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© picture alliance | Ralph Peters

Stehen wir an der Schwelle zum autoritären Jahrhundert? Das süße Gift

Vor 25 Jahren veröffentlichte Ralf Dahrendorf in der Zeit einen Artikel unter der Überschrift »An der Schwelle zum autoritären Jahrhundert«, in dem er der Frage nachging, ob die fortschreitende Globalisierung unaufhaltsam zur Schwächung der Demokratie und zur Begünstigung autoritärer Herrschaft führen müsse. Als die wesentlichen Gründe für die Bejahung dieser These nannte er die folgenden: »Die Internationalisierung des Wirtschaftens hat Folgen, denen sich einzelne nicht ohne weiteres entziehen können. Menschen sind Objekte, nicht Subjekte von Prozessen, deren Subjekte möglicherweise überhaupt nicht als Personen identifiziert werden können. Die einzige Alternative, die aggressive Regionalisierung oder der Fundamentalismus (…), ist fast strukturnotwendig von Führungsstrukturen geprägt, die man nur als autoritär beschreiben kann.

Die Nebenwirkungen der Globalisierung schaffen Probleme, denen mit normalen demokratischen Methoden abzuhelfen schwierig ist. Schon die Erhaltung von Recht und Ordnung ruft beinahe unweigerlich autoritäre Maßnahmen auf den Plan.

Die zumindest teilweise auf der Globalisierung beruhenden Veränderungen in der Arbeitswelt führen zu einem Verlust an sozialer Kontrolle. Wachsende Tendenzen, diese durch Zwang (Arbeitsdienst) zu ersetzen, sind bereits unverkennbar.«

Dahrendorf unterschied zwischen drei Kapitalismusmodellen, nämlich dem »asiatischen« – heute würden wir eher sagen: dem »chinesischen« –, dem »angelsächsischen« und dem »rheinischen«, wobei er einräumte, dass dem asiatischen Modell des Kapitalismus ohne Demokratie und dem angelsächsischen der Demokratie ohne sozialstaatliche Absicherung von vielen heute mit guten Gründen größere Überlebenschancen eingeräumt würden als dem rheinischen, der Demokratie mit sozialpolitischem Unterbau verbindet.

Auf den ersten Blick, so Dahrendorf, sähe es in der Tat so aus, als ob sich in der globalisierten Welt überall ein deutlicher Trend zum Autoritarismus durchsetzen werde. Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen bemüht sich der Autor aber, deutlich zu machen, dass die Situation so hoffnungslos, wie auch die Überschrift seines Artikels suggeriert, dann doch nicht ist.

Er betont die Wichtigkeit einer legitimen öffentlichen Sphäre, die nicht direkt mit der anderer Länder und Regionen konkurriert, der öffentlichen Verwaltung und von Recht und Ordnung auch für die globalisierte Wirtschaft, von Sozialleistungen und Bildung und damit auch der Erhebung von Steuern als Bedingung für eine lebendige Demokratie.

Dahrendorf war eben nicht nur ein zuweilen kluger Analytiker, sondern auch ein Sozialliberaler des Typs, wie es ihn heute kaum noch gibt. Weil er die Gefahr für die Demokratie klar erkannte, die vom entfesselten Kapitalismus drohte, wandte er sich gegen den damals auch von vielen Sozialdemokraten betriebenen Ausverkauf der öffentlichen Sphäre, der Privatisierung der Verkehrsinfrastruktur, des Bildungs- und Gesundheitssektors und der kommunalen Grundversorgung und plädierte zugleich für eine offene Gesellschaft, die den weltweiten Austausch der Meinungen und Ideen nicht den Interessen der Reichen und Mächtigen unterordnet.

Zulauf für antidemokratische Bewegungen

Inzwischen ist die Welt aber schon wieder eine andere geworden. Die Sozialdemokraten haben in Deutschland und in Großbritannien angefangen, ihre fatalen Fehler aus der Blair- und Schröderzeit zu korrigieren, die EU hat sich trotz des Brexits als halbwegs glaubwürdige Bastion der Demokratie und der Sozialstaatlichkeit bewährt. Vom »Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts in der OECD-Welt«, wie es Dahrendorf 1993 in seinem Buch Die Chance der Krise verkündete, kann offenbar keine Rede sein.

Und dennoch blicken wir, was die weitere demokratische Entwicklung angeht, mit Besorgnis auf den Zulauf für antidemokratische Bewegungen auch in Europa selbst, vor allem aber in großen Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas und im früheren demokratischen Vorzeigeland, den USA. Zugleich versetzt uns der Krieg in der Ukraine und die nicht mehr zu übersehende Zerstörung unserer Lebensgrundlagen in Angst und Schrecken.

Es gibt mittlerweile eine stattliche Reihe von Büchern, die sich mit dem Phänomen des Autoritarismus in Geschichte und Gegenwart befassen. Dabei geht es den Autoren meist um die Analyse der Erfahrungen und Bewusstseinslagen jener Menschen, die sich heute von autoritären Konzepten angezogen fühlen, zuweilen auch, vor allem am Beispiel Chinas, um die im Zeitalter des Digitalismus wachsenden technischen Möglichkeiten staatlicher Kontrolle der Bürger und der Festigung autoritärer Herrschaft. Ich greife zwei kürzlich erschienene Bücher zu diesem Thema heraus: der von Günter Frankenberg und Wilhelm Heitmeyer herausgegebene Sammelband Treiber des Autoritären und das von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey veröffentlichte Buch Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus.

Frankenberg und Heitmeyer nennen in ihrem Vorwort als leitende Fragen: »Wer beziehungsweise welche Kräfte sind Treiber für autoritäre Entwicklungsschübe: Sind es soziale, ökonomische oder politische Krisen, die Kontrollinteressen des Finanzkapitals oder Defizite der Demokratie?« Auf die Zuspitzung krisenhafter Entwicklungen im Zusammenhang mit der COVID-Pandemie, der Klima- und Biodiversitätskrise und dem Angriffskrieg auf die Ukraine mit seinen vielfältigen Folgen gehen beide Bücher nur ausnahmsweise (Frankenberg/Heitmeyer) oder gar nicht (Amlinger/Nachtwey) ein. Die Frage der wachsenden technischen Möglichkeiten der autoritären Herrschaft kommt nur bei Frankenberg und Heitmeyer in einem Aufsatz über die Spähsoftware Pegasus als Instrument der Absicherung von autoritärer Macht zur Sprache.

Während die Autoren des Bandes von Frankenberg und Heitmeyer sich vor allem mit der überraschenden Renaissance der autoritären Führerfigur, der wieder wachsenden Attraktivität völkischer Gleichschaltung und der in verordneter Zugehörigkeit erfahrenen (Schein)Sicherheit sowie mit dem Thema einer »neuen autoritären Systemkonkurrenz« (China versus USA und Europa) befassen, widmen sich Amlinger und Nachtwey einem besonders auch für die deutsche Situation interessanten Einzelaspekt des Autoritarismusthemas, nämlich dem »libertären Autoritarismus«.

Hier geht es nun nicht in erster Linie um eine autoritäre Führungsfigur oder die (Über)Identifikation mit der völkisch verstandenen Nation. »An die Stelle der übermächtigen externen Instanz tritt hier das Selbst als autonomes Subjekt.« Und weiter heißt es: »Wir verstehen den libertären Autoritarismus als Symptom einer verdinglichten Freiheitsidee, mit der die Einsicht in soziale Abhängigkeit abgewehrt werden soll. Freiheit ist in dieser Sichtweise kein geteilter gesellschaftlicher Zustand, sondern ein individueller Besitzstand.«

Der libertäre Autoritarismus ist, wie die Autoren unter anderem am westdeutschen Teil der Querdenkerbewegung belegen, nicht ein Merkmal ungebildeter und depravierter Menschen, sondern auch und gerade unter gebildeten und zuweilen auch nach ihren eigenen Maßstäben durchaus erfolgreichen Menschen zu beobachten. Libertär-autoritäre Charaktere unterwerfen sich nicht einer charismatischen Führerfigur, sondern betrachten sich selbst als souveräne Subjekte, die sich jeder Verantwortung für die Mitmenschen und für das Gemeinwesen entziehen. »In der narzisstischen Selbstüberhöhung wird die erfahrene Abhängigkeit geleugnet, sie kultivieren ein verdinglichtes Freiheitsverständnis, das die sozialen Bindungen abwehrt.« Appelle an den Gemeinsinn und Aufrufe zur Mitwirkung an gesellschaftlichen Projekten werden als Übergriffe angesehen und fordern ihren Widerstand heraus. Entsprechend wird der Staat nur dann als legitim angesehen, wenn er ein Minimalstaat ist, wie ihn Robert Nozick schon in den 70er Jahren in seinem Buch Anarchy, State, and Utopia propagierte. Das hier zum Ausdruck kommende Freiheitsverständnis ist im Kern dasselbe, was Amlinger und Nachtwey »gekränkte Freiheit« nennen, und kann ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des radikalen Trumpismus sein.

Im Gegensatz zu Amlinger und Nachtwey richten Frankenberg und Heitmeyer den Fokus eher auf politisch-staatlichen Autoritarismus. Sie weisen zum Beispiel darauf hin »dass die Bevölkerung in Autokratien von 2003 bis 2017 nach Schätzungen von 2,3 auf 3,3 Milliarden angewachsen ist und mehr als die Hälfte von weltweit 137 Staaten als Autokratien zu kennzeichnen sind«. Nach verlässlichen Quellen, so die beiden Herausgeber, sind »in den letzten zehn Jahren »mehr defekte Demokratien (…) zu Autokratien abgestiegen als zu funktionierenden Demokratien aufgestiegen.« Kurz: »Der Trend weltweiter Erosion der Demokratiequalität (…) setzt sich demnach ungebrochen fort.«

Die Botschaft, die die beiden hier herangezogenen Bücher vermitteln, ist eindeutig: Zu dem, was wir heute »Zeitenwende« nennen, gehört auch die fortlaufende Erosion der Demokratie. Ob sich der Trend in naher Zukunft umkehren lässt, ist eine offene Frage. Was man aber wohl sicher sagen kann, ist, dass die Hoffnung, es könne einen Weg zurück zum Status quo ante geben, gänzlich unbegründet ist. Nichts wäre falscher als darauf zu hoffen, dass nach dem Krieg in der Ukraine die Konjunktur alsbald wieder anziehen könnte und dann hohe – vermeintlich grüne – Wachstumsraten es wieder erlaubten, die Menschen mit all den Gaben des modernen Konsums zu beglücken und auf diese Weise auch die Mehrheit der autoritär Gesinnten für die Demokratie zurückzugewinnen.

Denn nach allem, was wir heute absehen können, ist die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlage der Menschheit ohne Verzicht auf Wachstum um jeden Preis nicht zu haben. Ein alle Probleme auf einmal lösendes »grünes Wachstum«, das belegt Ulrike Herrmann in ihrem Buch Das Ende des Kapitalismus überzeugend, kann es auf unserem begrenzten Planeten nicht geben.

Es ist also höchste Zeit, sich ernsthaft mit der Frage zu befassen, wie wir angesichts der Klima- und Diversitätskrise zugleich weniger verschwenderisch und besser leben können, und es ist offensichtlich, dass, um dieses Ziel zu erreichen, nicht nur technische Innovationen erforderlich sind, sondern auch eine tiefgreifende Veränderung unserer Konsumgewohnheiten, wobei der Verlagerung vom privaten Konsum zur Nutzung öffentlicher Güter, die Bekämpfung von Verschwendung und geplantem Verschleiß und eine entschlossene Politik der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums nach unten eine wesentlich Rolle spielen sollte. Die Zukunft der Demokratie wird ganz wesentlich davon abhängen, ob wir ein zugleich realistisches und attraktives Lebensmodell für die Epoche nach dem absehbaren Ende des Kapitalismus entwickeln können.

Carolin Amlinger/Oliver Nachtwey. Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritatismus. Suhrkamp, Berlin 2022, 480 S., 28 €. – Günter Frankenberg/Wilhelm Heitmeyer (Hg.). Treiber des Autoritären. Pfade von Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Campus, Frankfurt/M. 2022, 532 S., 45 €. – Ulrike Herrmann. Das Ende des Kapitalismus. Warum Waachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zuklunft leben werden. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 352 S., 24 €.

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