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Das unterirdische Wunder der Welt

Der britische Schriftsteller Robert Macfarlane wurde im November 2019 für sein Buch »Im Unterland« mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis ausgezeichnet. Das Buch ist ein besonders reizvoller Beitrag zur Gattung des »Nature Writing«, denn der Betrachtungswinkel »von unten« ist ungewöhnlich. Der Autor ist in Höhlen, Grotten und Katakomben hinabgestiegen, ist zu unterirdischen Flüssen und zu Laboren unter dem Meer gereist, gemäß dem Untertitel des Buches: »Eine Entdeckungsreise in die Welt unter der Erde«. Jan Ehlert hat Robert Macfarlane zu seinem Werk befragt.

NG FH: Es gab ein Jahr, das für Sie besonders wichtig war und das den endgültigen Anstoß zu diesem Buch gab: das Jahr 2010.

Robert Macfarlane: Das stimmt. 2010 war, wenn man so will, ein »Unterland-Jahr«: Es gab das Erdbeben in Haiti, die Deepwater-Horizon-Katastrophe im Golf von Mexiko, es gab den Ausbruch des isländischen Vulkans, der in ganz Europa und Nordamerika den Flugverkehr lahmlegte – und dann passierte im Sommer das Grubenunglück in der chilenischen Gold- und Kupfermine unter der Atacama-Wüste; zum Glück konnten alle Bergleute nach zwei Monaten aus der Tiefe und aus der Gefahr zurückkehren. Ich fand es in diesem Jahr 2010 sehr schwer, nicht darüber nachzudenken, was unter uns liegt und was passiert, wenn etwas aus der Tiefe an die Oberfläche dringt.

NG FH: Die Reise in die Unterwelt ist mit Gefahr verbunden. Mit Angst. Die Geschichten, die von solchen Reisen erzählen, die Geschichten von Orpheus, von Aeneas, von Persephone sind selten glückliche Geschichten. Hatten Sie keine Angst, diese Reise anzutreten?

Macfarlane: Sie haben recht – klassische Mythen enthalten viele Warnungen vor dem Hinabsteigen in die Tiefe, das meist unternommen wird von Toten, von Geistern, von denen, die geliebte Menschen oder wertvolle Objekte finden wollen. Und dabei geschieht ihnen oft Ungemach. Aber das Unterland ist auch ein Ort der Vision – auch das steht in den klassischen Mythen. Es ist der Ort, an dem Prophezeiungen empfangen werden, wo das Wissen über die Zukunft entdeckt wird. Wir denken dabei etwa an das Orakel von Delphi. Ich habe das Unterland als einen Ort sowohl des Schreckens als auch des Wunders erlebt.

NG FH: Ein Ort, der für die meisten Menschen sehr fremd ist. Eine Welt, die wir uns nie anschauen, obwohl sie doch nur wenige Meter unter unseren Füßen liegt.

Macfarlane: Genau, das ist das wunderbare und zugleich beunruhigende Paradox der Unterwelt: Sie beginnt da, wo unsere Sicht üblicherweise endet. Wir können nach oben schauen und Billionen von Meilen ins Weltall sehen – aber wenn wir nach unten blicken, dann sehen wir nur unsere Füße auf der Erde. Darunter aber gedeiht ein Mysterium, im besten Fall ein Wunder, im schlimmsten Fall ein Schrecken. Wir bewegen uns nach unten durch den Boden – in eine Sphäre, die wir erst beginnen zu verstehen. Sie ist bevölkert von erstaunlichen Organismen, von Symbiosen, von Bäumen, die miteinander sprechen, in einem Wald. Wir bewegen uns durch das Gestein, gehen zehn Kilometer tief hinunter – wo immer noch das Leben blüht, wo es mikrobisches Leben gibt und erstaunliche Mengen von Biomasse und Vielfalt. Während wir weiter in die Tiefe gehen, passieren wir von Menschen geschaffene Stätten für die sichere Lagerung von Gütern oder Abfall. Und dann entdecken wir die volle Kraft der Geologie, die die Menschheit gewissermaßen wachgerüttelt hat. Jetzt, wo wir in das Anthropozän eingetreten sind – also das wesentlich vom Menschen beeinflusste Zeitalter –, erleben wir, wie das Geologische und das Anthropologische sich verknäuelt haben, in Konflikt geraten sind. Plötzlich wird die Zeit als tief wahrgenommen; sie existiert in Äonen, in Epochen, in Zeitaltern – während wir Menschen fragil sind. Die »tiefe Zeit« ist aber auch ein Alibi: weil sie uns suggeriert, das alles am Ende schon gut wird, dass der Planet uns überleben wird. Ich argumentiere, dass die »tiefe Zeit« einen ethischen und politischen Imperativ beinhaltet – weil wir die Gestalt der Erde in der Zukunft in einer Weise formen, wie wir dies noch nie zuvor als Spezies getan haben. Wir müssen in »tiefer Zeit« denken.

NG FH: Das heißt also, Sie haben auch in dieser Tiefe sehen können, dass sich die Welt dort durch unseren menschlichen Einfluss verändert?

Macfarlane: Als ich mit dem Buch begonnen habe, dachte ich, dass das Thema mit dem Menschen nichts zu tun hat. Damit lag ich komplett falsch. Ich habe entdeckt, dass die Unterwelt natürlich mit den Menschen verwoben ist und auf zwei Wegen mit unserer Welt interagiert: Zum einen schaffen wir Strukturen da unten, weil wir wissen, dass dort ein Ort ist, der uns etwas liefert und der uns beschützen kann. Zum anderen entsorgen wir dort viele Dinge. Wir bekommen Mineralien aus der Erde, Rohmaterialien, aus denen wir unsere Oberwelt gebaut haben. Wir haben insgesamt 50 Millionen Kilometer Bohrlöcher in den Erdboden gebohrt, um nach Öl zu suchen und es zu fördern. Wir entsorgen unseren nuklearen Abfall unter der Erde, auch davon handelt das Buch. Aber wir bringen ebenso das unter die Erde, was uns besonders viel wert ist: Archive, Gemälde und andere Wertsachen – und natürlich auch unsere Toten.

NG FH: Zu diesen Orten zu gelangen ist nicht besonders leicht, ansonsten würden es viel mehr Menschen machen. Es ist oft gefährlich, dunkel, eng – man darf nicht gerade unter Klaustrophobie leiden, oder?

Macfarlane: Ich leide ein bisschen darunter, wie wir alle wahrscheinlich. Es gab einige Orte, die ich erforscht habe – die Katakomben von Paris etwa –, wo Klaustrophobie keine Option war. Etliche Menschen, die mein Buch gelesen haben, sagen: Ich konnte zwischendurch nicht weiterlesen. Darüber freut sich ein Autor normalerweise nicht – aber mich hat es gefreut, weil ich eine Wirkung erzielt habe, und weil die Leser ja irgendwann weitergelesen haben. Klaustrophobie ist eine sehr starke Erfahrung – und ich habe mich wirklich an erstaunlichen Orten wiedergefunden: tief im Bauch eines Gletschers im Osten Grönlands, wo ich mich einen Sommer lang mehrere Wochen aufgehalten habe. In demselben Sommer, als der Gletscher in bisher unbekanntem Tempo geschmolzen ist. In demselben Sommer, als die zuständige Arbeitsgruppe empfohlen hat, vom Zeitalter des Anthropozäns zu sprechen. Ich habe mich sozusagen wie an vorderster Front gefühlt.

NG FH: Glauben Sie, dass Nature Writing das Bewusstsein dafür wecken kann, dass wir unser Verhalten im Umgang mit der Natur ändern müssen?

Macfarlane: Ja, das tue ich. Ich will nicht übertreiben, aber ich wollte ein dunkles Buch über die Natur und die Naturgeschichte schreiben, das in dieses Zeitalter des Anthropozäns passt – um Veränderungen zu erreichen. Als das Buch erschienen ist, gab es die Schulstreiks fürs Klima, die Aktionen von »Extinction Rebellion«, das »Sunrise Movement« in den USA. In diesem Moment realisiert die Politik, dass auch sie in der »tiefen Zeit« denken muss – realisieren wir, dass die Erde nicht ruht, dass sie verwundbar ist. Langsam handeln wir danach.

NG FH: Umso mehr deshalb, weil wir Dinge produzieren, die auch in geologischen Zeitdimensionen Bestand haben. Atommüll, der noch in 100.000 Jahren gefährlich sein wird. Eine Zeitspanne, die man sich überhaupt nicht vorstellen kann. Das bringt neue Fragen und neue Probleme mit sich, oder?

Macfarlane: Das stimmt – ich meine, die Pyramiden sind 5.000 Jahre alt. Aber der Müll, den wir jetzt schaffen, der wird noch weit in der Zukunft existieren – länger als jede Struktur, die wir jemals geschaffen haben, überlebt hat, länger als jedes Schreib- oder Zeichensystem, das wir erfunden haben, um zu kommunizieren. Als gute Vorfahren sollten wir uns fragen: Wie entsorgen wir diese hunderttausenden Tonnen von Atommüll? In Finnland versuchen sie, gute Vorfahren zu sein: auf der Insel Olkiluoto, wo der nukleare Abfall tief im Felsgestein lagert. Ich dachte, es wäre ein Ort wie in der Götterdämmerung, aber es war ein überraschend hoffnungsfroher Ort, selbst tief im baltischen Winter.

NG FH: Es gibt also Hoffnung. Obwohl wir andererseits gerade sehen, dass das, was Jahrhunderte lang tief und sicher begraben lag, wieder an die Erdoberfläche zurückkommt, als Folge des Klimawandels.

Macfarlane: Ja, das ist so – und das hat mich in den Jahren, in denen ich das Buch geschrieben habe, wirklich überwältigt. Ich hatte das nicht erwartet. Das ist die wichtigste Wendung von Im Unterland. Es kommt das wieder an die Oberfläche, was lange begraben schien. Der Permafrost taut in Europa, Nordamerika und Russland. Während er taut, kommen Dinge zum Vorschein, die besser begraben geblieben wären: riesige Reservoire von Methan – ein Gas, das zur Erderwärmung beiträgt. Oder Rentiere, die vor einem Jahrhundert an Anthrax gestorben sind, die tief im Permafrost lagen und von denen wir dachten, dass sie nie wieder das Licht erblicken werden. Aber das Anthrax hat gewissermaßen nur geschlafen, wacht jetzt wieder auf und kann Epidemien verursachen. Wo auch immer ich für dieses Buch hingefahren bin, habe ich Geschichten gehört von Dingen, die begraben waren, die jetzt, durch den Klimawandel, wieder an die Oberfläche gelangt sind.

NG FH: Was uns einmal mehr bewusst macht, dass wir nur diesen einen Planeten haben und nichts wirklich sicher entsorgen können.

Macfarlane: Ganz genau. Für zu lange Zeit haben wir angenommen, dass unser Planet unendliche Ressourcen hat und unendlich Platz für unseren Abfall. Jetzt aber beginnen unsere Möglichkeiten, Dinge aus der Erde zu extrahieren und Dinge zu entsorgen, zu kollabieren – angesichts des schieren Volumens, mit dem wir es in unserer Zivilisation zu tun haben. Wir leben in einer Ära des Schutts und des Schrotts – Atommüll ist ein Beispiel dafür, aber natürlich auch Plastik. Wo immer ich auch hingereist bin: Ob nach Grönland, in die Arktis, nach Norwegen, an die entlegensten Küsten – überall habe ich unseren Plastikmüll entdeckt: Zahnbürsten, Shampooflaschen, Puppenköpfe.

NG FH: Was mich an Ihrem Buch besonders bewegt hat, das sind Ihre Beschreibungen über die Momente, wenn Sie von Ihren Reisen wieder zurückkehren an die Erdoberfläche. Sie beschreiben die Schönheit der Natur, die Farben, die Tiere. Und das lässt einen diese für uns doch alltägliche Welt plötzlich wunderschön erscheinen, aber auch zerbrechlich.

Macfarlane: So hat sich das für mich auch angefühlt. Die Welt hat sich schöner und zerbrechlicher angefühlt als alles, was ich je gesehen hatte. Zurück ans Licht zu kommen, das ist wie wiedergeboren zu werden – das ist ein Narrativ in vielen Kulturen dieser Welt. Ich erinnere mich, wie ich nach fast drei Tagen in den Katakomben von Paris nach oben gekommen bin – und der Himmel war so blau, Musik war aus den Fenstern zu hören, die Bäume waren erstaunlich – ich konnte kaum glauben, dass sie existieren. Dass so viel Grün existiert – ich spürte diese Farben in meinen Augen und in meinen Knochen. Das ist das Wunder der Welt.

Robert Macfarlane: Im Unterland: Eine Entdeckungsreise in die Welt unter der Erde. Penguin, München 2019, 560 S., 24 €.

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