Das Amt des Vorsitzenden der SPD umweht seit August Bebel ein besonderer Nimbus. Als der »Kaiser der Arbeiter« starb, hinterließ er eine goldene Taschenuhr, die erst zu dessen 50. Todesjahr wieder auftauchte. Der informelle Generalsekretär der SPD, Herbert Wehner, überreichte sie dem Vorsitzenden Willy Brandt auf einer Parteikonferenz im Dezember 1966 in Bad Godesberg mit den Worten, sie sei »bei niemandem in besseren Händen als in deinen Händen«. Seitdem geht die Legende, die Uhr wäre von Vorsitzendem zu Vorsitzendem weitergereicht worden und irgendwann verloren gegangen. Doch tatsächlich liegt sie im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
In ihrer langen Geschichte zählt die SPD zahlreiche Vorsitzende. Von ihnen wurde sie autoritär geführt (Ferdinand Lassalle, Kurt Schumacher, Andrea Nahles), charismatisch (Bebel, Brandt), kollegial (Hermann Müller/Otto Wels/Arthur Crispien/Hans Vogel oder Brandt/Fritz Erler/Wehner), präsidial (Erich Ollenhauer), bürokratisch (Friedrich Ebert, Hans-Jochen Vogel, Franz Müntefering), prätentiös (Rudolf Scharping), suggestiv (Oskar Lafontaine), diskursiv (Björn Engholm, Matthias Platzeck), medial (Gerhard Schröder), volkstümlich (Kurt Beck), zaudernd (Sigmar Gabriel) oder interimistisch (Johannes Rau, Martin Schulz). Jeder Vorsitzende – und die eine Vorsitzende – brachte Ehrgeiz auf und Erfahrung mit, besaß fachliche Kompetenzen, Urteilsvermögen und rhetorische Fähigkeiten. Doch sie waren – wie alle Begabungen – unterschiedlich verteilt. Bisweilen changierte der Führungsstil ein und desselben Amtsträgers im Laufe der Zeit. So wurde die SPD von Willy Brandt zunächst kollegial, dann charismatisch, schließlich präsidial geführt. Schon daran lässt sich ablesen, dass der jeweilige Führungsstil niemals allein von den persönlichen Eigenschaften der Amtsinhaber abhing, sondern mindestens so sehr von anderen mächtigen Akteuren in der Bundestagsfraktion oder den Ländern, vom institutionellen Führungsarrangement (z. B. Doppelspitze oder Einzelspitze, Partei- und Fraktionsvorsitz oder Parteivorsitz und (Vize-)Kanzleramt in Personalunion) und nicht zuletzt von der konkreten Gestalt der Partei in ihrem historisch-politischen Umfeld. Führung gibt es nur im Kontext.
Die SPD hat in ihrer Geschichte viele Häutungen durchgemacht. Sie war politische Gemeinde, soziale Bewegung und Gegenorganisation, Klassen-, Weltanschauungs-, Milieu-, Funktionär- oder Staatspartei. Sie selbst betrachtete sich seit den 70er Jahren als lebendige »linke Volkspartei« (Heinz Kühn) während der Bundesgeschäftsführer Peter Glotz ihre Beweglichkeit schon bald mit der eines schwer manövrierbaren Tankers verglich.
Die Mitgliedschaft, die politische Öffentlichkeit und die Medien zumal, schauen dagegen gern nur »nach oben«, auf den oder die Parteivorsitzenden. Besonders in Krisenzeiten fordern sie eine energische und kluge politische Führung, die die Dinge wendet. Dies erweist sich dann als kurzsichtig, wenn strukturelle Faktoren oder spezifische institutionelle Führungsarrangements übersehen werden. Demokratische Parteien verleihen ihrer Führung eben nicht nur Handlungsvollmachten, sie hegen diese auch ein. Um genau diese Zusammenhänge geht es aber, wenn politische Führung gelingen soll. Doch die SPD hat, um klärenden Konflikten aus dem Weg zu gehen, immer wieder zu neuen »Balkonlösungen« gegriffen, die ein intransparentes und schwerfällig ausgeglichenes System aus Sonderinteressen, Platzhaltern und Proporzen hervorgebracht haben, welches politische Verantwortlichkeiten geradezu unkenntlich macht. Ein Blick in das Organisationsstatut belegt dies. Während die Partei früher rein repräsentativ aufgebaut war, finden sich dort komplizierte repräsentative Grundzüge (neben den Parteitag traten ein Parteikonvent und ein Länderrat), immer mehr teilweise fakultative plebiszitäre Elemente (Mitgliederbegehren und -entscheid, Mitgliederbefragung und ‑votum, Urwahl des Kanzlerkandidaten) oder neue Expertengremien (ein Kommunalbeirat mit Rede- und Antragsrecht auf Bundesparteitagen). Die Zahl der Arbeitsgemeinschaften wurde vermehrt und deren Ausrichtung verwässert. So gibt es zusätzlich zu zielgruppenorientierten oder fachlich orientierten Arbeitsgemeinschaften neue Mischtypen. Daneben sollen Online-Themenforen mit Antragsrecht etabliert werden, die ebenfalls beratende Parteitagsdelegierte benennen können. Angeblich kennen Partizipationsprozesse nur Gewinner, tatsächlich gibt es aber auch Verlierer. Sie befinden sich paradoxerweise »oben« und »unten«: die Spitze und die Basis, das Präsidium und die Ortsvereine. Gewachsen ist dagegen das Gewicht der Bundestagsfraktion und der Regierungsflügel. Organisation ist eben auch Politik.
Das Organisationsstatut der SPD dokumentiert eine Segmentierung unterschiedlicher Kräftezentren und ist eine innere Verfassung ohne klare Ordnung und Entscheidung. Diese – mit Peter Lösche gesprochen – »lose verkoppelte Anarchie« produziert permanent Zwischenstände, so dass die Partei zunehmend disparat erscheint.
Ein solcherart zerklüftetes Gefüge lädt zur Selbstbeschäftigung ein. So werden Mehrheiten ständig allein in der Organisation selbst gesucht, aber nicht mehr in der Gesellschaft. Die Kraft fließt nach innen, nicht nach außen, was wiederum den stationären Charakter sozialdemokratischer Politik bewirkt. Im ungünstigsten Fall resultiert hieraus eine vertikale und horizontale Zergliederung, die Los- und Ablösungstendenzen begünstigt.
Die Führungskrise der SPD mag sich in den zahlreichen Wechseln an der Führungsspitze manifestieren, doch diese sind nur ihr Ausdruck, die Ursachen liegen tiefer. Selbst die beste Frau oder der beste »Mann mit Bebels Taschenuhr« (Günter Grass) steht vor einem Dilemma. Die gesamte Führungsstruktur ist in einen geradezu dialektischen Widerspruch geraten zwischen bunter Vielfalt und der Sehnsucht der Mitgliedschaft nach klarer Orientierung und stabiler Führung. Die Auflösung dieses Widerspruchs kann nicht in der Wahl eines oder zweier Parteivorsitzender liegen, weil sie das Governance-Problem der SPD nicht auflöst. Das Geheimnis der viel zitierten Forderung nach einer Erneuerung liegt in ihrer inneren Neuordnung, die eine politikfähige innere Verfassung mit einem adäquaten Führungskonzept in Einklang bringt. Ihr Inhalt besteht in der Stärkung der innerparteilichen Willensbildung von unten nach oben und von oben nach unten, damit politische Verantwortung wieder kenntlich wird.
Mit der Bestimmung einer modernen Governance-Struktur und eines plausiblen Führungskonzeptes ist unweigerlich die Frage verknüpft, was für eine Partei die SPD heute ist und welche sie in Zukunft sein will. Realistisch betrachtet kann sie den Anspruch Volkspartei zu sein nur noch in einigen größeren nord-westdeutschen Regionen und wenigen kleineren ostdeutschen Regionen aufrechterhalten. In anderen, wählerstarken Regionen ist sie auf den Status einer Mandatsträgerpartei gesunken, die minoritäre Gruppen von Idealisten anzieht. Fast überall (Ausnahmen bestätigen die Regel) ist sie eine Partei ohne klaren politischen Führungsanspruch – sei es als kleinerer Partner in einer Koalitionsregierung oder in der Opposition. Die SPD kann versuchen, entweder die Fiktion der linken Volkspartei aufrechtzuerhalten oder wieder linke Volkspartei zu werden. Auch hier würde eine Grundsatzentscheidung weitere umstrittene Entscheidungen nach sich ziehen. Denn eine Entscheidung, die Präsenz in der Fläche zu stärken, verlangt eine Umschichtung von finanziellen und personellen Ressourcen. Sie muss oben schlanker und unten breiter werden. Und sie muss überall ihre Energien weniger in die innere Verwaltungstätigkeit stecken als vielmehr in die gesellschaftliche Gestaltungsfähigkeit.
Schließlich wäre es verkürzt zu meinen, die politische Resonanz für sozialdemokratische Politik ließe sich dadurch wesentlich verbessern, indem die richtigen Themen gesetzt und durch ein einheitliches Auftreten gepusht werden. Denn in der Fremdwahrnehmung gibt die Partei seit Jahren ein widersprüchliches Bild ab. Sie wird von den Bürgern einerseits als zerstritten wahrgenommen, andererseits erschreckt sie diese durch ihr temporär uniformes Auftreten. So erscheint sie als unglaubwürdig und taktisch. Statt Themen-Hopping ist Diskurs-Fähigkeit gefragt.
Das äußere Ziel liegt darin, ein Führungskonzept zu entwickeln, das es der SPD ermöglicht, mit politischen Initiativen hervorzutreten, die gesellschaftliche Relevanz erlangen, um längerfristig wieder eine Position diskursiver Hegemonie zu erlangen. Welche Form von Führung braucht die SPD dafür? Sie braucht eine sowohl transformative wie diskursive Führung. Transformative Führung meint (in Anlehnung an den britischen Historiker und Politologen Archie Brown) eine politische Führung, die die Auseinandersetzung um eine systematische Neuordnung der Partei aufnimmt und ein neues Governance-Modell einführt. Diskursive Führung meint eine politische Führung, die mit klugen Argumenten und langem Atem Überzeugungsarbeit leistet, aus denen Mehrheiten entstehen. Bebels goldene Taschenuhr kann dann endlich wieder weitergereicht werden.
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