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Verfügen wir über die kulturellen Ressourcen zur Bewältigung der ökologischen Krise? Das rechte Maß finden

Die Corona-Krise ist noch nicht vorbei. Manches spricht sogar dafür, dass wir in den vor uns liegenden Wintermonaten mit noch mehr Infektionen, mit noch mehr schwer Erkrankten und Toten rechnen müssen. Also werden wir uns vorerst weiter zusammenreißen, werden Einschränkungen hinnehmen und Vorsicht walten lassen müssen. Aber irgendwann, vielleicht im Frühjahr, vielleicht im kommenden Sommer, wenn ein Impfstoff für alle zur Verfügung steht, wird die Pandemie besiegt sein. Und dann? Wird dann »das Leben, wie wir es kannten«, zurückkehren, wie die Bundeskanzlerin kürzlich versprach? Werden wir dann wieder leben und wirtschaften wie zuvor, hohe Wachstums- und Exportraten bejubeln, unbeschwert unserer Kauf- und Reiselust frönen, ohne über die ökologischen und sozialen Folgen nachzudenken?

Ich hoffe, nicht. Denn die ökologische Krise hat sich keineswegs erledigt, nur weil für ein paar Monate eine gefährliche Pandemie die Berichterstattung in den Medien beherrscht. Im Gegenteil: Die Erderwärmung schreitet ungebremst voran, ebenso der Artenschwund, die Verseuchung der Meere, das Sterben der Wälder und die Ausbreitung arider Zonen. Wenn es nach Berechnungen des Weltklimarates IPCC ginge, müssten wir die Netto-Emissionen von CO2 in den nächsten drei Jahrzehnten weltweit auf Null absenken, um die Erderwärmung sicher unter zwei Grad zu halten und dramatische Konsequenzen noch abwenden zu können.

Angesichts solch düsterer Prognosen ist es kein Wunder, dass heute von der optimistischen Grundstimmung, die für kurze Zeit während der Jahrtausendwende herrschte, nicht mehr viel übrig geblieben ist. Bei aller aufgesetzten Umtriebigkeit fürchten auch sonst nicht besonders ängstliche Menschen, dass uns jetzt die Rechnung präsentiert werden könnte für die fahrlässige Zerstörung der Biosphäre, für die achtlose Verschwendung des über viele Jahrmillionen angesammelten Naturkapitals, für die Missachtung der Lebensinteressen der Mehrheit der Weltbevölkerung, für die leichtfertige Überschreitung von Grenzen des Verantwortbaren. Müssen wir nun, fragen sich viele, bezahlen für das, was wir in unserer Hybris, in unserer Maßlosigkeit und in unserem Machtrausch angerichtet haben?

Die Hellsicht des verdunkelten Gemüts, das alte Kassandramotiv, hat schon im 20. Jahrhundert den aufklärerischen Optimismus des 18. und 19. Jahrhunderts eingetrübt, die zahlreichen von einem optimistischen Geschichtsbild getragenen utopischen Zukunftsentwürfe wurden weitgehend durch Dystopien wie Jewgenij Samjatins Wir, Aldous Huxleys Schöne neue Welt und George Orwells 1984 verdrängt. Filme, die den Weltuntergang zum Thema machen, wurden in größerer Zahl zuerst in den 50er Jahren in Hollywood gedreht, damals zumeist unter dem Eindruck des atomaren Wettrüstens und des Ost-West-Konflikts. Seit einiger Zeit sind es neben Fantasien über die Invasion der Erde durch Außerirdische und Schreckensbildern eines weltweiten atomaren Krieges oft ökologische Katastrophen, die zu apokalyptischen Szenarien ausgemalt werden, so zum Beispiel in Cormac McCarthys Roman Die Straße, der im Jahr 2009 verfilmt wurde, oder in Roland Emmerichs Horrorfilm The Day After Tomorrow von 2004. Neuerdings werden die meisten literarischen Dystopien in einer postapokalyptischen Szenerie angesiedelt, so z. B. bei Reinhard Jirgl in Nichts von euch auf Erden (2012), bei Heinz Helle in Eigentlich müssten wir tanzen (2015) und bei Thomas von Steinäcker in Die Verteidigung des Paradieses (2016).

Auch wenn die allermeisten Menschen, die solche Bücher lesen und sich solche Filme anschauen, auch weiterhin ihr normales Leben führen, sich jedenfalls nicht zu einer radikalen Umkehr aufgerufen fühlen oder in tiefe Melancholie versinken, scheint es doch nicht ganz falsch zu sein, in der auffällig großen Zahl von Weltuntergangsdramen einen Ausdruck der tiefen Krise unseres westlichen Wirtschafts- und Lebensmodells zu sehen. Ob diese Krise auf der Basis und mit den Mitteln eben jener instrumentellen Vernunft zu lösen ist, die unserem Wirtschaftsmodell und unseren technischen Systemen zugrunde liegt oder ob wir uns von der westlichen Rationalität abwenden und uns anderen Denktraditionen zuwenden sollten, ist umstritten.

Die bange Frage, die heute viele kritische Köpfe beschäftigt, lautet: Wie können wir verhindern, dass die Selbstermächtigung des Menschen, die nach einem Vorlauf in der griechischen Antike zuerst in der Renaissance wortstark und bildkräftig hervortritt und sich über Humanismus und Aufklärung bis in unsere Gegenwart hinein als eine grandiose Geschichte der Emanzipation darstellt, umschlägt in eine gefährliche Überhebung und idealistische Verstiegenheit und schließlich gar in der Zerstörung des menschlichen Oikos mündet, wie es der verstorbene Psychoanalytiker und -therapeut Horst Eberhard Richter schon vor Jahren in seinem Buch Der Gotteskomplex dargelegt hat.

Der kapitalistische Wachstumszwang ist das Grundübel

Mittlerweile besteht zumindest in Europa unter ernst zu nehmenden Politikern und Wissenschaftlern Einigkeit darüber, dass ein schlichtes Weiter-so angesichts der schnell wachsenden ökologischen Probleme nicht möglich ist. In der Coronakrise haben zudem viele Menschen erfahren, dass, wenn es hart auf hart kommt, Gesundheit wichtiger ist als das störungsfreie Funktionieren der Wirtschaft. Und dennoch, das Grundübel, der kapitalistische Wachstumszwang, institutionalisiert durch die Regeln des finanzmarktgetriebenen Weltmarkts, wird zumeist nicht infrage gestellt. In der Tat scheint es heute den meisten Zeitgenossen leichter zu fallen, »sich das Ende der Welt auszumalen, als das Ende des Kapitalismus zu denken«, wie Donatella Di Cesare schreibt. Auch jetzt in der Corona-Krise bestehen die meisten Ökonomen und Politiker darauf, die alte Normalität von kapitalistischer Akkumulation und konsumistischer Verschwendung mit Milliarden an Subventionen wieder herzustellen, und beteuern, dass nur auf der Basis einer solchermaßen boomenden Wirtschaft die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Lebensbasis abgewendet werden könne. Noch immer haben sie nicht begriffen, dass menschliches Leben auf diesem Planeten auf Dauer nur möglich ist, wenn wir uns aus der Steigerungslogik unserer kapitalistischen Marktwirtschaft befreien und unsere Zivilisation den natürlichen Kreisläufen anpassen.

Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen lautet der Titel eines knappen Essays, den der amerikanische Autor Jonathan Franzen kürzlich veröffentlichte. Franzen, als Autor ein durchaus nüchterner Realist in aufklärerischer Tradition, glaubt inzwischen nicht mehr daran, dass die Klimakatastrophe noch abgewendet werden könnte. Er ruft dazu auf, sich auf die unvermeidliche Katastrophe einzustellen und »besonnen und menschenwürdig« damit umzugehen. Statt unsere Energie in einer längst verlorenen Schlacht zu vergeuden, so Franzen, sollten wir versuchen zu retten, »was uns ganz speziell am Herzen liegt – eine Gemeinschaft, eine Institution, ein Stück Natur« – , um auf diese Weise aus kleinen Erfolgen Kraft für später vielleicht einmal mögliche größere Aufgaben zu schöpfen.

Was da so alles in unserer Gesellschaft und in anderen Teilen der Welt schon heute an wichtigen sozialen Experimenten passiert und womöglich als Keim eines neuen Produktions- und Sozialmodells fruchtbar werden könnte, hat Julia Fritzsche in ihrem Buch Tiefrot und radikal bunt anschaulich zusammengestellt. Aber auch sie scheint an das, was wir gemeinhin Politik nennen, das mühsame Ringen um Kompromisse und Mehrheiten, mit denen Reformprojekte auf staatlicher Ebene, auf der Ebene der EU oder der Vereinten Nationen auf den Weg gebracht werden müssen, nicht mehr recht zu glauben. Wie Franzen setzt auch sie vorwiegend, wenn auch vielleicht nicht ausschließlich, auf das, was in konkreten Initiativen kleiner Gemeinschaften an der Basis der Gesellschaft geschehen kann und tatsächlich auch an vielen Stellen geschieht.

Keine Wende ohne staatliche oder überstaatliche Politik

Beide, Franzen und Fritzsche, sind keine Pessimisten, schon lange keine Apokalyptiker, sie haben nur, der eine deutlicher als die andere, den Glauben daran verloren, dass der demokratische Staat und seine Institutionen imstande sind, das Notwendige zu tun und wirkliche Veränderungen einzuleiten. Stattdessen setzen sie ganz oder vordringlich auf selbstorganisierte Initiativen an der Basis der Bevölkerung. Dabei scheinen sie allerdings zu übersehen, dass die vielen begrüßenswerten Basisinitiativen ohne politische Flankierung, ohne rechtliche Absicherung ihrer Erfolge, ohne die Bündelung und Verstetigung ihrer vielen Impulse durch staatliche und überstaatliche Politik die angestrebte ökologische Wende niemals bewerkstelligen können.

Wenn wir in der Coronakrise etwas gelernt haben, dann, dass es in erster Linie der Staat und die öffentlichen Institutionen sind, die in einer ernsten Bedrohungslage wirksame Hilfe leisten können, und dass die Politik sich sehr wohl gegen die geballten Interessen der Wirtschaft durchsetzen kann, wenn dies zur Abwehr von Gefahren notwendig erscheint. Die von der Automobilindustrie vehement geforderte Abwrackprämie für Benziner und Diesel-Autos fand im Bundestag zum Beispiel keine Mehrheit. Diese Erfahrung sollten wir nicht vergessen, sie kann uns helfen, wenn wir endlich entschlossen daran gehen, die Klimakatastrophe und die Zerstörung unserer ökologischen Lebensbasis doch noch zu verhindern.

Bei allem bewundernswerten Optimismus von Basisaktivisten und Kampagnenprofis sollten wir realistisch bleiben. Ohne die Schaffung eines rechtlichen Rahmens, der umweltschonendes Verhalten belohnt und zerstörerisches ahndet, ohne die öffentliche Förderung technischer Innovationen und Infrastrukturen der Nachhaltigkeit, wird es nicht gehen. Und dazu braucht es die politische Gestaltungskraft demokratischer Institutionen. Nur wenn die staatlich organisierte Daseinsvorsorge verbessert wird und alle Bürger gleichermaßen Zugang zu den für ihr Wohlbefinden und ihre Sicherheit so wichtigen öffentlichen Gütern haben, können wir hoffen, dass die Mehrheit der Menschen ihr zerstörerisches Konsumverhalten ändert. Nur wenn starke Gewerkschaften zusammen mit der Politik dafür sorgen, dass in Zukunft die gewaltigen Produktivitätsfortschritte im Zuge von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz vor allem zur Verkürzung der Arbeitszeiten genutzt werden, wird Basisdemokratie, wird Selbermachen, Reparieren statt Wegwerfen, wird kreatives »Nichtstun« auch für normal arbeitende Menschen eine realistische Möglichkeit. Und selbst wenn man, wie neuerdings auch Tim Leberecht, der Meinung wäre, ein allgemeines und bedingungsloses Grundeinkommen sei hervorragend geeignet, um Menschen für die kommenden großen Aufgaben zu mobilisieren, wären hier doch zu allererst wieder Politik und Staat gefragt.

Das rechte Maß zwischen Mangel und Übertreibung

Suffizienz ist das Skandalwort, das, wenn es um die Abwendung der ökologischen Katastrophe geht, selbst bei vielen Grünen hektische Abwehrreaktionen auslöst. Auch sie sprechen lieber von »grünem Wachstum« und meinen damit, dass bei allem, was wir zur Bewahrung der Ökosphäre tun, die kapitalistische Steigerungslogik unangetastet bleiben solle. Sie fürchten sonst als Miesmacher oder als Gegner unserer angeblich freien, in Wirklichkeit aber von einer weitgehend unkontrollierten Kapitalmacht gelenkten Marktwirtschaft dazustehen. Aber Suffizienz hat nichts mit verordnetem Mangel, nichts mit sauertöpfischem Verzicht zu tun. Es ist der Gedanke, der in der griechischen Antike Mesotes hieß und das rechte Maß zwischen Mangel und Übertreibung bezeichnete. Die Forderung nach Suffizienz entspringt heute der Einsicht, dass der Zwang, immer mehr zu produzieren und immer mehr zu konsumieren, der gerade Weg nicht nur in eine ökologische, sondern auch in eine menschliche Katastrophe ist. Suffizienz ist ein Gebot der Klugheit, ist, recht betrachtet, auch eine wichtige Voraussetzung für Glück und Zufriedenheit, wie die lange Tradition des Nachdenkens über die Lebenskunst von der Stoa bis zu Michel Foucault und Jochen Dallmer uns lehrt. Wenn wir unsere Systeme von Produktion und Konsum am Gebot der Nachhaltigkeit ausrichten wollen, wenn wir wirklich glücklich und zufrieden leben wollen, kommen wir um Suffizienz nicht herum.

Freilich sind Ermahnungen, das rechte Maß einzuhalten, wenn sie von Bessergestellten, die selbst jede Gelegenheit der persönlichen Bereicherung nutzen, an die Mühseligen und Beladenen gerichtet werden, wie dies zum Beispiel in Tarifauseinandersetzungen regelmäßig passiert, nicht überzeugend. Darum ist es so wichtig, dass alle, die Suffizienz für eine wirksame Strategie gegen die Zerstörung der Biosphäre halten, zugleich für mehr rechtliche und materielle Gleichheit eintreten – im eigenen Land und im internationalen Maßstab. Es ist sicher nützlich, wenn in Basisinitiativen, in Entwicklungsprojekten, in alternativen Siedlungsgemeinschaften und kleinen Start-ups Gleichheit vorgelebt wird, aber ein wirklicher und nachhaltiger Fortschritt wird auch in dieser Frage nicht gelingen, wenn auf »große« Politik und verbindliche rechtliche Regelungen verzichtet wird.

Pessimismus bezüglich der Leistungsfähigkeit unserer Demokratie mag zwar in mancher Hinsicht verständlich sein, aber wenn er dazu führt, dass die sich bietenden Chancen der Politik nicht energisch genutzt werden, kann er zu einer self-fulfilling prophecy werden. Nur wenn die institutionelle Politik auf allen Ebenen, von der Gemeinde bis hinauf zur EU und zur UNO, und das vielfältige zivilgesellschaftliche Engagement zusammenwirken, wenn sich die Akteure auf beiden Seiten der avanciertesten Leistungen von Wissenschaft und Technik bedienen, kann die anstehende Aufgabe der großen Transformation bewältigt werden.

Jochen Dallmer: Glück und Nachhaltigkeit. Subjektives Wohlbefinden als Leitmotiv für nachhaltige Entwicklung. transcript, Bielefeld 2020, 365 S., 39 €. – Donatella Di Cesare: Von der politischen Berufung der Philosophie. Matthes & Seitz, Berlin 2020, 175 S., 22 €. – Jonathan Franzen: Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen. Rowohlt, Hamburg 2020, 64 S., 8 €. – Julia Fritzsche: Tiefrot und radikal bunt. Für eine neue linke Erzählung. Edition Nautilus, Hamburg 2019, 192 S., 16 €.

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