich in erster Linie aus der ihm eigenen Kritikform ab: Die Dystopien innewohnende Kritik zielt für gewöhnlich nicht auf Selbstwidersprüchlichkeiten innerhalb ihrer Modelle ab. Im Gegenteil: Worst-Case-Szenarien wie Atwoods theokratischer Staat Gilead sind besonders stimmig und ergreifend – ihr Schrecken leitet sich aus ihrer Plausibilität und konsistenten Denkbarkeit ab.

Dystopische Kritik richtet sich auf zu befürchtende Fehlentwicklungen aus einer starken normativen Perspektive heraus. Diese kann – wie bei Claeys – liberal-individualistisch sein und auf die Freiheit von politischem Zwang abheben, muss dies aber nicht tun: Der neoliberalen Dystopie Sybille Bergs im Roman GRM. Brainfuck (2019) etwa liegt das Ideal eines solidarischen und gemeinwohlorientierten Gesellschaftsmodells zugrunde – auch wenn dieses allerdings nicht zu einem eigenständigen Szenario ausgestaltet ist.

Ist diese normative Grundlage dystopischer Gegenwartskritik aber überhaupt eine Utopie? Das hängt von zwei Fragen ab. Erstens: Inwieweit ist diese normative Grundlage aus der Perspektive des Status quo unverwirklichbar – also im umgangssprachlichen Sinn »utopisch«? Und kann, zweitens, die Dystopie das Streben nach alternativen politischen Visionen befördern?

Beide Fragen können nur kontextabhängig beantwortet werden; manche dystopischen Szenarien legen implizit nur eine vorsichtige Stabilisierung und Bestandssicherung nahe – so etwa Michel Houellebecqs Soumission (Unterwerfung) von 2015, das keinerlei positive Alternative kommuniziert und lediglich dafür zu plädieren scheint, ein Abrutschen in den Staatsislamismus doch noch einmal zu überdenken.

Andere dystopische Gegenwartskritiken dagegen sind so fundamental, dass sie keinen Zweifel an den profunden Defiziten der Gegenwart zulassen – und daran, dass sie grundlegend transformiert werden muss. Beispielhaft hierfür stehen die Arbeiten Octavia Butlers, insbesondere der Roman Parable of the Sower (1993), in dem aus einer US-amerikanischen Trümmerlandschaft heraus Keime neuer Gemeinschaftlichkeit entstehen.

Derzeit wird häufig gesagt, die Gegenwart selbst trage dystopische Züge oder übertreffe sogar herkömmliche dystopische Fantasien. Das ist für das utopische Potenzial von Dystopien aufschlussreich. Beispielsweise werden mit der Coronakrise pandemische Horrorszenarien wahr. Corona hat zwar bislang weniger Todesopfer gefordert als Pandemien in Filmen wie Contagion, Outbreak oder I am Legend, aber dafür bereits aus Hollywood-Perspektive unfassbare zweieinhalb Jahre überdauert.

Oder die Digitalisierungs- und Überwachungsintensität durch Konzerne wie Amazon und Meta. Wie auch theokratisch-faschistische Tendenzen, die in die US-Politik eingezogen sind – und Szenarien wie Philip Roths The Plot Against America (2004) oder Atwoods Handmaid’s Tale mehr als greifbar erscheinen lässt.

Paradoxerweise scheint das dystopische Potenzial von Dystopien ausgeschöpft: Die Gegenwart ist in ihrem Worst-Case-Charakter erfinderischer als die kreativsten warnenden Dystopie-Autor*innen. Vor dem Hintergrund überraschend erschreckender Realitäten verlieren entsprechende Szenarien das intendierte Schreckenspotenzial.

Umso klarer tritt gegenwärtig aber ihr utopisches Potenzial hervor: Die dargestellte schlechtestmögliche Welt ist – anders als die chaotische, kaum eindeutig interpretierbare Realität – sinnstiftend, indem sie klar nahelegt, welche Ordnung das Gegenteil der besten Ordnung ist – und damit letztere am Horizont der politischen Vorstellung aufscheinen lässt. Auch in einer aktuell als besonders fehlentwickelt wahrgenommenen Gegenwart ist also kaum damit zu rechnen, dass die Beliebtheit dystopischen Erzählens abnimmt – genau aufgrund dessen utopisch fundierter, sinnstiftender Kritik.

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