Menü

© picture alliance / imageBROKER | Lothar Steiner

Wie es mit Ostdeutschland weitergehen kann Das Staatsproblem

Mit der maßgeblich von ostdeutschen Wahlerfolgen getriebenen Etablierung der AfD in unserem Parteiensystem und der durch die im Osten besonders heftigen Proteste und Impfwiderstände erschwerten Bewältigung der Coronakrise hat sich Ostdeutschland nachhaltiger und destruktiver in die Realität der »Berliner Republik« eingeschrieben, als man sich es jemals hätte vorstellen können. Ostdeutschland fühlt sich wie eine Gegenwart an, die nicht vergehen will.

Doch seit 1990 hat keine Bundesregierung die staatspolitische Tragweite, die systemische Herausforderung und den gesamtgesellschaftlichen Preis dieser Entwicklung hinreichend klar erkannt, geschweige denn angemessen adressiert. Im ewigen Gezänk um den »Stand der inneren Einheit«, die »Angleichung der Lebensverhältnisse« und die »Anerkennung von Lebensleistung« sind die Prämissen, Konfliktlinien, Rederituale und Argumentationsschleifen mehr als drei Jahrzehnte nach der Vereinigung eingefahren und unterkomplex – und nicht zuletzt unendlich ermüdend.

Ein Ausweg aus dieser eben nicht nur ost-, sondern gesamtdeutschen Sackgasse kann nur über einen fundierten Rückblick in die um 1989 verhandelte demokratische Zukunft, eine entsprechend besser informierte Bestandsaufnahme der hochkomplexen und konfliktreichen Gegenwart und einen fantasievolleren Umgang mit den Perspektiven der bundesrepublikanischen Demokratie gelingen.

Dafür ist ein Umdenken auf zwei Ebenen nötig: Zum einen braucht es einen Anerkennungsdiskurs ohne Fixierung auf materielle Aspekte und ohne kollektivpsychologischen Beruhigungsduktus, der unterstellt, dass, wenn man »die Lebensleistung der Leute im Osten« nur laut und oft genug beschwört, diese irgendwann schon auch mental ihren Platz in der erweiterten Republik finden würden.

Stattdessen sollte die Frage der Anerkennung als systemrelevante Gerechtigkeitsfrage neu gedacht und verhandelt werden. Zum anderen brauchen wir einen differenzierteren Umgang mit den historischen Voraussetzungen der heutigen Lage. Dieser muss mit der Einsicht beginnen, dass viele Ostdeutsche – so fragwürdig die Formulierung von Marco Wanderwitz bleibt – nicht nur auf vielfältige Weise »diktatursozialisiert« wurden, sondern auch und auf mindestens ebenso vielfältige Weise demokratieerfahren sind.

Anerkennung neu denken

In der Tatsache, dass seit einiger Zeit immer intensiver um die Partizipationschancen von Gruppen gerungen wird, die nicht umstandslos als Teil der sogenannten Mehrheitsgesellschaft gelten, liegt auch für die vermaledeite Diskussion um (anhaltende) Divergenzen in der politischen Kultur Ost- und Westdeutschlands eine große Chance. Versteht man mit Nancy Fraser Anerkennung als »eine Angelegenheit der Gerechtigkeit«, als ein Problem der historisch gewachsenen und damit institutionell verfestigten »statusmäßigen Benachteiligung«, so lassen sich nicht nur die Debattenmuster und üblichen Rollenverteilungen im Ost-West-Diskurs aufbrechen, sondern weit über diesen engeren Zusammenhang hinaus Wege und Perspektiven aus der aktuellen Krise der liberalen Demokratie finden.

Denn nur, wenn demokratische Gesellschaften ein Bewusstsein ihres Gewordenseins, ihrer Zeitlichkeit und damit ihrer fundamentalen Fragilität entwickeln, können sie sich in ausreichendem (d. h. vorausschauendem) Maße gegen diese Fragilität wappnen, und zwar ohne im Krisenmodus sukzessive ihre demokratischen Kernprinzipien preiszugeben.

Damit das ostdeutsche Staatsproblem adressiert werden kann, braucht es weder weitere Appelle noch Ermahnungen noch wechselseitige (An-)Klagen, Ermunterungsprosa oder Nichteinmischungsproteste. Vielmehr braucht es einen beiderseitig historisch sensiblen und interessierten gesellschaftlichen Verständigungsprozess, für den es zwar in der Zivilgesellschaft, der Kunst oder Wissenschaft bereits eine Vielzahl von Räumen gibt, für den aber strukturell seitens des Staates und der Politik – sprich: staatspolitisch – bislang zu wenig getan wurde.

Dafür gibt es einen entscheidenden Grund: Es fehlt an der Einsicht, dass »die Ostdeutschen« (nicht so pauschalisierend gemeint, wie es klingt) als große, aber zugleich spezifisch geprägte Bevölkerungsgruppe in der Summe nach wie vor keine gleichrangigen Mitwirkungschancen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft haben. Nicht, weil sie dazu nicht in der Lage wären oder weil man sie als »Bürger zweiter Klasse« bewusst ausschließt, sondern weil sie Teil eines Gemeinwesens geworden sind, an dessen – im Großen und Ganzen gut funktionierenden – Grundlagen und Verfahrensweisen sie schöpferisch, gestalterisch und damit prägend kaum beteiligt waren.

Sie haben – abstrakt besehen und nochmals in den Worten Nancy Frasers – nicht den »Status eines vollwertigen Partners in der sozialen Interaktion (..), und das nur infolge bestimmter institutionalisierter Muster kultureller Wertsetzung, an deren Zustandekommen sie nicht gleichberechtigt beteiligt waren und die ihre besonderen Merkmale oder die ihnen zugeschriebenen Eigenarten verächtlich machen.« Sie waren daran nicht beteiligt, weil sie in der Gründungsgeschichte der bunderepublikanischen Ordnung keine Rolle spielen konnten und – das gehört ebenfalls zur historischen Wahrheit – nach 1989 mehrheitlich für die Übernahme statt für die Neuverhandlung dieser Ordnung votierten und folglich ihre eigensinnigen demokratischen Vorstellungen im vereinten Deutschland kaum je relevant waren.

Freilich haben Ostdeutsche seit 1990 im politischen Prozess vielfältige und gar bis ins Bundeskanzler- und Bundespräsidialamt reichende Rollen gespielt; einzig und gerade im staatspolitischen Bereich sind Ostdeutsche, den Forschungen Raj Kollmorgens zufolge, seit 1990 sogar überrepräsentiert. Dies widerspricht mitnichten dem Befund einer partnerschaftlichen Benachteiligung, sondern bestätigt deren Tiefenwirkung als Problem sozusagen auf der Durchschnittsbürgerebene.

Und natürlich sind die Zeiten der offenen »Ossi«-Verachtung vorbei; vielmehr ist mit der Verächtlichmachung des Eigenartigen die mangelnde institutionelle und strukturelle Verankerung spezifisch ostdeutscher (aber keineswegs homogener) Gemeinwohl-, Politik- und Demokratievorstellungen gemeint. Nur wenn diese Vorstellungen eine angemessene Berücksichtigung finden, nur wenn sich die heute gelebte Demokratie als gesprächsfähig und gestaltungsoffen für die »Wertsetzungen« und tatsächlichen oder auch nur »zugeschriebenen Eigenarten« der Ostdeutschen erweist – und im Übrigen auch aller anderen gesellschaftlichen Gruppen, die an der inneren Gründungsgeschichte der Republik, aus welchen Gründen auch immer, nur einen begrenzten oder gar keinen Anteil hatten –, wird sich die brisante Lage in Ostdeutschland auf lange Sicht entschärfen und die dort bislang zu kleine Mehrheit der Demokratiezuversichtlichen nachhaltig stärken lassen.

Um nicht missverstanden zu werden: Dieser Befund ist nicht das Resultat eines irgendwie geplanten systematischen Ausschließungsprozesses, sondern das systemische Ergebnis einer äußerst komplexen und nach menschlichem Maß nur teilweise vorherseh- und überschaubaren Vereinigungsgeschichte. Auch und gerade in Ostdeutschland sollte man sich dieser Einsicht ebenso stellen wie der Tatsache, dass die Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten in einer repräsentativen Demokratie stets größer sind (und auch 1990 schon waren), als viele wahrhaben wollen.

Eine größere wechselseitige Bereitschaft, die intendierten und nichtintendierten Folgen des eigenen Denkens und Tuns seit dem Umbruch anzuerkennen, wäre also ein Ausweg aus der vereinigungspolitischen Sackgasse und Voraussetzung für die Stärkung der Demokratie in Deutschland insgesamt. Damit würde man nämlich nicht zuletzt den vermeintlich »bürgerbewegten« »von-unten-nach-oben«-Kampagnen der Rechtspopulisten die Grundlage entziehen, die neben Nationalismus und Ausgrenzungspolitik auch mit vielerlei auf ostdeutsche »Eigenartigkeit« zugeschnittenen »volksdemokratischen« Integrations- und Repräsentationsversprechen hantieren.

Mehr Skepsis wagen

Dafür bedarf es einer zeithistorischen Neuvermessung und politischen Neubewertung der jüngsten deutschen Demokratie- bzw. Demokratisierungsgeschichte und eines anderen Umgangs mit dem sogenannten Erbe von SED-Diktatur und deutscher Teilung. So routiniert die »friedliche Revolution« als »Sternstunde« gefeiert wird, so wenig haben ihre vermeintlich leuchtenden Impulse in der bundesrepublikanischen Demokratie bislang Spuren hinterlassen – oder, wenn man die v. a. ostgebundene Etablierung der AfD demokratiegeschichtlich einordnen möchte, vor allem in tendenziell zerstörerischer Weise.

Es reicht bei Weitem nicht, die Folgen der »Diktatursozialisation« zu debattieren. Vielmehr sollte anerkannt werden, dass, so paradox es klingen mag, auch die DDR ein Teil der deutschen Demokratiegeschichte ist. Die SED propagierte und simulierte die »sozialistische Demokratie« mit unendlichem autoritärem Eifer und propagandistischem Aufwand. Weite Teile der Bevölkerung nahmen diesen Anspruch sehr lange ernst – und zerrieben sich zunehmend im tagtäglichen Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit. Die »Deutsche Demokratische Republik« trug die Demokratie im Namen, das Wort stand rund 90 Mal in deren Verfassung. Und als die Bürger begannen, sich wirklich darauf zu berufen, verlor die Partei innerhalb weniger Wochen ihre ganze Macht.

Auch und gerade weil dies also die Geschichte einer Scheindemokratie ist, sind die Ostdeutschen eben nicht nur »diktatursozialisiert«, sondern auch überaus demokratieerfahren – nicht zuletzt, weil sie sich 1989 selbst davon befreiten und für eine echte Demokratie entschieden. Hier gibt es für die zeithistorische Forschung noch viel zu tun; wir wissen noch viel zu wenig über die Genese und Wirkungsgeschichte der im Umbruch verhandelten, vor allem stark »von unten« gedachten, partizipatorischen Demokratievorstellungen, über spezifisch geformte Gemeinwohl-, Bürger(selbst)- und Politikverständnisse.

Darüber hinaus braucht es aber vor allem im politischen Diskurs mehr Interesse und Willen, diese spezifischen Demokratievorstellungen und -erfahrungen, gerade auch jene, die eine gewisse Distanz gegenüber dem bundesrepublikanischen Ist-Zustand signalisieren, als Potenzial zu erkennen und entsprechend einzubinden. Denn Distanz ist eben nicht gleich Ablehnung, Misstrauen nicht gleich Verweigerung, Zweifel nicht gleich Fundamentalkritik. Kurzum: Man sollte mehr Skepsis wagen!

In Sachen Anerkennung, verstanden als Weg hin zu »statusmäßiger Gleichrangigkeit«, wäre damit ein großer Schritt nach vorn getan. Doch damit nicht genug, denn es handelt sich hier ja wirklich um ein Staatsproblem. »Demokratie ist gerade auf die angewiesen, die an ihr zweifeln und von ihr überzeugt werden müssen«, hat Christoph Möllers jüngst in einem klug analogisierenden Essay über den Vernunftrepublikanismus von Thomas Mann geschrieben. Ein Neudenken der »Lage Ostdeutschlands« in diesem Sinne könnte sich die neue Bundesregierung durchaus auf die Fahnen schreiben, strebt sie doch laut Koalitionsvertrag eine »Politik der großen Wirkung« an.

Anstelle eines Fazits seien daher acht konkrete Ideen skizziert, mittels derer sich in die oft nur noch ratlos formulierte Frage »Wie weiter mit Ostdeutschland?« in gesamtgesellschaftlicher Sicht Bewegung bringen ließe:

Erstens: Der Bundeskanzler hält eine »Rede an die Ostdeutschen«, um Fehleinschätzungen und politische Verantwortlichkeiten auf Bundesebene für den schwierigen Übergang in die Marktwirtschaft klar zu benennen: Warum sollte das ausgerechnet ein Bundeskanzler Olaf Scholz tun? Zum einen kann er als Anwalt, der in den 90er Jahren ostdeutsche Betriebsräte beraten hat, ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit ausstrahlen; weiter vermag er am Beispiel der Deutschen Einheit auszubuchstabieren, dass Politik, gerade in Krisenzeiten, auf Lernen und Einsichtsfähigkeit beruht; und zuletzt besteht die Chance, mit konkreten Maßnahmen (s. u.) zu unterstreichen, dass die »Berliner Republik« von mehr als einem demokratischen Erbe lebt und leben möchte.

Zweitens: Der neue Staatsminister für die neuen Bundesländer im Bundeskanzleramt sollte eine erweiterte Aufgabenstellung bekommen: Er muss ressortübergreifend alle struktur- und demokratiepolitischen Maßnahmen auf Bundesebene systematisieren und vorantreiben; wichtig ist gerade in Bezug auf spezifisch ostdeutsche Handlungsfelder (Repräsentationsfragen, Eliteförderung, Sichtbarkeit) ein gesamtgesellschaftlicher Horizont über die klassischen Demokratieprojekte und Zuständigkeiten (zum Beispiel im Innen- und Familienressort) hinaus.

Drittens: Veranstaltung eines auf Initiative des Bürgerrats und des Bundestagspräsidiums aus zufällig gewählten Bürger*innen zusammengesetzten Bürgerkonvents im Deutschen Bundestag zum öffentlichen Austausch über die Grundlagen des demokratischen Zusammenlebens (gegebenenfalls themenspezifische Sitzungen etwa zu Bürgerbeteiligung in der Parteiendemokratie; Eigentums- und Gemeinwohlfragen; Verhältnis von sozialer Sicherheit und Freiheit).

Viertens: Wissenschaftliche und parlamentarische Aufarbeitung der Anstrengungen in der politischen Bildung auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene in Ostdeutschland seit 1989 (sowie deren Rückwirkungen auf die »altbundesrepublikanische« Bildungsarbeit) samt Handlungsempfehlungen für die künftige historisch-politische Bildung.

Fünftens: Das »Zukunftszentrum Europäische Transformation und Deutsche Einheit« sollte nicht in einer ostdeutschen Stadt, sondern mitten in Deutschland, z. B. im Bereich der Gedenkstätte Marienborn, errichtet werden. Als Forschungs- und Gedenkstätte zur Alltags- und Erfahrungsgeschichte der ostwestlichen Ko-Transformationsprozesse seit 1989/90 sollte das millionenteure Vorhaben für viel mehr stehen als für eine »Verbeugung vor der Lebensleistung der Ostdeutschen« (Matthias Platzeck).

Sechstens: Steuerliche Anreize für Unternehmen in Ostdeutschland, die die Mitbestimmungsmöglichkeiten und betrieblichen Organisationsfähigkeiten ihrer Beschäftigten aktiv fördern.

Siebtens: Schaffung eines überparteilichen Forums Kommunalpolitik beim Städte- und Gemeindetag unter der Schirmherrschaft des Bundesinnenministeriums zum regelmäßigen und öffentlichkeitswirksamen Austausch über die Bedingungen, Erfahrungen und Herausforderungen in der kommunalpolitischen Arbeit.

Achtens: Stärkung lokaler Vereine, Organisationen und zivilgesellschaftlicher Initiativen über Programme für »Demokratie vor Ort« im ganzen Land (z. B. im Rahmen des geplanten Demokratiefördergesetzes): Städte und Gemeinden erhalten unbürokratisch entsprechend ihrer Einwohnerzahl Mittel und Anreize zur Förderung demokratischer Partizipation und können bis zu einem gewissen Grade autonom über die Vergaberichtlinien und -verfahren entscheiden.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben